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Eine Prinzessin in der Bredouille

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Der nach dem Genuss einer weiteren Schale Tee von Mäuschen Klapperhut schleunigst fortgesetzten Erzählung zufolge, hatte sich in der Drachenhöhle mittlerweile wenig verändert. Außer der Tatsache, dass Gharok die wartende Prinzessin Smaragdauge in ein lockeres Gespräch über einige für den Alltag in der Drachenhöhle weiß Gott belanglose Details der heurigen Obsternte im Gersprenztal verwickelt hatte, zu dem einzigen Zweck, ihre Aufmerksamkeit davon abzulenken, dass er sich nach und nach schlückchenweise den verbliebenen Kirschgeist einverleibte.

Der Prinzessin war Gharoks Ansinnen zwar keineswegs verborgen geblieben, da sie die anziehende Wirkung der Erzeugnisse des örtlichen Brennmeisters auch gelegentlich bei ihrer alten Amme hatte beobachten können. Sie hatte es jedoch vorgezogen, mangelnde Aufmerksamkeit zu simulieren, um den ihr unheimlichen Troll nicht zu verärgern. So kurz vor Abschluss des bis dahin absolut nach Wunsch verlaufenden Plans wollte sie keinen Eklat riskieren. Was allerdings zur Folge hatte, dass die fortschreitende Vernebelung von Gharoks Hirntätigkeit nicht nur den Torwächtern, sondern vor allem auch dem Drachen Wigolant verborgen blieb. Und das sollte sich recht bald als fataler Fehler herausstellen.

Zu dem Zeitpunkt, als der designierte Retter mit seinem schweren Ackergaul nur noch eine kurze Strecke bis zur Lichtung vor dem Eingang zur Drachenhöhle zurückzulegen hatte, war Gharok bereits so angeheitert, dass er in eine regelrecht euphorische Stimmung geraten war. Seine dunklen Trollaugen hatten längst bemerkt, dass die junge Dame, die ihn so großzügig an der Kirschgeistflasche nuckeln ließ, so ungefähr das fescheste Mädel war, das sich seit Trollgedenken in der Drachenhöhle hatte blicken lassen. Ihre Grazie erschien ihm unerreicht, ihre Stimme unbeschreiblich lieblich, ihre Klugheit mehr als bemerkenswert. Die Vorstellung, dieses himmlische Wesen würde alsbald von einem dahergelaufenen Ritter aus der dunklen Drachenhöhle schnurstracks zum heimischen Fernsehsofa geleitet werden, erschien dem Troll unerträglich. Manch eine Prinzessin hatte er mit Bedauern die Höhle verlassen sehen. Aber diese Prinzessin Smaragdauge zum Tor hinaus laufen lassen? Nein, das wäre sogar für einen derart abgebrühten Troll, wie Gharok es war, unerträglich. Das wollte, ja, das musste er verhindern, so wahr er Gharok hieß. Wobei der Troll großzügig darüber hinweg sah, dass „Gharok“ in der alten Drachensprache „der-täglich-mit-seiner-Spucke-meine-Krallen-wienert“ bedeutet. Hüterdrachen pflegen sich eher kurz zu halten.

Gharok musste sich auf der Stelle etwas einfallen lassen, wenn er nicht zusehen wollte, dass das Objekt seiner tiefsten Sehnsucht ihm binnen weniger Minuten abhanden käme.

Nun muss man wissen, auch wenn Trolle im Allgemeinen und Gharok insbesondere nicht gerade zu den hellsten Geschöpfen des Gersprenztals zählten, so konnte man sich doch darauf verlassen, dass, wenn es darauf ankam, eine fiese Untat auszuhecken, Gharok noch nie lange gefackelt hatte. Schon mal gar nicht unter der euphorisierenden Wirkung einer Pulle besten Kirschgeistes. So schritt er auch jetzt unverzüglich zur schnöden Tat.

