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Der Kobruswolf

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Am nächsten Morgen erwartete mich eine weitere Überraschung. Auf dem gedeckten Frühstückstisch wartete ein in gelbes Papier eingewickeltes Päckchen auf mich, als ich verschlafen eintrat.

»Ist das für mich?«, vergewisserte ich mich, bevor ich es in Augenschein nahm. Mina nickte lächelnd.

»John wollte eigentlich dabei sein, wenn Du es aufmachst, doch er musste die ganze Nacht über im Büro bleiben. Du brauchst nicht auf ihn zu warten.«

Unter dem Papier befand sich eine flache Schatulle. Sie war aus dünnem Holz. Darin, gebettet in ein weißes Tuch, lagen einige Streifen rauen Tierleders. Als ich es herausnahm, erkannte ich, was es war: Eine lange, dünne Tasche. Damals, als die Menschen das erste Mal ein Icerotes besessen hatten, war für sie schnell ein Problem entstanden. Wie sollten sie ihre Icerotes immer bei sich tragen ohne dass es den anderen Menschen auffiel? Man hatte schließlich diese lederne Scheide entwickelt, durch die man, indem man sie über die Schultern hing, das Schwert problemlos auf dem Rücken tragen konnte. Ein normales Metallschwert dieser Länge – die Icerotes waren um einiges kürzer als normale Schwerter, etwa einen Meter lang – hätte sich nicht gut am Rücken getan. Doch die Icerotes waren mächtige Wesen und ihren magischen Eigenschaften war es zu verdanken, dass sie sich an die Rückenform anpassten. Wissenschaftler der Asgardfamilie hatten schon oft versucht herauszufinden, was es mit den Icerotes auf sich habe. Ihr Geheimnis blieb selbst der Asgardfamilie ein Geheimnis. Bis zum heutigen Tag hatte man noch nichts über die wahre Lebensform und Kraft der Icerotes herausfinden können. Man konnte lediglich spekulieren. Eine der berühmtesten Ideen war die, dass die Icerotes nicht nur in der Form der Schwerter existierten. Sie mussten noch in einer weiteren Gestalt materiell oder imaginär vorhanden sein. Nicht auf der Erde oder sonst wo im Universum. Denn dieser Raum hatte eine viel zu brüchige Form, als dass es die Gegenwart eines so mächtigen Geschöpfes, wie das Icerotes, standhalten könnte. Diese zweite Existenz der Icerotes musste viel kraftvoller, mächtiger sein, als ihre Lebensform als Schwert auf der Erde. Daher konnten wir ein Icerotes auch nicht verstehen. Weil es für unser Verständnis zu magisch war.

»Und?«, fragte Mina gespannt. Ich nahm Libras und schob ihn in die Scheide. Makellos passte sich das Leder an Libras Form an. Meine Mutter half mir, ihn an meinem Oberkörper zu befestigen.

»Versuche 'mal Libras herauszuholen«, schlug Mina vor. Ich griff hinter meinen Kopf und fand auf Anhieb den Griff meines Icerotes. Lautlos ließ er sich herausziehen. Ich war verunsichert, ob ich ihn genauso leicht wieder in die Scheide verschwinden lassen könnte. Was wäre, wenn ich verfehlen und meine Haut aufschlitzen würde? Doch meine Befürchtung war grundlos. Als würde sich Libras selbst den Weg suchen, konnte ich ihn problemlos hineingleiten lassen.

»Super!« bedankte ich mich bei meiner Mutter und umarmte sie. »Habt Ihr Eure auch nach Eurer Auswahl bekommen?«

»Ich schon. Damals von meinen Großeltern. Doch John hatte sich seine Tasche selbst zulegen müssen. Das war kurz bevor wir uns kennengelernt hatten. Seine Eltern hatten ihm zuvor immer gesagt dieses Zubehör sei unnötig rausgeworfenes Geld.«

Ich kannte meine Großeltern eigentlich ganz anders. Geld spielte für sie keine Rolle. Vielleicht lag es nur an ihrem Alter oder ihren beiden gut verdienenden Söhnen.

»Wann kommt Dad?«

»Er sagte, vor dem Mittagessen wolle er wieder Daheim sein. Aber du kennst ihn. Jetzt muss ich anfangen das Essen für heute Abend zu richten, wenn die Finleys kommen.«

Mina begann einen Einkaufszettel aufzustellen und ich ging zwei Zimmer weiter in die Bibliothek des Hauses. Dunkelbraune Regale, die bis unter die hohe Decke reichten, reihten sich an den Wänden entlang. In der Mitte des Raumes befand sich ein kreisrunder Tisch, bestückt mir zwei Computern und Tischlampen. Bequeme Lesesessel standen um ihn herum und mich packte, wie immer wenn ich diesen Raum betrat, die Begierde, eines der unzähligen Büchern aus den Regalen zu suchen und mich in die Welt der Buchstaben fallen zu lassen. Der Bildschirm, der gegenüber der Tür hing, wurde oft von meinem Vater benutzt. Einerseits, wenn er wichtige Ferngespräche mit Angestellten seiner Firma zu führen hatte und andererseits, wenn die Sportschau von ihm heiß ersehnte Spiele übertrug.

