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Die Sieben Elfen

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Ritter Trottelbein hatte inzwischen die Lichtung vor der Höhle betreten und suchte ein wenig hilflos nach einer Eingangstür und dem dazu passenden Klingelknopf, um seine Ankunft kundzutun.

Selbstverständlich war das große Eingangstor der Höhle nicht einfach so für jedermann sichtbar. An gewöhnlichen Tagen, an denen keine Rettung einer Prinzessin im Terminkalender des Drachen vermerkt stand, war das Tor vor den Augen vorbeikommender Wanderer hinter einem schlichten Moosteppich verborgen. Lediglich die davor herumflatternden Schmetterlinge zogen, ihrer Seltenheit wegen, gelegentlich ein wenig Aufmerksamkeit auf sich. Keinem Wanderer wäre der Gedanke gekommen, dass sich hinter dem Moos mehr verbarg, als nackter Fels.

Während der Ritter noch nach dem Klingelknopf suchte, kam zufällig die Weise Waldeule vorbeigeflogen, die in der Nähe der Ruine Rodenstein eine heikle Angelegenheit zu erledigen gehabt hatte. Die Weise Waldeule erfasste sofort, weshalb der junge Ritter sich vor dem Tor der Drachenhöhle aufhielt. Das Pferd, die beiden Schatztruhen und das frisch gewienerte Schwert des Ritters sprachen für sich. Denn die Weise Waldeule war, als wichtigste Instanz zur Regelung heikler Angelegenheiten und zur Lösung schier unlösbarer Probleme im gesamten Waldgebiet des oberen Gersprenztals, über die Existenz der Höhle und ihren merkwürdigen Inhalt bestens unterrichtet.

„Einen wunderschönen guten Tag, Herr Ritter“, krächzte die Weise Waldeule. „Ein kleiner Ausritt im frühherbstlichen Wald ist schon etwas Angenehmes, nicht wahr? Ich vertrete mir sozusagen auch gerade ein wenig die Flügel“, flunkerte sie, Ahnungslosigkeit vortäuschend.

„Ein kleiner Ausritt ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck“, meinte Ritter Trottelbein. „Ich bin gerade im Begriff, meine Braut den Klauen eines fürchterlichen Untiers zu entreißen“, fügte er mit stolzgeschwellter Brust hinzu.

„Holla!“, tat die Weise Waldeule beeindruckt. „Dann wollten Sie sicher gerade mit der linken Fußspitze dreimal auf jenen merkwürdigen schwarzen Stein tippen, um den Moosteppich vor dem Tor beiseite zu schieben und anschließend mit dem Knauf Ihres edlen Schwertes auf das danach freiliegende Tor donnern, um Einlass zu begehren?“, gab sie dem jungen Ritter einen kleinen Tipp, da es ihr auch nicht entgangen war, wie ratlos er vor dem Moosteppich nach einen Zugang zur Höhle gesucht hatte.

„Genau das war soeben meine Absicht“, zwinkerte der Ritter, dankbar, dass er sich nicht auch noch zu blamieren hatte, indem er im nahe gelegenen Hofgut nach dem Weg hätte fragen müssen. „Vielen Dank für den freundlichen Hinweis“, fügte er höflich hinzu. Er merkte es sich vor, dass diese lustige Waldeule bei ihm etwas guthatte.

Gerade wollte Ritter Trottelbein mit dem linken Fuß den schwarzen Stein antippen, als hinter der Felswand ein tiefes Brummen ertönte, das binnen Sekunden derart anschwoll, dass es die gesamte Lichtung schwer erschütterte, der Ritter sich vor Angst flach auf den Boden warf, das Pferd sich erschrocken auf den Hintern setzte und die Weise Waldeule wohlweislich darauf verzichtete, sich auf irgendeinen Ast der heftig schwankenden Bäume zu setzen.

„Um des Schwarzen Mondes willen, den Fuß weg vom Stein!“, fauchte die Weise Waldeule den Ritter eben so erregt wie überflüssig an. „Er schnarcht!“

„Er tut was?“, blökte der Ritter entsetzt.

