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Episode 3 – Mit Gerechtigkeit auf dem Rücken

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„Die wahre Freiheit ist nichts anderes als Gerechtigkeit.“

- Johann Gottfried Seume

Im Gegensatz zu Mashas Wohnung, die ein liebevolles Chaos und den Geist ihrer Kreativität und Wildheit beherbergte, zeigte Samuels Wohnung, die sich in einem modernisierten Altbauhaus, mit hohen Decken und einer unverschämt ausladenden Treppe, die in die obersten Stockwerke führte, ein eher nüchternes Bild. Samuel gehörte eine der wenigen Wohnungen in diesem Gebäude. Große Räume mit wenigen Möbeln waren charakteristisch für ihn. Stilvoll aber nüchtern wirkte auch das deckenhohe Bücherregal in dem verschiedene Bildbände, Fach- und Philosophiebücher neben Bildern in schlichtem Rahmen von ihm und seiner Familie und der obligatorischen weißen Büste irgendeines Gelehrten oder Schriftstellers standen, den er aus Gründen, die er nicht mehr wusste, toll fand. So wie viele Menschen, die eine kleine Bibliothek zuhause stehen haben, wurde er häufig von seinem Besuch gefragt, ob er denn all diese Bücher gelesen habe. „Die meisten davon. Einige davon nur quer.“, war dann seine ehrliche Antwort, wenn er den Besuch nicht beeindrucken wollte. Wenn er ihn beeindrucken wollte, war ein beiläufiges „Natürlich.“ seine Antwort. Der Besuch, den er beeindrucken wollte, war in den meisten Fällen weiblich.

Der warme Wasserstrahl, den er sich in sein Gesicht hielt und dessen Ausläufer als unzählige Rinnsale seinen Körper hinunterliefen und den Weg in den Abfluss fanden, hatte den Zweck ihn für den Tag bereit zu machen. „Heute klappt das nicht.“ dachte er, während er, mit einer Hand an den Fließen des schwarzen und edel gekachelten Bades gestützt, beobachtete, wie das Wasser genauso schnell verschwand, wie es gekommen war. Wie die Begegnungen in unserem Leben, die uns ein Stückweit den Weg begleiten, sich manchmal zu einem großen Rinnsal vereinigen, um dann gemeinsam den weiteren Weg in die Schwärze des Nichts der Ewigkeit zu finden. Anders als die Rinnsale, die sich, wenn sie sich vereinigt haben, nicht mehr trennen, vermögen es die Menschen jedoch, sich voneinander zu trennen, um den Weg allein oder mit jemand anderem fortzuführen. Sie mäandern über Hügel, Berge in Täler und Tiefen, kommen sich näher, entfernen sich, vereinigen sich und trennen sich wieder. „Heute wird einer der Tage, an denen mich die Müdigkeit den ganzen Tag begleiten wird.“ Die Düsen seiner Regenwalddusche benetzten sein Gesicht weiterhin mit Wasser, während er die Augen schloss und sich weiter seinen Gedanken hingab. Er dachte an die Frau, mit der er den gestrigen Abend und bis heute Morgen verbrachte und die er die halbe Nacht beim Schlafen beobachtete.

Ihr Körper hob und senkte sich bei jedem Atemzug leicht. Ihr Haar war durch den Schlaf die Nacht hindurch wild und zerzaust worden, sodass er ihr Gesicht nicht sah, sobald sie sich im Schlaf auf den Bauch drehte. Nur die blinde Justitia, in einer Hand das Schwert und in der anderen die Waagschalen, entblößte ihm einen Teil ihrer Persönlichkeit. Wenn man sich so ein Tattoo stechen lässt, bedeutete es meistens etwas. Als sie gestern nach einem schönen Abend wild umschlungen ins Bett gingen, vergaß er sie zu fragen, wieso gerade die Justitia ihr Schulterblatt schmückte. Wieso das Sinnbild für Gerechtigkeit? Was war ihr widerfahren, wonach strebte sie, was trieb sie an, wen oder was begehrte sie, was waren ihre Ziele? Viele Frauen, mit denen er schlief, hatten Tattoos und diese reichten von Zeichen der Unendlichkeit, japanischen Schriftzeichen, Gesichtern von geliebten Menschen, Namen, bis hin zu abstrakten Bildern. Im Laufe der Jahre fand er eine diebische Freude daran, den aktuellen Trend anhand der Tattoos zu erraten. Der Rücken einer Geliebten, die er einmal hatte, war fast vollständig mit den Wurzeln, Ästen und dem Stamm einer Trauerweide zugestochen. Bäume symbolisieren Beständigkeit gegen die Zeit und gegen Unwetter. Die Trauerweide, fand er später heraus, hatte noch weitere Bedeutungen. Als Memorial an einen geliebten Menschen, um dessen Leben und Tod zu gedenken.

Aus mythologischer Sicht als Verwurzelung in die Vergangenheit, mit der Weide als Baum der Trauer und einem melancholischen Geist dabei, der sich in Richtung der Ahnen streckt. Viele weitere Bedeutungen hatte er später recherchiert, doch so gut er diese Geliebte kannte, konnte er sich keine der Erklärungen bei ihr vorstellen. Er wäre enttäuscht gewesen, wenn er erfahren hätte, dass sie es aus reiner Ästhetik tat. Das konnte er sich bei bestem Willen nicht vorstellen. Nicht bei einem Tattoo, dass den ganzen Körper so vereinnahmt. Er hatte sie wirklich nie gefragt und ärgerte sich im Nachhinein, es vergessen zu haben, was die Trauerweide für sie bedeutete. Die Justitia hingegen, als Frau mit Augenbinde, Schwert und Waage dargestellt, symbolisiert in erster Linie Gerechtigkeit. In der linken Hand die Waage, die eine sorgfältige Abwägung des Urteils darstellte und in der rechten Hand das Schwert, mit dem das Urteil mit notwendiger Härte durchgesetzt wurde. Die Augenbinde der Justitia wurde um das Jahr 1500 hinzugefügt, um die Blindheit der Justiz zu verspotten, bevor sie später als Unparteilichkeit interpretiert wurde. Nun war es zu spät sie beide zu fragen, was sie antrieb ein Symbol für ihr ganzes Leben auf die Haut stechen zu lassen und was es für sie persönlich bedeutete. Die eine, deren Gesicht er längst vergaß, deren Trauerweide ihm jedoch für immer im Gedächtnis bleiben würde und die andere, die die Gerechtigkeit auf ihrem Rücken trug.

Die zwei ewigen Lügen im Leben

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