Inzwischen hatte Wigolant eine DVD aus einem Regal gefingert und in den DVD-Player geschoben. Die Fernsehsoap hatte ihn gelangweilt und er wollte endlich mal wieder etwas Unterhaltsameres sehen. Seine Wahl war auf „Eragon“ gefallen. Nicht, dass er die Verfilmung dieses Drachenromans so ungeheuer gelungen fand. Auch die Buchvorlage fand er im Grunde etwas albern. Aber die Schönheit des in der Verfilmung auftretenden Drachenweibchens, wenngleich für seinen Geschmack noch etwas allzu stürmisch und naiv, hatte es ihm derart angetan, dass er sich diese DVD bereits zahllose Male reingezogen hatte. Der Drache hatte somit nur noch Augen für den schlanken Hals jenes blau schimmernden Filmgeschöpfes. Was Gharok perfekt ins Kalkül passte.

Gharok wand sich an die Prinzessin Smaragdauge und befahl in seiner gewohnt einsilbigen Art: „Tanzen!“

Die Prinzessin sah ihn verwirrt an: „Sie meinen …?“

„Tanzen!“, wiederholte Gharok. „Bauchtanz!“

„Woher wissen Sie …?“. Die Prinzessin war verblüfft. Wie konnte dieser Troll in Schneewittchens Namen wissen, dass sie sich auf die Kunst des Bauchtanzens verstand? Sie hatte das bei ihrer Unterhaltung mit dem Troll doch mit keinem Wort erwähnt. Außerdem war es sowieso schon eine Ecke her, dass sie dem Bauchtanz gefrönt hatte. Einst war sie darin sogar ziemlich gut gewesen. Und es hatte ihr auch wirklich Spaß gemacht. Aber wann immer sie vor dem riesigen Spiegel im heimischen Ballsaal ihre Figuren geübt hatte, hatte sie beim Anschauen ihres eigenen wippenden und kreisenden Nabels jedes Mal derart lachen müssen, dass sie am Ende immer wieder einen nicht enden wollenden Anfall von Schluckauf bekommen hatte. Deshalb hatte sie den Bauchtanz aufgegeben und sich dem Kickboxen zugewandt. Sie hasste es, einem Hobby nachzugehen, das unter Prinzessinnen gerade ziemlich en Vogue war. Beim Kickboxen war sie sich ziemlich sicher, dass ihr so schnell keine andere Prinzessin nachäffen würde. Aber woher wusste Gharok davon? Sah man es ihr etwa an? Um Himmels willen, nicht doch!

„Woher wissen Sie …?“, wiederholte die Prinzessin.

„Unterschätze niemals einen Troll!“, fauchte dieser nur. Er wies mit seinem krummen Zeigefinger auf die Mitte der großen Höhle und wiederholte, diesmal etwas bedrohlicher: „Tanzen!“

Prinzessin Smaragdauge ging zögerlich auf die Mitte der Höhle zu, zog sich die Wanderschuhe und Wollstrümpfe aus, so dass sie nun barfuß auf dem glattpolierten Höhlenboden stand, drückte ihren dreiviertellangen, weiten, nachtblauen Rock aus feinstem Leinen ein wenig über die Hüften hinunter, zog das lindgrüne, mit hellblauen thailändischen Schriftzeichen bedruckte T-Shirt aus, unter dem sie lediglich ein schlichtes, aber elegantes, zum Rock passendes Top trug und band sich die hüftlangen flachsblonden Haare los, die sie am Morgen zum Zwecke der bequemeren Errettung zu einem einfachen Zopf geflochten hatte. Dann schaute sie sich nach Gharok um, in der Hoffnung, dass ihr behelfsmäßiges Outfit ihm genügte. Dieser nickte nur kurz, machte ein seltsam kreisendes Zeichen in der Luft und lehnte sich bequem an die Wand.

