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Sack und Pack

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»Du brauchst auf jeden Fall einen guten Hut«, rät Stefanie mir noch am Telefon, kurz bevor es losgeht. »Mit einer Mütze hörst du nichts. Du musst die Ohren frei haben. Und Regensachen wirst du brauchen!«

Zum Glück ahne ich noch nicht, wie recht meine neue Chefin mit ihrem letzten Hinweis haben wird, sonst hätte ich womöglich schon kapituliert, bevor es überhaupt losgeht. Ich sitze auf den Umzugskartons in meiner Wohnung am Eigelstein ganz in der Nähe des Kölner Hauptbahnhofs. Vorgestern habe ich ein kleines Abschiedsfest gegeben, und morgen löse ich die Wohnung auf.

Voll ist sie geworden, die Alptasche, obwohl ich nur das Nötigste eingepackt habe. Aber weil ich nicht weiß, wie oft ich für Besorgungen ins Tal kommen werde, nehme ich vorsorglich Lebensnotwendiges wie Wattestäbchen, Kontaktlinsenmittel und Sonnencreme für vier Monate auf Vorrat mit. Gepackt habe ich in drei Chargen: Neben der Tasche für die Alp steht ein Rucksack für die Wandertour bereit, die ich noch mit Kathrin unternehmen möchte, der Rest wird eingemottet.

Dieser Umzug ist nur einer von mehreren in meinem Leben, aber ein ganz besonderer. Denn ich habe keine Ahnung, was der Alpsommer mit mir machen wird. Mein grobes Ziel für danach steht zwar – ich möchte mich selbstständig machen –, aber wo, da wage ich mich nicht festzulegen. Werde ich nach vier Monaten in der Natur wieder Lust auf die Stadt haben? Werde ich dann überhaupt noch Stadt-kompatibel sein? Bleibe ich vielleicht gleich in den Bergen? Nein, die Wohnungsauflösung kommt mir rundherum richtig vor. So bin ich frei in meinen Entscheidungen. Alle Eingebungen, die ich während des Alpsommers haben möge, kann ich so erst einmal willkommen heißen. Ich habe keinen Klotz in Form einer Wohnung am Bein, zu dem ich unbedingt zurückmüsste. Vieles von dem wenigen, was ich besitze, habe ich verkauft und verschenkt, und was übrig ist, passt hoffentlich in ein leeres Kinderzimmer bei meinen Eltern – das wird sich morgen herausstellen.

In ihrer Mittagspause kommt eine Freundin kurz vorbei, und wir trinken auf dem Sofa die letzte Tüte Saft aus. Aufgeregt überlegen wir, wie es wohl sein wird auf der Alp, und wir plaudern über meine Zukunftspläne für danach. »Nach der Alp mach ich mich auf jeden Fall selbstständig. Und wenn das nicht klappt, dann kann ich ja wieder eine Stelle annehmen«, fasse ich zusammen. Zweifel oder Angst habe ich im Moment keine. Denn seit der Coachingausbildung stelle ich mir regelmäßig die Frage, was das Schlimmste ist, das passieren kann. Und das ist im Hinblick auf meine geplante Existenzgründung nun wirklich nicht viel.

In Bezug auf die Alp habe ich mir diese Frage hingegen nicht gestellt. Die vier Monate werde ich durchziehen, komme, was da wolle, auch wenn ich, ehrlich gesagt, mit ziemlich wenig Vorbereitung und Vorwissen z’Bäärg, zu Berg, gehe. Beim Vorstellungsgespräch im Winter haben die Kinder meiner Alpfamilie mir zwar Fotos gezeigt und jede Menge über die Alp Salzmatt erzählt. Aber ein klares Bild vom Leben und Arbeiten dort oben habe ich nicht, und der Hof von Bauer Arnold in Südtirol war ein ganzjährig bewirtschafteter Betrieb und keine Alp, die nur während des Sommers beweidet wird. Aber ich habe beschlossen, dass es so, wie es ist, gut ist. Die vier Monate sind überschaubar. Wenn es hart auf hart kommt, werde ich die Zähne zusammenbeißen können, das weiß ich. Ich will auf die Alp, und dann mache ich es auch. Ich will die Alp als Übergang von meinem alten in mein neues Leben. »Ich finde das so toll, dass du das machst«, bestärkt meine Freundin mich noch einmal zum Abschied. »Das wird bestimmt großartig!«

Am nächsten Morgen beziehe ich um sieben Uhr Position auf der Fensterbank, von wo aus ich die für den Umzug reservierte Parklücke im Auge habe.