Ich fuhr einen der Rechner hoch und begann nach dem Begriff Icerotes zu googlen. Wie erwartet, gab es keine hilfreichen Treffer. Eine Fremdwortdefinition, die allerdings nur das Wort Icrators kannte, eine amerikanische Amateurseite, die das Wort Iceris ansprach und ein Auktionshaus, das eine Brille der japanischen Marke Ikerose anbot. Ich gab ein zweites Wort in die Suchleiste ein. Asgardfamilie erzielte schon einige mehr Ergebnisse. Die meisten befassten sich mit der germanischen Mythologie. Über meinen Stamm fand ich nichts hilfreiches. Da gab es lediglich eine Seite, die über die Beschäftigten der Zentralbank von Amerika Auskunft gab. Darin wurde der Direktor mit dem Zweitnamen Asgard und zwei Zeilen darunter als Angehöriger einer altehrwürdigen Familie beschrieben. Ob diese Person tatsächlich ein Mitglied der Asgardfamilie war, konnte ich nicht sagen.

Ich wollte schon den Computer ausschalten, als mir noch eine dritte Möglichkeit einfiel. Ich tippte griechische Legenden des zweiten Jahrtausends vor Christus ein und wurde auf eine Seite der Universität Wien weitergeleitet.

Ich begann zu lesen.

Es ranken sich viele Mythen und Legenden um die sogenannte Alphafamilie. Fachliches Wissen konnte bis jetzt noch nicht feststellen, ob es diese Organisation wirklich gibt, oder die sagenumwobene Legende um sie nur eine Geschichte des frühen ersten Jahrhunderts vor Christus ist. Es gibt zwar keine Aufzeichnungen oder materiellen Hinweise über die Existenz der Alphafamilie, doch mündliche Überlieferungen faszinieren bis heute die Geschichtswissenschaftler und Philosophen. Demnach soll es im antiken Griechenland ein Geheimbund gegeben haben, dessen Aktivitäten oder Vorhaben allerdings schon zur damaligen Zeit umstritten waren. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich dieser Verband – man nannte sie „Alphafamilie“ – über ganz Europa verteilt. Eintausend Jahre vor Christi Geburt soll es ein Zwischenfall in der Alphafamilie gegeben haben. Anhänger stritten sich untereinander und bald spalteten sie sich in fünf Stämme auf. Es heißt, man habe sich auf ein Abkommen geeinigt, wonach jedem Stamm einer der fünf Kontinente unserer Erde zustehen sollte. Den anderen Stämmen war es von nun an verboten, das Landgebiet der Feinde zu betreten. Es soll ein Verstoß des amerikanischen Stammes gewesen sein, der schließlich einen Krieg, unvorstellbarer und gewaltiger als alles, was die Menschheit jemals zuvor erlebt hatte, auslöste. Denn den Mitgliedern der Alphafamilie wurden magische Fähigkeiten zugeschrieben. Zu dieser Zeit der Furcht und des Schreckens schlossen sich drei Stämme zusammen. Europa, Australien und Afrika bildeten zusammen einen starken Gegner für die Amerikaner, die widerwillig einen Pakt mit Asien geschlossen hatten. Ein zu starker Gegner waren sie und konnten somit das Ende des Krieges herbei zwingen. Sie mussten Verträge mit Amerika aushandeln, bis endlich Frieden gewährleistet war. Von nun an mussten sie in ständiger Angst vor einem Angriff der anderen Stämme leben. Einige Jahrzehnte nach Christi verlieren sich die brüchigen Informationen über diese Alphafamilie. Und heute ist sie nur noch eine umstrittene Legende. Natürlich basiert diese Geschichte auf rein imaginären Quellen und kann nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden. Doch die Suche ist damit noch nicht beendet.

Anschließend folgte noch eine Liste wichtiger Geschichtsprofessoren, die sich mit den Quellen dieser Erzählung befasst hatten. Doch ich schloss das Fenster und schaltete den Rechner aus.