Auf Gharoks Handbewegung hin erklang aus dem Nichts leise eine lebhafte arabische Melodie, die wie für den Bauchtanz geschaffen war. Gharok kannte sich offenbar bestens aus. Woher diese Melodie erklang, konnte die Prinzessin nicht erkennen, aber bei dem, was sie oben am Eingang des Brunnens gesehen hatte, wunderte sie sich ohnehin kaum darüber, dass Gharok auf sein Zeichen hin auch Musik erklingen lassen konnte.

Prinzessin Smaragdauge begann sich langsam in den Rhythmus der Musik einzustimmen. Vorsichtig ließ sie ihre Hüften eine langsame kreisende Bewegung machen. Dabei behielt sie Gharok scharf im Auge, ständig darauf gefasst, dass dieser sich mit entfesselten Gelüsten auf sie werfen würde. Wenn das der Fall sein sollte, würde sie ihre Haut teuer verkaufen, da konnte der Troll gefasst drauf sein. Wenn er ihr auch nur ein Haar krümmen sollte, würde sie ihm weit mehr als nur das krümmen, soviel war mal sicher.

Ihre Sorgen waren völlig unbegründet. Gharok war keineswegs darauf aus, sich auf sie zu werfen oder ihr, in welcher Weise auch immer, zu schaden. Ganz im Gegenteil. Denn Gharok war nicht etwa ein alter Lüstling, der sich an jungen Frauen verging. Gharok war ein Sammler und lediglich darauf aus, die Prinzessin seiner kleinen aber exklusiven Sammlung prachtvoller und formvollendeter Kostbarkeiten hinzuzufügen, die er in der entferntesten verborgenen Ecke der Drachenhöhle, für seinen Meister völlig unzugänglich, schon vor Jahrhunderten heimlich eingerichtet hatte. Wobei er sich, aufgrund seines Zustandes fortgeschrittener Alkoholisierung, freilich noch keinerlei Gedanken darüber gemacht hatte, wie er dieses zerbrechliche Geschöpf denn am Leben würde halten können. Weitblick gehörte nicht unbedingt zu Gharoks hervorstechenden Eigenschaften. Im Augenblick war sein Verstand ohnehin mit diesem einen Gedanken ausgefüllt: „Ich will sie haben, koste es, was es wolle.“

Dem Drachen Wigolant war es selbstverständlich nicht entgangen, dass Gharok sich hin und wieder aus seinem gewaltigen Schatz bediente. Aber er ließ ihn gewähren, in der kühlen Sicherheit, dass es Gharok ohnehin nie gelingen konnte, auch nur den winzigsten Gegenstand seiner Sammlung aus der Höhle zu schmuggeln, ohne dass Wigolant dessen hinterhältige Absicht bereits Tage im Voraus gerochen hätte. Auch jetzt spürte Wigolant, dass in Gharoks völlig vernebeltem Verstand etwas ziemlich Verlogenes vorging. Es erschien dem Drachen allerdings so verworren, dass er glaubte, dem keinerlei Bedeutung beimessen zu müssen. Bislang war bei dem, was Gharok gelegentlich im Suff ausgeheckt hatte, ohnehin noch nie etwas anderes als dämlicher Bockmist herausgekommen, über den Gharok sich anschließend noch wochenlang zutiefst geschämt hatte. Auch uralte Schutzdrachen können sich irren.

Die in der Höhle erklingende Musik war inzwischen etwas flotter geworden, weshalb Prinzessin Smaragdauge bei ihrem geschmeidigen Bauchtanz einen Zahn zugelegt hatte. Sie wiegte und schlängelte mit dem ganzen Körper hin und her, wirbelte immer wieder blitzschnell um die eigene Achse, um dann wieder mit zitterndem Becken stehen zu bleiben, wobei ihr Bauchnabel hoch und runter wippte wie ein Flummi.