Beim Einzug vor anderthalb Jahren war genau das passiert, was man an einem solchen Tag nicht gebrauchen kann: Erst blockierte ein Falschparker in der engen Einbahnstraße die beim Ordnungsamt bestellte Parklücke und dann der Umzugs-Lkw die ganze Straße, bis die Behörden den Falschparker ausfindig gemacht hatten. Das war nicht lustig damals, zumal ich an demselben Tag, als ich morgens in Hamburg auszog, dieses Spiel schon einmal miterlebt hatte.

Schnell gebe ich meinen Beobachterposten auf, springe die Treppen nach unten und stelle mich sicherheitshalber als menschlicher Pylon in die Parklücke. Schreite auf und ab. Schaue nach oben zu meinem alten Zuhause im ersten Stock. Sprinte in die Bäckerei an der Ecke, um Verpflegung für das Umzugsteam zu besorgen. Und da ist es geschehen: Eine fette Limousine hat es sich mitten in meiner Parklücke gemütlich gemacht. Ich schaue auf die Uhr: In sieben Minuten will der Lkw anrücken. Himmel! Und der Himmel schickt sie tatsächlich just in diesem Moment, die schwarzen Engel vom Ordnungsamt der Stadt Köln, denen ich meine Not prompt klage. Sie klappern die Büdchen und Bäckereien in der Nachbarschaft ab und bringen den Parksünder schlussendlich herbei, der mit eingezogenem Schwanz abdüst. Er wird ja nie erfahren, dass meine Umzugshelfer aus Versehen nicht mit dem Lkw, sondern mit dem Sprinter gekommen sind und der Platz fürs Rangieren und Beladen trotz des Parksünders gereicht hätte. »Oh, da haben wir wohl das Falsche erwischt«, begrüßt mich der Fahrer, als ich ihn auf sein kleines Fahrzeug in der großen Parklücke anspreche. »Aber Sie haben doch nicht so viel, oder?«

Schlussendlich passt tatsächlich alles irgendwie, sowohl in den Sprinter als auch in das Haus meiner Eltern im Siegerland. Die letzten drei Tage in der Heimat nutze ich für Besuche bei Freunden und beim Friseur. Und natürlich ist ausgerechnet in der letzten Nacht vor der Abreise Vollmond und kaum an Schlaf zu denken. Samstagmorgen um kurz nach fünf ist es dann so weit: Ich tapse zu Mutti ins Schlafzimmer, lasse mich noch einmal in den Arm nehmen und wecke Papa, der mich zum Bahnhof bringt. Als ich um 5.54 Uhr mit Sack und Pack in den Zug steige, geht die Sonne wie ein weißer Feuerball auf.

Manchmal hat man so eine Ahnung, dass aus einer kleinen Sache etwas Großes wird. Dann wird der Bauch ganz warm, und im Kopf beginnt es zu rauschen. Mir ging es so, als ich die Idee hatte, nicht einfach nur mit Bus und Bahn zur Alp zu reisen, sondern das letzte Stück zu Fuß zu gehen. Als ich bei meinen Recherchen im Internet die Via Alpina entdeckte, tat mein Herz einen Sprung, und ich wusste, ich hatte das Richtige gefunden. Der Fernwanderweg führt auf über fünftausend Kilometern durch acht Alpenländer und über 14 Pässe. Ich tüftelte aus, in Meiringen im östlichen Berner Oberland zu starten und gen Westen bis nach Gstaad zu laufen, das Luftlinie rund zwanzig Kilometer südlich von der Salzmatt liegt. Und das schönste Glück war, dass meine Freundin Kathrin mich begleiten wollte.