„Er schnarcht! Der Drache schnarcht! Er ist eingeschlafen! Wir müssen sie unverzüglich rausholen!“, rief die Waldeule.

„Dazu bin ich doch hier!“, protestierte der Ritter mutig, während er krabbelnd versuchte, den schwarzen Stein zu erreichen.

„Weg vom Stein! Und unterstehe dich, das Tor der Höhle zu öffnen, wenn dir dein Leben und das deiner Prinzessin lieb sind!“, befahl die Weise Waldeule, nun jede Förmlichkeit beiseite lassend. „Wir müssen hinten herum. Zum Brunnen. Und wir brauchen unverzüglich die Hilfe der Sieben Elfen! Folge mir.“ Dem Pferd, das sich inzwischen berappelt hatte, gab sie einen Wink mit dem Flügel, dass es ihr ebenfalls zu folgen hatte.

Pferd und Ritter stolperten so schnell es die wellenartigen Bewegungen der Erde auf der Lichtung erlaubten, hinter der rasch davon fliegenden Eule her. Der Ritter, der die Rodensteiner Ruinen von einigen mittelalterlichen Festen her kannte, wo er gelegentlich auch mal ein paar kleine Kampfdemonstrationen gegeben hatte, wusste gleich, von welchem Brunnen die Rede war. Es gab hier nur einen: den Brunnen in der Ruine. Wenn er sich auch nicht vorstellen konnte, was es dort zu tun gäbe und wie sie dort, wie er es aufgefasst, hatte, die akut bedrohte Prinzessin außer Gefahr bringen konnte. Offenbar hatte die Waldeule mit dem „Schnarchen des Drachen“ eine alte Metapher benutzt, mit der sie ein unter der Drachenhöhle gelegentlich entstehendes Erdbeben meinte. Welche Rolle der bis zum Rand mit Schutt gefüllte Brunnen dabei spielte und weshalb es dabei der Hilfe der sogenannten „Sieben Elfen“ bedurfte, war ebenfalls ein Rätsel. Die Waldeule hätte sich in der Aufregung zweifellos geirrt und hatte wohl die „Sieben Zwerge“ gemeint, eine so geheißene kreisförmige Ansammlung von sieben alten Baumstümpfen, die, wie er sich vage erinnerte, einst in der Nähe vom „Steinernen Tisch“ herum gestanden hatten. Außerdem konnte er sich mit dem besten Willen nicht vorstellen, dass seine Prinzessin ernstlich in Gefahr schweben könnte. Sie befand sich immerhin im Schutze des Drachen Wigolant, und der wurde doch nicht grundlos „Schutzdrache“ genannt. Der würde gewiss zusehen, dass der Prinzessin keinerlei Leid zugefügt werden konnte. Schließlich war es dessen Geschäft, Prinzessinnen zu schützen. Auf so etwas konnte man sich doch verlassen. Die Waldeule war beim Erdbeben bestimmt in Panik geraten und redete wirres Zeug. Das kennt man doch von den Hühnern und Gänsen, versuchte der Ritter sich selbst zu beruhigen. Aber ganz sicher war er sich nicht, weshalb er vorsichtshalber doch hinter der Eule her rannte. So bestimmend, wie diese geklungen hatte, wollte er doch lieber nichts riskieren.

Am Brunnen angekommen, wiederholte die Weise Waldeule noch einmal: „Wir brauchen sofort die Sieben Elfen.“ Langsam und deutlich, damit sie ja nicht falsch verstanden würde, befahl sie: „Ritter Trottelbein, hör mir gut zu. Als auserkorener Retter der Prinzessin bist du im Augenblick der Einzige, der die Sieben Elfen zur Hilfe rufen kann. Nimm dein Schwert und schlage sieben Mal so fest du kannst mit der Klinge auf den Rand des Brunnens. Frag nicht nach dem Grund. Tue es sofort und lege dein ganzes Herz in jeden Schlag, damit die Elfen wissen, dass es dein voller Ernst ist. Sollte auch nur ein einziger Schlag halbherzig sein, wird keine der Elfen herbeikommen und deine Prinzessin ist rettungslos verloren. Nun tue, was ich dir geheißen.“