Im Grunde fand sie es ganz nett, sich die Zeit ein wenig mit Bauchtanz vertreiben zu können, denn der Small Talk mit diesem dämlichen Troll war ihr doch allmählich auf die Schnürsenkel gegangen. Und er schien sie in Ruhe lassen zu wollen. Dementsprechend nahm sie dann auch an, Gharok hätte sie wohl doch lediglich zwecks Unterhaltung seines Meisters zum Tanzen verdonnert. So gab sie sich vergnügt dem Tanze hin und überließ sich ganz der berauschenden Musik. Was Gharok sehr gefiel, denn er war sich sicher, dass bei einem solch hingebungsvollen Bauchtanz sein perfider Plan gar nicht misslingen konnte.

Der Drache Wigolant hatte seine DVD zu Ende geschaut und verweilte mit den Gedanken noch bei der angebeteten blassblauen Filmschönheit, als seine verträumten Augen auf die tanzende Prinzessin fielen. Wie es Gharok vorhergesehen hatte, wurde Wigolant auf der Stelle derart magisch von Prinzessin Smaragdauges wippendem und kreisendem Nabel angezogen, dass es ihm völlig unmöglich war, seinen Blick wieder davon abzuwenden. Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Als einst, vor nunmehr bereits zwölf Jahrhunderten, Gharok sich anschickte, seinen Frondienst beim Drachen Wigolant aufzunehmen, wie es seit undenkbaren Zeiten bei jedem dreizehnten Sohn einer jeden dreizehnten Generation seiner Familie Ehrensache war, nämlich den Schutzdrachen dreizehn Jahrhunderte lang zu dienen, hatte ihn sein Vorgänger im Frondienst, namens Chrögblich, kurz beiseite genommen und ihm das älteste geheime Geheimnis der Familie anvertraut. Ein Geheimnis, das nur vom jeweils vom Frondienst ausscheidenden Troll an seinen Nachfolger mündlich weitergegeben werden durfte. Sollte Gharok jeweils die Nase vom Drachen Wigolant voll haben und seinen Dienst vorzeitig quittieren wollen, gäbe es lediglich eine einzige Möglichkeit, ihm für alle Zeiten zu entkommen.

Gharok solle eine junge Prinzessin beim Rettungsritual vor den Augen des Drachen einen Bauchtanz aufführen lassen. Sobald die Augen des Drachen auf den Nabel der Tänzerin fielen, würde der Drache auf der Stelle von dessen Bewegungen hypnotisiert werden und in einen tiefen, viele Jahre anhaltenden Schlaf versinken. Dem Troll bliebe dann wohl reichlich Zeit, um seine dreizehn Sachen zusammenzuraffen und sich aus dem Staub zu machen.

Diesen Zauber habe, Chrögblich zufolge, dem Fetten Trollgott sei ‘s gelobt und gepfiffen, zwar seit Jahrtausenden kein einziger Troll anwenden müssen, aber die Wirksamkeit sei so verbürgt, wie ein geheimer Trollzauber nur sein konnte. Da könne gar nichts schief gehen.

Als Gharok am späten Nachmittag diesen Tages die Vergangenheit der Prinzessin in ihrem Geist pflichtgemäß durchforscht hatte, um sicherzugehen, dass es sich A ohne den geringsten Zweifel um eine veritable Prinzessin und nicht etwa lediglich um ein zwar bildhübsches, aber dennoch gewöhnliches Boxenluder handelte und B sie sich nicht irgendwann in ihrem bisherigen Leben bereits einmal anderweitig hatte erretten lassen – ein solches Lotterleben konnte von keinem Schutzdrachen, der etwas auf sich hielt, geduldet werden – war er beiläufig auf die Bauchtanz-Vergangenheit der Prinzessin Smaragdauge gestoßen. Selbstverständlich war ihm dabei das alte Trollgeheimnis eingefallen.

Von der alten Erinnerung, über einen ordentlichen Vollsuff mit entsprechend verdrehten Fantasien bis zum hinterhältigen Vorhaben, hatte der Troll anscheinend kaum mehr als eine knappe Stunde gebraucht. Als Gharok dann noch feststellte, dass der Drache sich einmal mehr von der computersimulierten Drachendame der Eragon-DVD fesseln ließ, stand sein dreister Entschluss fest: Dieses Mal würde er, Gharok, mit der Prinzessin und seinen gesammelten Habseligkeiten im Schlepptau, als Sieger die Höhle verlassen. So wahr er Gharok hieße.