Auf der obersten Ebene eines Bücherregals fand ich ein Buch mit dem Titel Geschichtliche Entwicklung der Asgardfamilie. In diesem Buch, so wusste ich, stand die wahre Historie der Asgardfamilie geschrieben. Und tatsächlich hatte sie die ähnlichen Eckpfeiler, die auch auf der Universitätsseite erwähnt wurden: Ein Streit um die Machtverhältnisse zwischen den ersten Nachfahren hatte die Asgardfamilie in fünf Stämme geteilt. Man hatte sich tatsächlich darauf geeinigt, dass jedem Stamm ein Erdteil zum Beschützen, Pflegen, Beherrschen und Leben zugesprochen worden war. So waren die Stämme Nasos, Rubi, Clatura, Fosit und der Murexstamm - meinem Heimatstamm - entstanden. Die Nasos, die Australien beherrschten, die afrikanischen Rubi und der europäische Murexstamm hatten nie den Krieg gesucht. Doch Sutin, der Gründer des Stammes Fosit, hatte den asiatischen Stamm Clatura dazu überredet, die anderen drei Stämme trotz des Vertrags anzugreifen. Man nannte als Grund seinen Machthunger. Dieser Krieg wurde in der Geschichte der Asgardfamilie Asgardkrieg genannt. Er hatte viele Jahre angehalten, hatte sogar Sutins Leben überdauert, bis sich der Murexstamm mit den Nasos und Rubi verbündet hatte. Gemeinsam hatten sie dem Krieg ein Ende setzten können. Ab diesem Zeitpunkt hatte eine unverminderte Feindschaft zwischen den drei den Frieden suchenden Stämmen und Amerika und Asien zu herrschen begonnen. Selbst jetzt noch gab es Streitereien und Konflikte zwischen uns und Nebur, dem derzeitigen Anführer der Fosit. Er konnte uns nicht ausstehen. Meinen Heimatstamm, die Nasos und die Rubi. Doch genauso gut war ihm klar, dass er uns nicht besiegen würde. Dafür war seine Armee zu klein. Und das war gut so. Somit konnte ich bis jetzt in einer Zeit des angespannten Friedens aufwachsen. Doch wie lange würde er noch bestehen? Wann war es so weit, dass der dünne Faden reißen würde, dass eine Seite die Grenzen überschreiten würde? Irgendwann würde der Moment kommen, an dem wir zu kämpfen hätten.

***

Den Vormittag über stöberte ich in den Regalen, die den typischen Geruch von Antiquariaten in sich trugen, bis mich Mom zum Mittagessen rief.

John war nicht anwesend. Ich nahm Libras aus der Hülle und legte ihn neben meinen Teller. Immer noch überkamen mich Glücksgefühle wenn ich ihn sah. Der einzige, der derzeit in meiner Generation des Murexstammes auch noch ein Icerotes besaß, war William. Er war der Älteste von uns Vieren. Steve dagegen war der Jüngste. Mehr Nachkommen meiner Generation gab es nicht. Nur uns vier. Kein anderer Stamm hatte eine derart geringe Nachwuchsrate.

Wir alle gingen in dieselbe Schule. Da sich die Mitglieder des Murexstammes im Süden Deutschlands, hier um Reming herum, angesiedelt hatten, hatte man etwas außerhalb des Dorfes eine kleine Schule eingerichtet. Bei den normalen Menschen war sie als Privatschule bekannt und tatsächlich fungierte sie so ähnlich. Es gab gut zehn Schüler. Meine drei Freunde und ich wurden von zwei Lehrern, die der Asgardfamilie angehörten, in jedem Fach unterrichtet. Über die normalen Fächer hinaus gab es noch die Fächer geschichtliche Entwicklung der Asgardfamilie, Icrologie - einer Unterrichtseinheit, die sich mit der Lehre der Icerotes befasste – und Astronomie. Astronomie war in der Asgardfamilie überhaupt sehr angesehen und gefragt. Vielleicht, weil die Wissenschaft der Icerotes so nah mit dieser verwandt war.

Neben uns gab es noch sechs jüngere Schüler und Schülerinnen. Meistens waren sie Cousins und Cousinen oder entferntere Verwandte. Insgesamt zählte der Murexstamm etwa vierzig Personen als Mitglieder, von denen zwölf noch minderjährig waren. Nun waren Herbstferien und vor mir und meinen Freunden lagen zweieinhalb Wochen Ruhe und Entspannung.

***

Die Finleys wollten um fünf Uhr kommen und ab halb vier wusste ich nicht mehr, was ich zu tun hatte.

Gelangweilt lag ich in meinem Zimmer auf dem Bett, Libras in den Händen haltend und ihn langsam durch die Luft schwingend. Dabei gab es immer Augenblicke, in denen die abendlichen Sonnenstrahlen von der bronzenen Klinge geschnitten wurden. Dann schimmerte sie golden auf und der eingravierte Schriftzug machte den Eindruck, als würde er von innen heraus glühen.