Ritter Trottelbein, dem allmählich der Ernst der Sache aufging und der der Weisen Waldeule aufs Wort glaubte, ergriff ohne Zögern sein herrliches Damaszenerschwert und schritt zum Brunnen. Er holte tief Luft, schwang das Schwert in die Höhe und schlug mit der ganzen Kraft seines mutigen Herzens auf den Rand des Brunnens. Das Schwert hinterließ eine tiefe Kerbe im Brunnenrand und der klirrende Klang des schwingenden Schwertes erschallte weit über den dunklen Herrenwald hinweg, so dass er Meilen weit zu hören war. Dies tat der Ritter sieben Mal. Und jedes Mal schlug er mit mehr Kraft, denn sein Herz war erfüllt vom festen Willen, das Leben seiner Prinzessin Smaragdauge um jeden Preis zu retten. Und wenn er sein eigenes dabei hingeben müsste. Sieben Mal holte er tief Luft. Sieben Mal schlug er mit dem Schwert auf den Brunnenrand. Sieben Mal tönte der wundervolle Ruf des unzerstörbaren Stahls über die Wälder. Sieben tiefe Kerben hinterließ das Schwert auf dem Rand des Brunnens.

„Nun müssen wir warten und hoffen, dass die Sieben Elfen heute nicht anderweitig beschäftigt sind“, sagte die Weise Waldeule, setzte sich auf den Ast einer hohen Buche, schloss die Augen und spitzte die Ohren. Der Ritter wischte den Staub von seinem Schwert und setzte sich ebenfalls hin, in der Hoffnung, dass die Sieben Elfen seinen Ruf der Antwort würdig erachten würden.

Die Sieben Elfen saßen im Biergarten der Fränkisch-Crumbacher „Linde“ zu ihrem wöchentlichen Treffen, bei Tee und Plätzchen zusammen, als der Ruf des Schwertes ihre feinen Ohren erreichte. Sie schauten sich vielbedeutend an, erhoben sich gleichzeitig und wandten sich zum Gehen. Eine von ihnen sagte zur Wirtin, die gerade einem anderen Damenkränzchen eine Ladung „Pfläumchen“ servierte: „Verzeiht uns, Gnädigste, wir wurden gerade eben zum sofortigen Einsatz gerufen. Du kannst abräumen und den Verzehr anschreiben. Heute wird das wohl nichts mehr. Wir bezahlen beim nächsten Mal.“ Und hastete den sechs anderen hinterher.

Die Wirtin wunderte sich kein bisschen über das Verhalten der sieben jungen Damen. Es war nicht das erste Mal, dass sie während eines Teekränzchen ganz plötzlich das Lokal hätten verlassen müssen. Die Wirtin glaubte, dass es sich bei den jungen Damen um die Belegschaft eines nahe gelegenen Call-Centers handelte, die gelegentlich auch mal außerhalb der festen Arbeitszeiten per SMS zum Sondereinsatz gerufen wurden. Außerdem waren es nun wahrhaft nicht die einzigen Bewohner dieses liebenswerten Dörfchens, die sich hin und wieder etwas merkwürdig benahmen. Als Wirtin war man so einiges gewohnt.