In Frankfurt besteigen wir denselben ICE und brausen nach Bern, wo ich mein Alpgepäck deponiere und mir im Swisscom Shop eine Schweizer SIM-Karte besorge. Am späten Nachmittag erreichen wir dann Meiringen und marschieren zu unserer Unterkunft: Ich hatte das Schtibli auf dem Dachboden eines Stalls ergattert und bin von diesem romantischen Start in mein Alpabenteuer ganz begeistert. Fasziniert inspizieren wir alte Milchkannen und verstaubtes Werkzeug, das sich vor unserer Zimmertür stapelt. »Guck mal hier!«, rufen wir uns abwechselnd zu und zeigen uns Fundstücke aus vergangenen Bauernhofzeiten.

Aber jetzt plagt uns nach der langen Reise der Hunger. Das Einzige, das wir uns leisten können, ist ein Döner im Istanbul Imbiss am Bahnhof – für einen zweistelligen Betrag. Pro Portion, versteht sich. Ja, wir sind tatsächlich in der Schweiz angekommen. Radler, das hier Panasch heißt, und Pringles zum Nachtisch sind zwar auch nicht billig, aber notwendig. Auf dem Rückweg zu unserer Herberge taucht die Abendsonne das Haslital in einen goldenen Schimmer, sodass die Ohren der Kühe auf den Weiden nur so leuchten. Voller Spannung und Zuversicht auf das, was kommt, gehe ich zu Bett.

Sieben strenge Wandertage liegen vor uns. Übernachten werden wir in Grindelwald, Lauterbrunnen, auf der Griesalp, in Kandersteg, Adelboden, Lenk und schließlich Gstaad. Gleich am ersten Tag stehen 1.350 Höhenmeter Aufstieg, 23 Kilometer Strecke und acht Stunden Gehzeit auf unserem Plan. Kaiserwetter und auf den letzten Höhenmetern Neuschnee begleiten uns auf unserem Weg über die Große Scheidegg. Die Stirn verbrennt, die Knie schmerzen. Zum Lohn servieren uns am Abend ein paar Schwaben auf dem Balkon unseres Sechserzimmers in der Jugendherberge heimischen Apfelsaft.

Am nächsten Tag haben wir zwanzig Kilometer, siebeneinhalb Stunden Gehzeit und 1.100 Höhenmeter Aufstieg vor uns und machen uns schon früh im Schatten der Eiger Nordwand daran, die Kleine Scheidegg zu erklimmen. Je höher wir kommen, desto mehr plagt uns jedoch der Schnee. Wir versinken teils bis zu den Knien und brauchen doppelt und dreifach Kraft für die letzte Passage. Kathrin kommt als Erste oben an und wird unfreiwillig zum Touri-Star. Als japanische Touristen sie wie aus dem Nichts über die Kuppe kommen sehen, wähnen sie in ihr wohl die nächste Gerlinde Kaltenbrunner und zücken ihre Handys. Auch ich darf noch mit aufs Foto, bevor wir uns mit Cola und Mars belohnen. Doch so langsam wird uns angesichts des vielen Schnees mulmig zumute. Beim Abstieg nach Lauterbrunnen überlegen wir hin und her, wie wir weitermachen wollen. Die nächste Etappe würde uns nämlich quer durchs Gebirge und über einen spektakulären Passübergang, die Sefinenfurgge, führen, und schlafen würden wir nicht in einem Dorf im Tal, sondern in einem Matratzenlager in den Bergen. So leihen wir uns am Abend in Lauterbrunnen Schneeschuhe aus, um wenigstens etwas besser gewappnet zu sein. Aber die Vernunft und die eindringlichen Ratschläge der erfahrenen Touristeninformationsmitarbeiter in Lauterbrunnen und Mürren siegen. Auch in unserem Hostel wird uns eindringlich abgeraten.

»Die Lawinengefahr ist einfach zu groß. Ihr solltet die Sefinenfurgge jetzt mit dem ganzen Neuschnee wirklich nicht überschreiten«, mahnt unsere Herbergsmutter. So schreiben wir unsere Route einfach um, buchen eine zweite Nacht in Lauterbrunnen und besteigen am nächsten Morgen mit den Schneeschuhen das Schilthorn.