Was für ein Wesen waren die Icerotes?

Wie oft hatten sich Asgardler diese Frage schon gestellt? Wie oft hatten wir diese Frage schon in der Schule behandelt? Ich konnte es nicht sagen. Jedenfalls hatte noch niemand eine Antwort geben können. Es musste der Wille der Icerotes sein, dass wir sie nicht verstehen konnten, dass wir immer noch, nach all den Jahrtausenden interessiert an ihnen waren, sie als lebenswichtig ansahen. Ohne uns würden sie vermutlich nicht mehr auf dem Planet Erde vertreten sein. Woanders bestimmt noch, hier aber nicht mehr.

Als die Familie Finley bei Abenddämmerung an unserer Haustür läuteten, stürzte ich aus meinem Zimmer, um Steve zu empfangen, doch Mina hatte sie schon geöffnet und mit einem »Ach, meine Liebe«, umarmte sie Simone, Steves Mutter, gab Alfred zwei Küsschen auf die markanten Wangen und führte sie, wie es einmal mit Erwachsenen so war, mit viel Händegefuchtel hinein. Doch Steve war nicht bei seinen Eltern.

»Wo ist Steve?«, fragte ich sie zur Begrüßung misstrauisch, worauf Mina eine missbilligende Mine aufsetze. Die Finleys schien es nicht zu kümmern.

Freundlich sagte Simone, während sie ihr Übergewand auf einen dreibeinigen Hocker legte: »Steve meinte, er wolle mit Odin eine Fahrradtour machen und später zu uns stoßen.« Sie schaute auf ihre schwarze Armbanduhr, die sie zu ihrem letzten Geburtstag von meinen Eltern geschenkt bekommen hatte. »Allerdings sollte er jeden Moment hier eintreffen. Zumindest wollte er versuchen rechtzeitig herzukommen.«

Ich stellte mir Steve vor, wie er auf seinem Rennrad über die umliegenden Wiesen raste, den kleinen schneeweißen Labrador Odin neben sich her tollend. Er liebte das Fahrradfahren.

Inzwischen hatte sich John zu der Truppe an der Türschwelle gesellt. Seine Haare waren noch feucht. Anscheinend hatte er schnell geduscht und schon wurde er von Simone in die Zange genommen.

Während die Erwachsenen Richtung Terrasse gingen, trat ich einen Schritt aus der Haustür und schaute mich nach meinem Freund um. Doch sowohl auf der Einfahrt, als auch auf der etwas weiter hinten liegenden Wiese fehlte von Steve jede Spur.

Unser Tisch auf der Terrasse war von Mina wundervoll gedeckt worden. Orchideen und Tulpen ragten in der Mitte des Tisches auf und die Glasteller spiegelten das Licht der flackernden Kerzen. Ich setzte mich mit dem Rücken zum kleinen Bach, der hinter unserem Anwesen Richtung Reming floss, damit ich die Einfahrt gut im Blick hatte. Mina bestand darauf, mit dem Essen auf Steve zu warten, doch nach über einer halben stevelosen Stunde mussten wir mit der Vorspeise beginnen.

Ein Stein fiel mir vom Herzen als es an der Haustür klingelte. Ich sprang auf, eilte zum Eingang und hatte schon die Klinke umklammert, als ich plötzlich stutzte. Die ganze Zeit hatte ich die Einfahrt, auf der Steve eigentlich entlang kommen müsste, im Blick gehabt. Doch ich hatte niemanden gesehen.

Misstrauen packte mich. Ich versuchte meine Stimme möglichst autoritär klingen zu lassen: »Wer ist da?«

»James, mach'… bitte auf.« Steves gedämpfte Stimme klang flehend und erschöpft. Ich machte die Tür auf und erstarrte.

Steve stand vor mir, die Leine von Odin in der Hand. Doch sah Steve gar nicht aus wie der Steve Finley, den ich nur zu gut kannte. Mein sonst so gepflegter Freund machte vielmehr den Eindruck eines streunenden Köters. Steves Gesicht war von blutenden Kratzern und Schrammen überzogen. Seine kurzen tiefschwarzen Haare standen in allen Himmelsrichtungen ab, das Shirt war an Armen und Brust zerrissen und er war von oben bis unten mit Schlamm verdreckt. Ich half ihm herein. Seufzend ließ er sich auf den Mantel seiner Mutter fallen.

»Wasser«, stöhnte er und schloss seine Augen. Ich rannte durch den Flur und ließ in der Küche Wasser in ein Glas laufen. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich es fast nicht halten konnte. Der Schreck steckte immer noch in meinen Gliedern.