„Sonderschicht im Call-Center“ war nicht einmal so abwegig, denn die Sieben Elfen wurden tatsächlich hin und wieder zum Sondereinsatz gerufen. Allerdings ganz anderer Art, als die Wirtin meinte. In Wirklichkeit handelte es sich bei den Sieben Elfen um eine kleine Gruppe von wahrhaftigen Elfen, die schon seit einer so langen Zeit im Verborgenen im gesamten Odenwald ihren Dienst am Menschen verrichteten, dass sich niemand mehr daran erinnern konnte, wann sie sich dort angesiedelt hatten. Oberflächlich betrachtet schienen es sieben blendend aussehende junge Damen zu sein, die, jede für sich, in sieben verschiedenen Dörfern des Odenwaldes, jeweils in einem etwas abgeschiedenen Häuschen lebten. Da Elfen, wie jedermann weiß, nicht altern, wechselten sie alle sieben Jahre reihum ihren Wohnort, damit ihre Nachbarn wegen ihres immer gleichbleibenden jugendlichen Aussehens keinen Verdacht schöpften. Wenn sie nach neunundvierzig Jahren wieder in das Häuschen zurückkehrten, das sie ein halbes Jahrhundert zuvor verlassen hatten, war die Gefahr gering, dass sich nach so langer Zeit noch ein Nachbar an sie hätte erinnern können.

Sie waren, wie viele andere Elfen in anderen Gegenden der Welt, vor ewigen Zeiten von ihrem Elfenkönigspaar in den Odenwald geschickt worden, um Menschen das Leben zu retten, die unverschuldet in höchste Lebensgefahr geraten waren, obwohl die ihnen von der höchsten Vorsehung zugeteilte Lebensspanne noch nicht abgelaufen war, und sie noch etliche Jahre zu leben hatten. Wann immer so etwas eintrat, wurden die Sieben Elfen mittels eines der sieben geheimen Zeichen zum Einsatz gerufen. Denn es handelte sich immer um außergewöhnlich schwierige Aufgaben, die sie nur in gemeinsamer Anstrengung lösen konnten. Wie auch dieses Mal.

Als die Sieben Elfen das Lokal verlassen hatten, sagte eine von ihnen: „Es war das dritte Zeichen: das Schwert des Retters. Heiliger Schwarzer Mond, spürt ihr, wie die Erde bebt? Der Drache ist eingeschlafen. Wer auch immer das verschuldet hat, wird keine Sekunde Freude daran gehabt haben. Wir müssen schnellstens zum Brunnen.“ Jede der Sieben Elfen hastete in eine andere Richtung. Aber nur um sich hinter der jeweils nächsten Straßenecke in Luft aufzulösen und, unsichtbar für die Menschenkinder, gemeinsam blitzschnell zu ihrem Einsatzort zu eilen.

Das Verlassen der „Linde“ bis zum Eintreffen am Brunnen war eine Sache von wenigen Sekunden. Räumliche Entfernungen bedeuteten den Elfen überhaupt nichts. Sie konnten sich durch die Kraft ihres Willens von einen Augenblick zum anderen über viele Meilen hinweg fortbewegen. Am Brunnen angekommen, wurden sie augenblicklich durch die Weise Waldeule davon unterrichtet, dass die Prinzessin sich noch in der Höhle befand und schnellstens heraus befördert werden müsste, sofern sie überhaupt noch am Leben war.

Die Elfen nickten. „So etwas haben wir uns schon gedacht“, sagte eine von ihnen und bedeutete dem Ritter Trottelbein, er möge sich ein wenig vom Brunnen zurückziehen, damit er nicht im Weg stünde und sein Pferd im Zaum halten, damit es beim kommenden Geschehen nicht durchginge. Der Ritter beeilte sich, sein Pferd außerhalb der Burgmauern zu bringen, wo er es sicher anband. Dann kehrte er rasch zurück, da er sich nichts von dem entgehen lassen wollte, was die Sieben Elfen nun vorhatten.

Inzwischen waren die Sieben Elfen in einen Kreis um den Brunnen getreten. Sie begannen gemeinsam ein Lied zu singen. Zunächst ganz leise, so dass der Ritter sie kaum hören konnte. Allmählich wurde der Gesang lauter, bis er zuletzt fast so laut erklang, wie zuvor die Schläge des Schwertes erklungen waren. Der Gesang war jedoch noch um ein Vielfaches schöner und beeindruckender, als es das Klirren des Schwertes gewesen war.