Den Berg haben wir ganz für uns allein. Alles um uns herum glitzert und funkelt in frischem Weiß. Vom Inferno-Skirennen im Winter sind bis auf ein paar orange Fangzäune keine Spuren mehr zu sehen, als wir uns die steile Rennstrecke hinaufquälen. Ich kann kaum glauben, dass ich das hier wirklich gerade mache: spontan unter Winterbedingungen das 2.970 Meter hohe Schilthorn besteigen und nebenbei mit meinem Anwalt am Ohr die letzten Dinge in Köln abwickeln. Ja, ich wäre auch allein zu Fuß zur Alp gegangen. Aber ohne Kathrin an meiner Seite hätte ich diese beiden Gipfel niemals geschafft.

Der Schnee beschert uns in den nächsten Tagen weitere Planänderungen. Anstatt quer durch die Berge müssen wir uns um die Berge herum einen Weg bahnen. Die zusätzlichen Kilometer decken wir mit Zug und Postbus ab, bis wir in Adelboden wieder auf unsere Originalroute stoßen. Zwischendurch gewinnen wir sogar Zeit für einen Bummel durch Interlaken, einen Café- und einen Saunabesuch.

Schließlich bringen uns die letzten 21 Kilometer von Lenk zu unserem Ziel Gstaad. Wir checken unser Budget und die Speisekarte und entscheiden, dass wir uns ein Schweizer Käsefondue redlich verdient haben.

Jetzt muss ich mich daran gewöhnen, dass es für mich alleine weitergeht. Muss mich von Kathrin verabschieden, die dabei war, als ich mich in die Berglandwirtschaft verliebt habe und die mich zu Fuß bis nach Gstaad begleitet hat. Bis Bern sitzen wir noch im selben Zug, dann steige ich aus und hole meine Siebensachen aus dem Depot. Ich werde in Bern übernachten, bevor ich morgen zu Aebys weiterreise. Als ich die Zahnradbahn hinunter zur Jugendherberge an der Aare nehme, zittern meine Knie.

Die letzten Stunden vor dem Alpabenteuer will ich meinen Kopf noch einmal durchlüften. Es drängt mich geradezu nach draußen, raus aus dem Schlafsaal, weg von den aufgedrehten Rucksacktouristen. An die Aare sind es nur ein paar Meter. Das berühmte Freibad direkt am Fluss ist bis auf den letzten Platz voll. Jung und Alt genießen Sonne und Wasser und lassen sich in ihrem Vergnügen einfach treiben. ›Ein Freibad wird mich diesen Sommer wohl nicht zu sehen bekommen‹, denke ich mit Blick auf die vier Monate Alp, die vor mir liegen. Und da ich eine Frostbeule bin, wohl auch kein Bergsee. Mich zieht es zur Mauer am Ufer, von wo aus ich die Slackliner beobachten kann, die über die Aare balancieren. Ein paar Schaulustige bestaunen die Wagemutigen. Einer schafft tatsächlich den ganzen Weg vom Einstieg auf der Brücke bis zu mir auf der Mauer am Ufer ohne Sturz, und das obwohl die Aare unter ihm reißt und rauscht. Ich freue mich für den Seilgänger, fühle den Stolz und die Erfüllung, die ich in seinem Gesicht lese.

Jetzt ist ein guter Moment. Ich schlage das Tagebuch auf, das Kathrin mir geschenkt hat. Dieses Buch soll dich während der Zeit deines neuen Lebens auf der Alp begleiten. Füll es für uns mit wundervollen Geschichten, lautet die Widmung meiner Freundin. Schon sind Tränen da. Ich muss an meine Mutter denken, die mich zu meinen vielen Reisen immer mit den Worten verabschiedet hat: »Reis für mich mit! Guck dir die Welt für mich mit an!« Das mache ich, das werde ich, und ich werde versuchen, alle, die mich unterstützt haben, an meinem Abenteuer teilhaben zu lassen.

Zwei Etappen noch, dann bin ich bei Familie Aeby. ›Fribourg‹, denke ich im Zug, ›gleich bin ich in Fribourg! Weißt du noch, als wir 1998, vor 16 Jahren, dort studiert haben, zwei Freundinnen und ich?‹ Erinnerungen kommen hoch, Erinnerungen an ein anderes Leben, ein so leichtes, so glückliches, so unüberlegtes!