Steve trank es gierig leer. Das eiskalte Wasser rann ihm die Kehle hinab und sein hastiges Atmen beruhigte sich langsam. Seine Augen sahen merkwürdig leer aus und ein Krächzen drang aus seinem Mund: »Du, William… ihr müsst…«

Doch dann, ganz langsam, wurde Steves Griff um das Glas ruhiger, nicht mehr ganz so verkrampft. Plötzlich glitt es ihm aus der Hand und zerbrach auf den cremefarbenen Fliesen. Daraufhin rutschte Steve mit seinem Kopf von der Wand ab, kippte vorn über und blieb, mit dem Gesicht nach unten, regungslos liegen.

»Alfred, Simone, kommt her, schnell!« John, vom Klirren des Glases angelockt, stand hinter mir.

»James, was ist…?« Ein Aufschrei von Simone unterbrach ihn, die durch den Flur auf ihren Sohn zu rannte, der für sie, da er so regungslos da lag, tot zu sein schien. Ich stand wie angewurzelt da, konnte keinen Muskeln mehr rühren. Was war mit Steve?

»Nur die Ruhe, Simone.«

John hatte sie festgehalten. Doch sie schlug mit ihren Armen um sich, schluchzte und schrie sich ihr Elend aus dem Leib.

»Er ist nicht tot!« Alfred hatte sich zu seinem Sohn hinuntergebeugt und hielt seine Finger an die Hauptschlagader von Steves Hals.

Ich fand meine Stimme wieder und fragte zittrig: »Ist er ohnmächtig?«

»Das müssen wir hoffen. Tot ist er auf jeden Fall nicht. Sein Puls schlägt. Aber schlafen kann er auch nicht. Dafür ist sein Atem zu unregelmäßig. Doch diese These spricht gegen einen Ohnmachtsanfall. Ich schlage vor, wir bringen ihn hoch in dein Bett, James.«

Kurz darauf lag Steve auf meinem Bett, ein nasses Tuch auf der Stirn, die Wunden gereinigt und verarztet.

Mina, John und Simone standen um meinen Freund herum, Alfred hatte sich in eine Ecke verzogen und telefonierte hektisch mit dem Vater von Rosy. Sam war ein angesehener Chirurg und Arzt.

»Nein, ist schon gut. Wir werden es versuchen. Bis später.«

Alfred schloss das Gespräch ab und drehte sich zu uns um. Sein Gesicht war blass und Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.

»Sam hat soeben einen Notfall in Zürich. Er wird erst in einer Stunde bei uns sein können. Bis dahin sollen wir Steve warm halten, seinen Puls messen und ihm eine Beruhigungstablette verabreichen. Nur im äußersten Notfall sollten wir einen Arzt aus Reming holen. Erst wenn sein Puls auf über hundertfünfzig steigt. Sam vermutet, dass Steve Zuckungen oder derartiges erleiden wird. Die Tablette wird seinen überhitzten Stoffwechsel beruhigen. Mehr will er ihm vorerst nicht geben. Er muss sich ihn zuvor anschauen. Also…«

Wortlos nahmen wir unsere Aufgaben entgegen. Mina wollte aus der Küche die Tablette holen. Alfred nahm sich den Puls seines Sohnes vor. Und John und ich wickelten ihn in zwei Decken ein, bis schließlich Steve in einem wollenen Kokou eingeschlossen war.

In einer Stunde erst. Erst dann konnte Steve von einem geschulten Auge untersucht werden. Der Besuch bei einem Arzt, der kein Asgardler war, war ausgeschlossen. Misstrauische Fragen. Was, wenn Steve etwas zugestoßen war, das mit der Asgardfamilie in Verbindung stand? Wir konnten nichts mehr für ihn tun. Nur noch warten und hoffen, dass Sam nicht aufgehalten wurde. Steves Brustkorb bewegte sich nun gleichmäßiger und das röchelnde Atmen hatte nachgelassen.

Die Erwachsenen gingen in die Küche. Doch ich bliebt bei meinem Freund. Ziellos ging ich in meinem schwach beleuchteten Zimmer auf und ab. Da waren zu viele Sachen in meinem überhitzen Kopf, worüber ich nachdenken musste.

Was war seit gestern alles passiert? Einmal die Auswahl, womit ich nun vollwertiges Mitglied in der Asgardfamilie war. Dann Libras und seine mysteriösen Zeichen. Mein Leben stand auf seiner blanken Klinge. Meine Zukunft spiegelte sich darin und ich wusste nicht, was sie hieß. Ich hatte einen Brief vom international gewählten Rat der vereinigten Asgardfamilie bekommen. Und Steve lag in Lebensgefahr vor mir? Mein Leben verändert sich, dass wusste ich. Wie und warum wusste ich nicht.