Ritter Trottelbein konnte kein Wort von dem Gesang verstehen. Es schien ihm eine uralte Sprache zu sein. Wohl eine Elfensprache, wie er annahm. Und trotzdem erschien ihm dieser Gesang merkwürdig vertraut, als hätte er ihn in seiner frühesten Kindheit schon einmal gehört. Was auch zutraf, denn die Elfen hatten, neben ihren doch eher seltenen Aufgaben als Katastrophenhelferinnen, auch den Auftrag, in der ersten Neumondnacht eines Neugeborenen, an dessen Bettchen ganz leise, so dass nur das Kind selbst es hören konnte, das Hohelied der Elfen zu singen, damit es sich daran erinnere, wenn es der Hilfe der Sieben Elfen eines Tages bedürfen sollte. Denn nur mit der Unterstützung der Kraft des Hohen Elfenliedes würde ein Mensch dazu fähig sein, die alles entscheidende Hilfe zu leisten. Beim Einsatz der Sieben Elfen durften oder konnten niemals die Elfen selbst die entscheidende Hilfe erbringen. Menschenleben zu retten bedarf stets den Mut und das Herz eines aufrichtigen Menschen. Das ist heute so wie damals und daran wird sich niemals etwas ändern. Aber die Kraft dazu, die durften die Sieben Elfen beisteuern. Was sie auch nur allzu gerne taten, denn nichts wäre ihnen eine schwerere Last gewesen, als tatenlos zuschauen zu müssen, wie ein unschuldig in Not geratener Mensch zu Unzeiten das Leben verlor.

Ritter Trottelbein spürte, wie er von einer unendlich großen und edlen Kraft erfüllt wurde und er fühlte sich bereit, alles zu tun, was nötig wäre, um die Prinzessin aus der Höhle zu befreien, was auch immer dort unten zugange wäre. Langsam ging er auf den Brunnen zu, um den herum immer noch die Sieben Elfen sangen. Nun traten die Sieben Elfen, während sie weiter ihren Gesang erklingen ließen, alle drei Schritte zurück, so dass der Ritter freien Zugang zum Brunnen hatte. Und plötzlich wusste der Ritter, was er zu tun hatte.

Er zog sein Schwert aus der Scheide, richtete dessen Spitze auf die Mitte des großen Mühlensteins, der den Brunnenschacht abdeckte und sprach, als wurden ihm die Worte aus der tiefsten Tiefe seines edlen Herzen eingegeben: „Beim Heiligen Schwarzen Mond schwöre ich: Auch wenn ich alles verlieren sollte, was je meins gewesen ist, auch wenn ich dich niemals zu meinem Heim führen sollte, und auch wenn ich dabei mein eigenes Leben hingeben müsste, Prinzessin Smaragdauge, ich werde dich lebend aus dieser Höhle heraus bringen und nichts unversucht lassen, damit du unversehrt aus diese Sache heraus kommst, das schwöre ich bei meiner Ehre. Die Sieben Elfen seien meine Zeugen.“ Die Sieben Elfen nickten zur Bestätigung. Die Weise Waldeule tat es ihnen gleich.

Wiederum wusste der Ritter ganz genau, was weiter zu tun sei, als habe er irgendwo, tief in seinem Inneren, das Szenario dieses Tages gelesen. Mit der Spitze seines Schwertes berührte er die Mitte des Brunnendeckels und hob anschließend sein Schwert langsam an. Immer weiter sangen die Sieben Elfen ihren Gesang. Und während das Schwert des Ritters allmählich in die Höhe ging, folgte der zentnerschwere einstige Mühlenstein langsam dieser Bewegung, als sei er an ihn gefesselt. Immer höher stieg die Spitze vom Schwert und ebenso hoch erhob sich der Mühlenstein in die Luft. Bis er gut anderthalb Meter über dem Brunnenrand zum Stillstand kam. Wieder nickten die Sieben Elfen und wieder tat die Weise Waldeule es ihnen nach.