Was hatten wir für einen Spaß! USA oder Australien, es war uns völlig egal, wo unsere Kommilitonen ihr Auslandssemester verbrachten. Und es war ganz sicher eine Fügung, dass wir in Bourguillon im Wohnheim der Baldegger Schwestern, den »Schwestern von der Göttlichen Vorsehung«, unterkamen, außerhalb des Städtchens, auf der anderen Seite der Schlucht von Fribourg, die der Postbus gerade hinaufschnauft.

Ein Gänsehautmoment. Perfekter kann sich ein Kreis gar nicht schließen. Der Bus kommt vor »unserer« Konditorei von damals zum Stehen. Die Auslagen im Schaufenster sehen noch genauso verlockend aus wie eh und je. Leider hat unser Geld meistens nicht für die Éclairs und Millefeuilles gereicht, und ich sehe uns schwärmend und rechnend vor den Fensterscheiben stehen. Dann fahren wir gemächlich, weil es hier recht eng ist, an »unserem« Wohnheim und an »unserer« Kapelle vorbei, weiter durch das restliche Dorf, und als dahinter die Wiesen und Weiden beginnen, ist der Kreis rund und ich habe das Gefühl, in eine neue Umlaufbahn einzutauchen.

An der Haltestelle zwei Dörfer weiter erwartet mich mit Stefanie, Yves (neun), Pascal (acht) und Livia (fünf) ein vierköpfiges Empfangskomitee meiner Sommerfamilie. Herzlich heißen sie mich willkommen, und alle geben sich Mühe, Hochdeutsch zu sprechen, damit ich sie verstehen kann. Wir laden mein Gepäck in den Kofferraum und steigen ein. Die Kinder krabbeln auf die Rückbank und hören gespannt zu, was die Großen vorne zu besprechen haben. Bis wir übermorgen auf die Alp zügeln, werden wir noch auf dem Tal-Bauernhof zu tun haben.

»Du wirst gleich alles kennenlernen«, ermutigt Stefanie mich auf der Fahrt über die Schotterstraße.

Auf dem Hof angekommen, nehmen die Kinder mich in Beschlag und ziehen mich in den Stall. Es ist gerade Melkzeit. Yves und Pascal wissen schon, dass ich auf der Alp für die Ziegen zuständig sein werde, und erklären mir, sich gegenseitig übertrumpfend, was zu tun ist, dass ihre Wangen nur so glühen: wo das Kraftfutter steht, wie viel Heu die Ziegen bekommen, wo ich die Melkmaschine anstelle, wo die Milch hinkommt. Das alles muss ich jetzt zwar auf die Schnelle lernen, aber oben auf der Alp wird dann vieles anders sein als hier unten: die Ställe, die Abläufe, die Handgriffe.

Als wir nach dem Melken zum Wohnhaus hinübergehen, begrüße ich auch die vierbeinigen Familienmitglieder Rex und Netti.

»Rex sitzt schon seit ein paar Tagen im Kofferraum vom Käsereiauto, weil er Angst hat, dass wir ihn beim Zügeln vergessen«, erklärt Yves mir.

›Also noch einer, der bereit für die Alp ist‹, denke ich.

Während ich Rex streichle, damit er mich besser kennenlernt, schiebt sich seine Mutter Netti von der Seite an meine Beine. Für mich sind die beiden auf den ersten schnellen Blick zwei schwarze, mittelgroße Hunde mit ein paar Farbklecksen hier und da im Fell.

»Wie kann ich sie am besten voneinander unterscheiden?«, frage ich Yves, der perplex ist und mir die Frage gar nicht beantworten kann.

›Meine Güte‹, muss er denken, ›das sind doch zwei völlig verschiedene Charaktere, mal ganz abgesehen von den nicht zu übersehenden Unterschieden in Geschlecht, Größe, Gewicht und Gesicht. So blöd kann nur eine aus der Stadt fragen. Oder eine Deutsche. Oder eine, die den Alpsommer nicht schaffen wird.‹

Meine unbedachte Frage werde ich mir schon am nächsten Tag selbst beantworten können. Netti, das ist die liebevolle gute Seele, und Rex ist der König. Der König der Berge! Und mein treuer Begleiter, mein bester Freund auf der Alp, Engel in meinem Herzen.