Ab und zu schaute einer der Erwachsenen vorbei, erkundigte sich nach Steves Wohlbefinden. Dann sagte ich immer: »Ihm geht’s gut«, oder: »Er wird schon wieder gesund.« Doch ich wusste, dass es reine Hoffnung war. Es gab keine Hinweise auf eine wirkliche Genesung. Wir mussten einfach auf Sams Beurteilung warten.

Draußen war es stockdunkel, als endlich an der Haustür geklingelt wurde. Von unten drangen hektische Stimmen herauf, deren Besitzer polternd die Treppen hinauf kamen. Sams schmales Gesicht erschien vor der Tür. Er hatte zwei weiße Koffer in der Hand und schenkte mir ein kurzes Hallo. Dann kniete er sich vor dem Patienten nieder und nahm eine Taschenlampe aus einem der Koffer. Damit leuchtete er in Steves Augen. Wir halfen ihm, meinen Freund aus den Deckenschichten zu befreien und Sam horchte seinen Rücken und seine Brust ab. Er fuhr mit den Fingern an Steves Nacken entlang, drückte ihm mehrmals in die Seite und bewegte sein Kinn.

»Ich glaube, er braucht Nitroxynol«, faselte er und kramte in dem zweiten Koffer nach einer kleinen grünen Schachtel. Ihr entnahm er drei Kapseln, die er Steve in den trockenen Mund schob. Dann richtete er sich auf.

Inzwischen hatten sich die anderen hinter mir versammelt.

»So, das ist alles, was ich für ihn tun kann.«

»Aber was hat er?« fragte Simone, die Hände vor den Mund gehalten. Sam setzte eine unergründliche Miene auf.

»Ich kann es leider wirklich nicht sagen«, gab er zu. »Meine Vermutung ist, dass er vergiftet wurde. Durch wen oder was ist mir unklar. Ich hätte die Möglichkeit, ihm Blut abzunehmen und es im Labor untersuchen zu lassen. Doch auf ein Ergebnis kann man mehrere Tage warten. Ich habe ihm ein Mittel gegeben, das die meisten Gifte und Bakterien dieser Art abschwächt. Doch bevor wir nicht genau wissen, was ihm passiert ist, kann ich ihm nichts anderes verabreichen. Dabei würde ich zu viel aufs Spiel setzten. Da gibt es aber noch etwas anderes…« Er drehte Steve auf den Bauch und zog sein Shirt zurück. Ich erstarrte.

Eine blaue Fleischwunde war in seine rechte Seite eingeschlitzt. Die Haut um die Wunde war tiefrot unterlaufen und blutverschmiert.

»Das scheint von einer Kralle eines großen Tieres zu kommen.« Sam fuhr die parallel verlaufenden Schlitze in Steves Fleisch nach. »Sie ist gereinigt. Bevor ich sie verbinde, hätte ich aber gerne gewusst, von welchem Tier die eurer Meinung nach kommen könnte.«

»Sieht aus, wie von einem Bär oder einer Raubkatze. Doch beides kommt hier nicht vor«, überlegte Alfred und in seiner Stimme lag derselbe Ekel, den ich empfand. Wer oder was konnte Steve das nur antun? Vergiftet, mit einer gefährlichen Wunde versehen.

»Wo war er denn, bevor er gekommen ist?«, erkundigte sich Sam und begann die Wunde zu desinfizieren und seinen Oberkörper mit einer weißen Binde zu umwickeln.

»Er wollte am Siegelhorn entlang. Und zuvor war er noch kurz bei William«, erinnerte sich Simone.

»Der Angriff kann nicht zu weit entfernt gewesen sein. Ich glaube nicht, dass Steve mit der Wunde weit gekommen wäre«, folgerte Sam. Doch ich dachte an etwas anderes.

William… Das erinnerte mich an etwas. Was hatte William mir vor einiger Zeit erzählt? Ein Raubtier. Ein Raubtier der Fosit. Sie hatten eine fast gänzlich ausgestorbene Wolfsart nachgezüchtete. Ja, ein Wolf.

»Der Kobrus!«, sagte ich unvermittelt. Die anderen starrten mich an. »Steve wurde von den Fosit angegriffen! Sie haben den Kobruswolf auf ihn angestezte.«

»Die Fosit? James, weißt du, von was du redest? Wie sollten sie… warum denn…?« John zog verwirrt die Augenbrauen hoch. Ich versuchte ihnen meine Vermutung zu erklären.

»Sozusagen ein Kriegswolf der Amerikaner? Dem sie den Auftrag geben, andere zu vergiften oder zu töten? Warum sollten sie ausgerechnet Steve attackieren lassen?«

»Das ist die Frage. Doch zuerst sollten wir herausfinden, was für ein Gift die Kobruswölfe besitzen und woher man das Gegengift bekommt«, antwortete ich auf Alfreds Frage.