Nun schickte Ritter Trottelbein sich an, den Brunnenschacht zu betreten, dessen erstaunliche Tiefe er mittlerweile in Augenschein genommen hatte. Während die Elfen weiter sangen, hob die Weise Waldeule einen Flügel und sagte: „Das Schwert kannst du hier oben lassen. Du wirst es dort unten nicht brauchen. Niemand wird dich dort angreifen. Es würde dich nur behindern. Ich passe darauf auf.“

„Danke“, sagte der Ritter. Er schaute noch einmal in die Runde der Sieben Elfen, die ihn ihrerseits ermutigend anblickten, und stieg über den Brunnenrand, um sich in die Tiefe abzuseilen, während der Gesang der Sieben Elfen ihn wie ein schützender Mantel begleitete.

Obwohl die ganze Angelegenheit des ritterlichen Herbeieilens, des Herbeirufens der Sieben Elfen, der Elfengesang und das Öffnen des Brunnenschachtes, nur wenige Minuten in Anspruch genommen hatten, wobei es dem Ritter wie eine Ewigkeit vorgekommen war, hatte das fortdauernde Schnarchen des schlafenden Drachen unaufhörlich weiter auf die Prinzessin eingewirkt.

Prinzessin Smaragdauge hatte voller Schrecken gespürt, wie die Lähmung ihrer Gliedmaßen sich stets weiter in ihrem Körper ausbreitete. Zunächst waren nur das der Höhle zugewandte Bein und der entsprechende Arm betroffen gewesen. Weil sie sich nicht direkt innerhalb der Höhle aufhielt, wo die Interferenzen des vom Schnarchen des Drachen verursachten tiefen Dröhnens am stärksten und deshalb auch unverzüglich tödlich waren, schritt die Lähmung ihrer Gliedmaßen eher langsam, aber dennoch unaufhörlich voran. Zum Glück wirkten sich die Schallschwingungen im Seitengang der Höhle nicht unmittelbar versteinernd, sondern zunächst nur lähmend aus. Aber es war der Prinzessin sonnenklar, dass es ihren baldigen Tod bedeuten würde, wenn die fortschreitende Lähmung nicht mehr nur ihre Gliedmaßen, sondern auch ihren Rumpf und somit bald wohl auch ihr Herz befallen würde.

Prinzessin Smaragdauge versuchte, um Hilfe zu rufen. Aber ihre Stimmbänder waren bereits angegriffen und es kam nur ein heißeres Stöhnen aus ihrer Kehle. Sie bemühte sich, vom Eingang zur großen Höhle weiter weg zu kommen. Sie versuchte ihre Beine gegen die Wand des Seitenstollens abzustützen, um die geringe Kraft, die ihr geblieben war, zu nutzen. Es war vergebens. Die Stollenwand war so glatt, dass sie mit dem Fuß nicht den geringsten Grip darauf bekam. Sie kam kaum einen Millimeter weiter.

Prinzessin Smaragdauge fluchte nachdrücklich. Wozu, zur Hölle, hatte sie seit Jahren dreimal wöchentlich Kickboxen bis zum Umfallen trainiert und zum Ausgleich regelmäßig noch etliche andere Sportarten ausgeübt, die ihren Körper an allen entscheidenden Stellen bestens gestählt hatten, wenn sie jetzt nicht einmal mehr in der Lage war, sich kriechend außerhalb des Einflussbereichs der tödlichen Schallwellen zu schleppen. Dabei könnte sogar eine veritable Prinzessin die Krätze kriegen. Sie hatte nicht die Absicht, ihr Leben als hübsche aber leblose Granitskulptur in der Höhle eines pennenden Drachen zu beenden. „Nicht mit mir“, krächzte sie und versuchte immer wieder mit Händen und Füßen irgendwie Halt an der glatten Wand und auf dem ebenso glatten Fußboden zu bekommen. Aber weil sie kaum noch Gewalt über ihre Gliedmaßen hatte und schon gar keine Kraft mehr damit ausüben konnte, kam sie allenfalls millimeterweise voran. Wobei ihre Mühen sie zu alledem auch noch derart anstrengten, dass sie bald zu erschöpft war, um überhaupt noch einen Finger zu rühren.