Beim Abendessen übertreffen die Buben sich weiter gegenseitig mit ihren Berichten von den Bergen. »Sie sind schon im Alpfieber, weil es bald wieder losgeht«, lacht Stefanie. »Wir waren in den letzten Wochen ja schon oft oben zum Zäunen und Vorbereiten, und jetzt kann es allen gar nicht schnell genug gehen.« Dabei können die Jungs, die schon schulpflichtig sind, bis zu den Sommerferien nur an den Wochenenden und eine Nacht unter der Woche auf die Salzmatt kommen, ansonsten sind sie bei den Großeltern auf dem Hof. Aber das bringen wir jetzt lieber nicht zur Sprache. Ihre Euphorie ist einfach zu schön anzusehen! Nur kurz nach den Kindern gehe auch ich zu Bett. Ab morgen wird für mich um halb sechs Arbeitsbeginn sein.

Vorsichtig, um die Kinder nicht zu wecken, tapse ich um Punkt halb sechs durch das dunkle Haus. Ich möchte auf jeden Fall pünktlich sein! Als ich in den Stall komme, sind Stefanie und Markus schon da.

Stefanie möchte heute die Gelegenheit nutzen, mir das Ziegenmelken und das morgendliche Waschen des Melkgeschirrs zu zeigen, bevor wir morgen auf die Alp zügeln. Ich versuche, mich nicht allzu doof anzustellen, aber hier im Anbindestall ist alles so ganz anders als in dem Laufstall mit Melkstand, den ich bei Bauer Arnold in Südtirol kennengelernt habe. Vor allem eng ist es, und bevor wir mit dem Melken beginnen können, müssen wir erst einmal den Mist der letzten zwölf Stunden unter den Tieren wegräumen. Ständig stoße ich mich oder stehe mir selbst im Weg. Schon nach wenigen Minuten bin ich nass geschwitzt. Und dann will ich natürlich alles richtig machen, denn meine Chefin schaut mir schließlich zu. Dabei ist sie noch nicht einmal streng mit mir, sondern im Gegenteil voller Verständnis und zudem gewohnt, jedes Jahr eine neue Angestellte anzulernen. Aber ich bin genervt von mir selbst, weil ich doch eigentlich weiß, dass jeder Anfang schwer ist, und ich mich dennoch unter Druck setze.

Als das Melken geschafft ist und Markus die Milch zur Käserei bringt, zeigt Stefanie mir, wie man das Melkgeschirr wäscht. Zu allem Überfluss ist heute die saure Wäsche dran, bei der noch umfangreicher gebürstet und geschrubbt wird als sowieso schon, und während des gesamten Prozederes läuft in dem gefliesten und betonierten Räumchen, in dem wir zugange sind, der Motor der Kuhmelkmaschine.

Es kommt einfach alles zusammen. Ich kann Stefanie nur schwer verstehen und auch kaum begreifen, was sie mir da erzählt. Mit dieser Bürste reinigst du diesen Schlauch, mit der anderen jenen. Für jeden Schlauch scheint es ein eigenes Bürstchen zu geben. Dabei sieht für mich alles gleich aus! Schön wäre es ja auch, wenn das Melkgeschirr von Kühen und Ziegen irgendwie identisch zu reinigen wäre. Aber nein, natürlich nicht, natürlich wird das Kuhzeug anders zerlegt und geputzt als das Ziegenzeug. Und dann muss das eine zehn Minuten und das andere fünf Minuten lang an der Melkmaschine durchgespült werden. Ich kapituliere, und Stefanie tröstet mich damit, dass sie mir alles noch einmal auf der Alp erklären wird. Ich schaue einfach nur noch zu. Schweigend beendet Stefanie das aufwendige Waschen. Jeder Handgriff sitzt. Ob ich das eines Tages auch können werde? Ich glaube es nicht. Noch nicht einmal beim Frühstück sind wir angekommen, und ich bin schon fix und fertig. Und ich bin immer noch nicht auf der Alp!

Mir schwant, dass dieses Unterfangen alles andere als leicht wird. Der Begriff »Polepole«, kommt mir in den Sinn, was langsam bedeutet. Das haben die Bergführer Kathrin vorgebetet, als sie vor ein paar Jahren den Kilimandscharo bestiegen hat, das hat sie mir vorgebetet, als wir vor ein paar Tagen auf das Schilthorn gestapft sind, und das gilt ja eigentlich immer im Leben. In der Ruhe liegt die Kraft. Einen Schritt nach dem anderen. Sieben auf einen Streich, das scheint nur was für Vollprofis zu sein.