Soweit der Plan. Aber, wie jedermann weiß, liegen zwischen hinterrücks geschmiedeten Plänen und deren erfolgreicher Durchführung mitunter ganze Galaxien. So auch hier.

Der Zauber gelang jedenfalls insofern zur vollen Zufriedenheit des Trolls, als der alte Schutzdrache Wigolant nach wenigen Sekunden des hypnotisierten Anstarrens von Prinzessin Smaragdauges appetitlichem Bauchnabel, tatsächlich mit weit aufgerissenen, aber ansonsten völlig regungslosen Augen einschlief. So weit, so gut. Um sicherzugehen, dass Wigolants Schlaf tief genug sei, ließ Gharok die Prinzessin noch einige Minuten weitertanzen. Der Drache regte sich auch dann keinen Millimeter mehr, wenn der Troll ihm versuchshalber ein paar Krallen mit guter Butter wienerte, deren Geruch, wie Gharok wusste, Wigolant ums Verrecken nicht ausstehen konnte. Der Troll war sich sicher, dieser Drache würde sich über viele Jahre nicht mehr regen. Gharok konnte in aller Ruhe seine Sammlung eintüten und mit der Prinzessin das Weite suchen. Gesagt, getan.

Der Troll stellte mit einem Wink die Musik ab, hieß die Prinzessin, sich wieder reisefertig anzuziehen und am Stolleneingang auf ihn zu warten. Es habe sich wegen Wigolants leidiger Angewohnheit, hin und wieder unvermittelt einzuschlafen, eine Kleinigkeit am Rettungsritual geändert, log er die Prinzessin unverfroren an. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen, er käme gleich nach.