»Ich kann morgen im Krankenarchiv des Ärzteverbandes nachschlagen«, sagte Sam. »Ich bezweifle allerdings, dass dort etwas über das Gift eines Wolfs der Asgardfamilie steht«.

Dann ergriff John das Wort: »Lesar hat ein umfangreiches Wissen über die Tier- und Pflanzenwelt. Ich rufe ihn gleich an. Vielleicht kann er uns weiterhelfen.«

John eilte aus dem Zimmer. Leser war der Anführer des Nasosstammes und ein guter Freund meiner Eltern. Ich sah ein, dass es nutzlos war, hier weiter herumzustehen und zog mich zurück. Im Gang vor dem Krankenlager nahm ich mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer von Rosy. Es tütete und piepste. Dann hörte ich die Stimme von Rosy Seem.

»Ja, James was ist denn? Ich bin gerade beim Abendessen.«

»Hi Rosy, ich habe dir einiges zu sagen. Wir müssen uns sofort treffen.«

»Weißt du, wie spät es ist? Zudem sagte ich ja schon, ich bin beim Abendessen.«

»Dein Vater ist hier, bei uns. Es geht um Steve, er ist verletzt. Bitte, es ist sehr wichtig... Es geht um Steves Leben!« Ich brach den Anruf ab. Rosy würde kommen, ganz bestimmt.

Mit einem »Bin gleich wieder da«, schnappte ich mir meine Jacke und stürmte an Mina und Simone vorbei. Aus der Bibliothek konnte ich die Stimme meines Vaters hören.

Schnell lief ich über den kleinen geschotterten Weg an unserem Haus vorbei und zum Waldrand, der die Grenze des Grundstücks der Harrisons bildete. Dort stand eine einsame Garage, deren Einfahrt von hohem Gras überwachsen war.

Es war lange her, als wir uns hier eingerichtet hatten. John hatte sie damals meinen Freunden und mir bereitgestellt, nachdem wir immer mein - für vier Teenager zu kleines - Zimmer belagert hatten. Ein Tisch in der Mitte des Raumes, vier Stühle drum herum, ein Bildschirm an der gemauerten Wand und ein PC in der hinteren Ecke. Das war alles, was wir in den letzten Jahren gesammelt hatten. Dazu kam ein Bücherregal, das das ehemalige Stahltor verdeckte, und ein Spiegel, auf dem man durch ein raffiniertes Röhrensystem den Eingang im Blick hatte.

Ich blickte auf meine Armbanduhr. Vor fünf Minuten hatte ich Rosy angerufen. Wenn sie sich beeilen würde, müsste sie in den nächsten Minuten kommen. Doch ich kannte ihre Mutter. Sie legten sehr viel Wert auf Pünktlichkeit. Und wenn man während dem Essen den Tisch verlies, konnte sie schnell zur Furie werden. Also trabte ich zum Bücherregal, zog den dicken Wälzer Leben im Auge des Todes heraus und ließ mich auf den knautschigen Sessel nieder. Das Lesezeichen lag auf Seite 253.

Der Wind peitschte im Flug durch meine Haare. Fill trug mich wie auf Kissen über die Lavafelder. Dort, weit in der Ferne, sah ich die Umrisse des riesigen Schlosses, wo er irgendwo sein musste und auf mich wartete. Ja, er muss mich im Kampf schlagen. Ich würde dem Tod nicht in die offenen Arme laufen und wie ein kleines Kind darauf warten, dass es geschah. Ich würde kämpfen und so viele Leben retten, wie es nur ging.

Ich schlug das Buch zu. Das konnte mich jetzt schwerlich aufheitern. Was wäre, wenn sich Steve auf solch einer Reise befand? Auf einer Reise in den Tod? Schlüsselgeklimper an der Tür riss mich aus meinen Gedanken.

Ein rothaariges Mädchen mit leuchtend blauen Augen trat ein. Sie war in eine schwarze Daunenfederjacke eingehüllt. In vielerlei Hinsicht ähnelte sie meiner Mutter erschreckend stark.

»James! Was ist denn los?«

Sie sah gehetzt und angespannt aus. Ihre Mundwinkel zuckten und ihre Augen hefteten mich fest.

»Steve und seine Eltern wollten heute zu uns kommen. Simone und Alfred kamen pünktlich, Steve jedoch wollte mit dem Fahrrad her radeln, wurde aber auf dem Weg hierher angegriffen.«

»Angegriffen?!«, fragte Rosy entsetzt.

»Ja. Vermutlich von den Fosit. Rosy, weißt du etwas über die Kobruswölfe?«, hakte ich nach, gespannt das Buch umklammernd.