Als wir nach dem Frühstück die Autos beladen und auf die Salzmatt fahren, sieht die Welt schon wieder freundlicher aus. Es geht nach oben! Wir wollen ein paar Sachen hinaufbringen, um dann morgen in einem Rutsch umziehen zu können. Auf der Fahrt nach oben zeigt Stefanie mir den Käsekeller, in dem »unsere« Alpkäse lagern und reifen, das Gold der Alpen. Wir fahren an der Schwarzen Sense entlang, die die Grenze zwischen den Kantonen Freiburg und Bern bildet. In Sangernboden, auf knapp tausend Metern, dem letzten Dorf vor dem Muscherenschlund, biegen wir rechts ab. Höhenmeter für Höhenmeter und Kurve für Kurve geht es jetzt der Salzmatt entgegen. Konzentriert lausche ich Stefanies Erläuterungen zum Tal und zu den Bauernfamilien, die die anderen Alpen bewirtschaften. Begierig nehme ich alles in mir auf, um möglichst schnell ein Teil dieser Welt zu sein. Magisch kommen mir diese Minuten der allerersten Fahrt nach oben jedoch nicht vor. Dafür bin ich viel zu gespannt. Und erst jetzt wird mir klar, dass die Salzmatt die oberste der Rinderalpen in unserem Tal ist, gelegen am Fuße der Kaiseregg. Ganz bewusst habe ich mir vorab das Gebiet nicht auf Google Earth angeschaut, sondern ich will alles »live« auf mich zukommen lassen. Jetzt bin ich für einen Moment doch ein wenig sprachlos. Irgendwie sieht es hier, mit Verlaub, etwas tot aus. Statt blühender Blumenwiesen sehe ich auf den ersten Blick Schneefelder und braunen Matsch. Und natürlich keine Tiere, denn die kommen ja erst nach oben, wenn die Menschen da sind. ›Klar‹, denke ich, ›ich komme ja auch nicht als Touristin auf die Alp, wenn alles grünt und blüht und postkartenreif aussieht, sondern ich erlebe die Alprealität von A bis Z. Mutter Natur wird draußen noch für das Erblühen der Alp sorgen und Stefanie in der Hütte und auf der Terrasse.‹ Es ist manchmal schon komisch: Da will man aufgeschlossen durch die Welt spazieren und ertappt sich bei den einfachsten Trugschlüssen!

Oben angekommen, laden wir die beiden Autos aus und verräumen alles in der Hütte. Auch Livia packt mit an. Zur Mittagszeit hat Stefanie eine Überraschung für mich: »Ich hatte keine Zeit, etwas vorzubereiten. Daher darfst du dir aussuchen, ob wir uns jetzt ein Fondue oder ein Raclette machen!«

Begeistert wähle ich das Käsefondue. Stefanie schürt ein Feuer im Herd und setzt einen Topf mit Fendant auf. Während die Flammen wachsen und der Weißwein warm wird, reibt sie den Käse in eine Schüssel, den sie dann, Handvoll für Handvoll und unter ständigem Rühren, im Wein schmelzen lässt. Zum Schluss löst sie Speisestärke in Kirschwasser auf und mischt den jetzt milchig-weißen Schnaps unter den Käse. Ruckzuck steht das Cheesfondü auf dem Tisch, neben den Brot- und Apfelstücken, die Livia und ich vorbereitet haben. Der Duft geschmolzenen Käses zieht durch die Hütte. Im Herd knackt das erste Feuer des Sommers. Markus kommt herein und setzt sich zu uns. Ich spieße ein Brotstück auf meine Gabel und tauche es in das Fondue. Als ich es in meinen Mund führe, schließen sich meine Augen von ganz allein. So einfach, und so gut! Wie die Alpsaison, die vor mir liegt? Ich weiß es nicht, aber wenn das der Vorgeschmack auf den Bergsommer ist, der morgen anfängt, dann darf das Abenteuer nun wirklich endlich beginnen.


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