Selbstverständlich wunderte sich Prinzessin Smaragdauge nicht wenig. Ihre Amme hatte den weiteren Verlauf der Rettung durch ihren erwählten Ritter in allen Details geschildert. Es sollte, dem vorgesehenen Ritual zufolge, alsbald ein beherztes Klopfen auf dem gewaltigen Tor erfolgen, das unüberhörbare Zeichen, dass Ritter Trottelbein angekommen und für die Konfrontation mit dem Drachen gerüstet sei. Eine kleine Armee von Trollgehilfen würde das Tor auf seinen riesenhaften Angeln weit öffnen und der Ritter würde steifbeinig und leichenblass, wie es sich bei einer geordneten Rettung geziemt, samt Ross und Schatz, die Höhle betreten. Daraufhin würde der Schutzdrache sich gelangweilt nach des Ritters Begehr erkundigen. Woraufhin der Retter aus höchster Not dem Drachen den vereinbarten Schatz vor die Klauen pfeffern würde. Na ja, oder so ähnlich, das hing wohl auch ein bisschen vom Umfang des Schatzes und den Leibeskräften des Retters ab. Jedenfalls würde der Ritter mit gefestigter Stimme die unverzügliche Herausgabe seiner, vom Drachen in dessen finsteren Höhle festgehaltenen, ihm vom König höchstselbst gelobten Braut fordern. Dem weiteren Ritual zufolge sollte der Drache darauf in Wortlaut und mit dröhnender Stimme erwidern: „Nicht so hastig, mein junger Freund. Dieses schöne Kind ist immerhin aus ihrem freien Willen zu mir geeilt, weil sie sich verlaufen hat und des Schutzes bedurfte. Dieser Schutz wurde ihr gewährt. Wenn du sie also zur Braut haben willst, wird es nicht genügen, mir einige Klunker zu überlassen, von denen ich sowieso mehr als genug habe. Du wirst um sie kämpfen müssen.“ Woraufhin die Prinzessin einen silbern klingenden Schrei (den sie vorsorglich am Vorabend eingeübt hatte) von sich geben, sich die Hände vors Gesicht schlagen und pflichtgemäß mit einer leichten Kreislaufschwäche zu Boden sinken würde. Die Amme hatte ihr eingebläut, sie solle beim weiteren Geschehen besser nicht hinsehen und die Augen fest verschlossen halten. Was nun geschah, sei nichts für schwache Nerven. Allerdings hatte Prinzessin Smaragdauge sich fest vorgenommen, sich rein gar nichts vom weiteren Geschehen entgehen zu lassen und wenn es sein müsste, ihrem Ritter kurzerhand zur Hilfe zu eilen. Sie hätte zwar keinerlei Anlass, an den versierten Kampfkünsten ihres Retters zu zweifeln, immerhin erteile er seit Jahren Kampfunterricht für fortgeschrittene Recken. Aber ein gezielt platzierter Tritt aus der Prinzessin Kickboxpraxis könnte ihn in der einen oder anderen kritischen Situation womöglich etwas entlasten. Sie hatte sich dabei felsenfest vorgenommen, ihm auch im späteren Eheleben wirklich nie-nie-niemals vorzuhalten, er hätte bei der Rettung seiner Braut ihrer Hilfe bedurft. Jedenfalls würden, der Amme zufolge, alsdann heftige Kampfgeräusche mit dem dazu passenden Geschrei und Getöse zu hören sein. Nach angemessener Zeit würde sie ein tiefes Röcheln des Drachen vernehmen. Ihr tapferer Retter würde zu der Prinzessin eilen, ihre vorsorglich herausgepressten Tränchen mit seinem männlich duftenden Taschentuch abtupfen, sie mit beiden Händen aufrichten, ihr mit einer großzügigen Geste geschickt den eigenen Mantel umlegen und sie dann zum in einer riesigen Blutlache darniederliegenden Drachen führen. Die zahlreichen Trollgehilfen hätten während des Kampfes für jede Menge breite Spritzer dickflüssigen Theaterblutes zu sorgen. Der alte Drache würde, dem Ritual zufolge, stöhnend die befreienden Worte „Gehet hin zum schützenden Heim deines Retters, er hat es wohlverdient“ flüstern und anschließend sein (bis zur nächsten Prinzessin) einstweilen letztes Röcheln von sich geben. Noch während des Kampfes hätte Gharok den mitgeführten Schatz in Augenschein zu nehmen, um sicherzustellen, dass er der vom Drachen vorgegebenen Menge entsprach. Erst wenn der Troll sich davon überzeugt hatte, würde er mit einem kurzen Kopfnicken zu verstehen geben, dass das Paar sich auf den Heimweg machen konnte. Was sie ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, unverzüglich zu tun hätten. Die in der Höhle nötigen Aufräumarbeiten würden wohl von der des Drachen fleißigen Helfertruppe erledigt werden müssen. Damit alles seine Ordnung hatte, würde als Letztes, nach Verlassen der Höhle, das gewaltige Tor mit einem ohrenbetäubenden Krachen hinter ihrem Rücken zuknallen. Erst dann wären sie wirklich frei und konnten ihres Weges gehen.

So und nicht anders hätte die Rettung der Prinzessin Smaragdauge stattfinden müssen, wäre sie nach den uralten Gepflogenheiten endloser adliger Geschlechtergenerationen und im besten Einvernehmen mit dem stets seine schützende Klaue über deren heiratswilligen Sprossen haltenden alten Drachen verlaufen. Aber so sollte es offenbar nicht kommen. Der Drache war eingepennt. Also echt, was waren das für Sitten, fand die Prinzessin, nicht ganz zu unrecht. Eine derartige Schlamperei konnte man dem Drachen wirklich nicht durchgehen lassen. Auch wenn die Prinzessin Smaragdauge im Großen und Ganzen nicht viel Wert auf das ganze Traditionsgedöns ihrer Familie legte. Eine veritable Prinzessin hatte Anspruch auf eine tadellose Rettung. Das war wohl das Mindeste, was sie erwarten konnte. Immerhin hatte ihr Vater dafür ein hübsches Sümmchen hingeblättert. Es würde eine deftige Beschwerde geben, da konnte Wigolant sich drauf verlassen. Wenngleich sie noch nicht wusste, welche Beschwerdestelle für Schlampereien bei der Drachenrettung zuständig war.