Zum Zeitpunkt, an dem Ritter Trottelbein in den Brunnenschacht einstieg, war Prinzessin Smaragdauges Zustand katastrophal. Die Lähmung hatte beide Seiten, sowohl die Arme als auch die Beine ergriffen, so dass die arme Prinzessin sich wirklich nicht mehr rühren konnte. Die Atmung ging bereits äußerst schwerfällig und der Herzschlag war, trotz des enormen Adrenalinausstoßes, bereits leicht verlangsamt. Auch die Gesichtszüge waren bereits erschlafft und ihre Lippen waren nicht mehr in der Lage, ein halbwegs verständliches Wort zu formen. Sie lag hilflos und äußerlich scheinbar lethargisch auf den Boden, während es in ihr brodelte und kochte, was sie aber nicht mehr auszudrücken vermochte. So fand Ritter Trottelbein sie vor: ein Häufchen scheinbar teilnahmsloses Elend, mit vor Zorn und Entsetzen blitzenden Augen.

Ritter Trottelbein trat an sie heran und versuchte herauszufinden, wie ihr Zustand war. Es beruhigte ihn, zu sehen, dass sie offenbar keine äußeren Verletzungen hatte. In den wenigen Minuten, in denen sie auf die Sieben Elfen gewartet hatten, war der Ritter von der Weisen Waldeule darüber informiert worden, weshalb ein schlafender Drache für die Prinzessin so gefährlich war, und was ihr dabei blühen könnte. Deshalb wunderte er sich auch kein bisschen, sie bewegungslos am Boden des Stollens vorzufinden. Er war aber sehr froh, dass sie noch am Leben war.

Er kniete neben der Prinzessin und sagte: „Hi, Prinzessin, du hast dich für die Verhältnisse gut gehalten. Keine Sorge, ich bringe dich hier raus.“

Die Prinzessin wollte „Mach hinne“ sagen, brachte aber nichts anderes als ein krächzendes „Waiiiiii“ raus.

„Hast du Schmerzen?“, fragte der Ritter.

„Wööööö“, stöhnte die Prinzessin.

„Willst du versuchen, selbst zu gehen? Ich kann dich auf die Füße stellen“, versuchte der Ritter es noch einmal.

„Uwehääääjiii!“, quakte die Prinzessin, was soviel wie „Untersteh dich“ heißen sollte.

„Okay“, sagte der Ritter, „die Zunge will offenbar auch schon nicht mehr so recht. Mach dir mal keine Sorgen, Prinzessin, das haben wir gleich. Kannst du mit den Wimpern klimpern?“. Die Prinzessin klimperte dreimal mit den Wimpern. „Super“, sagte Ritter Trottelbein, „bei Ja klimperst du zweimal, bei Nein viermal, Okay?“. Smaragdauge klimperte zweimal. „Perfekt“, bestätigte der Ritter, „ich werde dich jetzt mal aus dem Einwirkungsbereich von diesem blöden Schnarcher bringen. Danach wird es leichter werden.“

Das war das letzte Mal an diesem Tag, dass er sich leichtfertig dazu äußerte, wie flott er die Prinzessin aus der Gefahrenzone herauszuschaffen in der Lage wäre. Denn als er versuchte, die Prinzessin an den Schultern anzuheben, um sie sich kurzerhand über den Rücken zu legen und mit ihr auf dem schnellsten Weg aus dem Stollen hinaus zu marschieren, spürte er, dass seine Arme weit weniger Kraft zu haben schienen, als er das von seinem Kampfunterricht her gewohnt war.

„Verflixt“, nörgelte er, „der hat mich auch schon am Wickel. Das müssen wir anders machen. Warte, ich schiebe dich erst mal ein wenig von der Höhle weg, dann wird es besser gehen.“

„Wiiiiiii!“, krächzte die Prinzessin, obwohl sie „Niiiicht“ schreien wollte. Sie ahnte Fürchterliches.