»Mir hat William nur gesagt sie seien eine von den Fosit gezüchtete Wolfsart«, sagte sie mit erstickter Stimme. Ich nickte.

»Gut. Denn wir glauben, das Steve von einem Kobrus angefallen wurde. Steve liegt in einem Art Trauma oder so und John versucht mehr über die Wolfsart herauszufinden.«

Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und starrte mich entsetzt und ungläubig an.

»Die Fosit… warum?«

»Das haben wir uns auch schon gefragt. Vielleicht hängt das mit meinem Icerotes zusammen«, sagte ich und stellte das Buch zurück in das Regal.

»Stimmt ja, du hast dein Icerotes bekommen.« Ich nahm Libras hervor und reichte Rosy den Griff.

»Sein Name ist Libras. Frag nicht, was mein Schicksalsspruch ist. Wir konnten ihn nicht entziffern.«

»Nicht? Das ist ungewöhnlich.«

Sie gab mir Libras zurück und schloss ihre Augen. Schließlich sagte sie: »Kann ich zu Steve?«

Zügig gingen wir zurück ins Haus. Dabei sah ich einen Angler nicht allzu weit weg am Bach sitzen. Er war korpulent und trug eine karierte Mütze auf seinem Glatzkopf. Eine altmodische Gaslaterne erhellte ihn und seine Umgebung. Ich bezweifelte, dass er hier, zu dieser Jahreszeit, größere Fische fangen würde. Schweigend saß er da und lauschte dem Plätschern des Wassers. Das glaubte ich zumindest. Seine Angelrute hatte er am Ende in den Boden gesteckt, doch der Faden regte sich nicht.

»Was macht der noch um diese Uhrzeit hier?« fragte Rosy. Ich zuckte die Schultern.

Vor der Haustür kniete Mina. Sie hielt eine Vase mit frischen Tulpen in den Händen. Was suchten diese Blumen hier im Freien? Ich kannte mich zwar nicht mit Blumen aus, zumindest aber wusste ich, dass Tulpen im Herbst nicht im Freien stehen sollten. Verwirrt ging ich an ihr vorbei.

John saß noch in unserer Bibliothek, das Telefon in der Hand und die Augen an den Bildschirm des PCs geheftet.

»Dad, hast du schon…« fing ich erwartungsvoll an, woraufhin mein Vater zischte und seine Hand hob, um mir Schweigen zu gebieten. Doch es dauerte nicht mehr lang, bis sich mein Vater von seinem Gesprächspartner verabschiedete und den Hörer zurücklegte.

»Und?«, fragte ich gespannt. »Kennt Lesar den Kobrus?«

John versuchte zu lächeln. »Zu unserem Glück konnte mir mein alter Freund etwas erklären.«

Rosy und ich lauschten gebannt und er fuhr fort: »Die Kobrus sind eigentlich in Südaustralien beheimatet und nicht in Amerika. Sie wurden nur in die Vereinigten Staaten importiert.«

»Und das heißt?«, fragte Rosy.

»Das heißt, Lesar kennt sich mit dieser Wolfsrasse aus. So erklärte er mir, dass das Gift den Menschen in eine Starre versetzt. Als Winterschlaf könnte man es bezeichnen. Das Gegengift ist das Öl der sogenannten Kolibripflanze, welche ziemlich selten ist und nur in einem ganz bestimmten Gebiet auf dem australischen Kontinent wächst. Da es so selten gebraucht wird und nur schwer zu beschaffen ist, gibt es das Öl nicht auf Vorrat. Dennoch braucht Steve das Gegengift. Denn irgendwann wird seine Körperenergie vollends aufgebraucht sein. Und das heißt…« John seufzte, doch ich beendete den Satz optimistisch: »…dass wir nach Australien müssen.«

Rosy ließ den Kopf hängen und um die unruhige Stille zu brechen, fragte ich zweifelnd: »Kann nicht Lesar das Gift für uns besorgen?«

»Das soll eine ziemlich schwierige Aufgabe sein. Und eine riskante dazu. Man muss viel Glück und einen erfahrenen Kopf haben, um sie finden zu können«, erklärte John.

»Willst du etwa mit ansehen, wie das Leben aus Steve heraus sickert, Dad?«, fuhr ich meinen Vater an, härter als ich beabsichtigt hatte.

»Es ist schwer. Die ganze Organisation, die Hilfe, die wir benötigen werden, die Zeit. Es dauert eine halbe Ewigkeit, um nach Australien zu fliegen. Bis wir die Pflanze gefunden haben und wieder zurück sind… Wer weiß, ob Steve überhaupt noch so viel Zeit bleibt?«, murmelte mein Vater.

»Dennoch. Wir werden es versuchen müssen. Eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Wir müssen nach Australien.«

JAMES HARRISON

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