Der Ritter trat hinter sie, um sie ein wenig über den Boden in die Richtung des Brunnenschachtes schieben zu können. Aber erstens bekam er mit den Füßen, genau so, wie die Prinzessin zuvor, nur wenig Halt an der Felswand und auf dem Fußboden, so dass er kaum Kraft auf ihren Körper übertragen konnte. Und dann rutschte ihm auch noch der linke Fuß aus, der für einen winzigen Augenblick direkt in die Höhle ragte. Mit der Folge, dass dieser Fuß auf der Stelle derart stark gelähmt und verhärtet wurde, dass Ritter Trottelbein ihn später beim Schwertkampf nie wieder so richtig als Standfuß würde einsetzen können.

„Ups!“, sagte der Ritter, „das sollte ich besser nicht noch einmal machen, sonst hat es sich wohl ausgekämpft.“

„Wöööba“, quakte die Prinzessin, die eigentlich „Blödmann“ sagen wollte und offenbar dabei war, die ihr mühsam anerzogenen Manieren einzubüßen.

Wegen seines Fußes vor den üblen Folgen gewarnt, die es haben konnte, wenn er unversehens ein weiteres Mal eine seiner Gliedmaßen in die Höhle ragen ließe, sprang der Ritter nun mit einem einzigen Satz über die Prinzessin hinweg, um sie von der anderen Seite wegziehen zu können. Das war zumindest seine Absicht und unter normalen Umständen hätte er das auch locker geschafft. Nicht so hier. Obwohl er für sein Gefühl zu einem überaus hinreichenden Sprung angesetzt hatte, landete er in voller Länge oben auf der am Boden liegenden Prinzessin. Was der Unglücklichen den krächzenden Ausruf „Iiijiooooo!“ entlockte. Da die gequälte Prinzessin damit den allerletzten Rest ihrer noch verbliebenen höfischen Erziehung aufgab, wollen wir lieber darauf verzichten, das hier auch noch übersetzen zu wollen.

Immerhin hatte der Ritter mit diesem missratenen Sprung nun einen etwas festeren Halt unter seinem Körper. Was ihm aber alles andere als recht war, denn es gehörte sich für einen wohlerzogenen Retter einer Prinzessin aus bestem Hause absolut nicht, welche ausgewählten Methoden der Errettung er bei seiner mühsamen Aufgabe auch anzuwenden gedächte, sich längs über sie zu werfen. Ein wenig Anstand sollte schon gewahrt bleiben, Drache hin oder Schnarchen her. Weshalb Ritter Trottelbein sich sehr beeilte, so schnell er es irgendwie fertigbringen konnte, vom Körper seiner Angebeteten fort zu kommen. Was wiederum auch dazu führte, dass er nun auch wieder etwas weiter aus dem Wirkungsbereich der lähmenden Schallwellen geraten war. Die Prinzessin zog es vor, die Tatsache, dass sie ohne das zusätzliche Gewicht eines Ritters auf dem Rücken, nun auch wieder etwas freier atmen konnte, nicht näher zu kommentieren.

Durch seine bisherigen Rückschläge zu einer mäßigeren Arbeitsweise gemahnt, begann der Ritter nun, Prinzessin Smaragdauge an den Schultern vorsichtig in die Richtung des Brunnenschachtes zu ziehen. Das war außerordentlich mühsam, denn sein Körper war nach wie vor nicht unerheblich von der lähmenden Kraft der Schallwellen beeinträchtigt. Aber er gab sich alle nur erdenkliche Mühe, die Prinzessin schnellstmöglich von der Höhle des Drachen fortzubringen. Ihm war nur allzu klar, dass die ihm anvertraute Königstochter nur geringe Überlebenschancen hätte, sollte sie sich noch längere Zeit dort aufhalten. Und ihm war sein vor wenigen Minuten aus ganzem Herzen geleisteter Schwur heiliger Ernst. Er würde sie hinaus bringen und ihr das Leben retten, egal was es ihm abverlangen würde. So viel war mal sicher.

Wigolant

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