Als Gharok mit der wertvollen Kunstsammlung aus seinen verborgenen Gemächern zurückkam – die Sammlung ließ er bequemlichkeitshalber hinter sich herschweben – und noch einmal kurz bei Wigolant nachschaute, ob dieser wirklich fest schlief, hatte Prinzessin Smaragdauge, die wie geheißen am Eingang des zum Brunnenschacht führenden Stollen auf Gharok wartete, gerade die Nasenflügel in angemessener Empörung aufgebläht, um einem zufällig vorbeilaufenden, an der Sache völlig unschuldigen Troll den Marsch zu blasen, was das hier für eine Schlamperei sei. Dazu kam sie allerdings nicht mehr, denn ganz plötzlich ereignete sich etwas, das Gharok überhaupt nicht vorhergesehen hatte und seinen schönen Plan gründlich ruinierte.

Wigolant war bei der Bauchtanz-Hypnose ganz tief eingeschlafen. Soviel hatte der Troll erwartet. Aber dass ein tief schlafender Drache schnarchen könnte, daran hatte der Troll nicht gedacht. Und wenn er daran gedacht hätte, wäre es ihm wohl völlig egal gewesen, da er die daran geknüpften Folgen nicht ahnen konnte. Auch keine seiner Vorgänger hätte es erahnen können. Denn niemals hatte irgendein Troll bei seinem Frondienst den alten Schutzdrachen je schlafen gesehen. Von schnarchen gar nicht zu reden. Schutzdrachen genügte es, zur Erholung von ihrem ohnehin nicht sonderlich anstrengenden Tagewerk, einfach eine Weile nichts zu tun. Und das taten sie ausgiebig. An Schlaf hatten sie schlicht keinen Bedarf. Und hätte einer von ihnen jeweils das Schnarchen des Drachen erlebt, hätte er es ohnehin nicht weitererzählen können.

Es war den Drachen sehr wohl bekannt, dass sie hypnotisiert und dadurch zum Schlaf gezwungen werden konnten. Aber es kümmerte sie nicht im Geringsten. Denn auch im Schlaf waren sie alles andere als wehrlos. Sie verfügten über einen außerordentlich wirksamen Schutzzauber. Sie schnarchten.

Das Schnarchen der Schutzdrachen war allerdings nicht ein gewöhnliches Schnarchen, so wie wir es etwa aus dem elterlichen, beziehungsweise ehelichen Schlafzimmer kennen und das den Angehörigen nachhaltig am Schlaf hindert. Des Drachen Schnarchen verfügte über die akustischen Schwingungen eines Erdbebens der Stärke vier bis fünf auf der bekannten Richterskala. Weshalb es gemeinhin auch mit einem solchen verwechselt wurde. Nur wenige Lebewesen waren dazu imstande, das Schnarchen eines Schutzdrachen von einem mittelschweren Erdbeben zu unterscheiden. Und jene Wenigen, die es als das zu erkennen vermochten, was es war, wussten auch, was es bedeutete: dass der Drache hypnotisiert worden war.

Allerdings führte die Tatsache, dass Wigolant zu schnarchen anfing, noch keineswegs dazu, dass Gharok sich Sorgen machte. Der Troll kannte Erdbeben und wusste, dass die Drachenhöhle absolut erdbebensicher gebaut worden war. Er glaubte, dass Drachen ihre Höhle erdbebensicher bauen ließen, damit ihnen die Decke nicht eines Tages auf den Kopf fiele. Und hatte keinerlei Ahnung davon, dass die einstigen Baumeister, die Zwerge, die Höhle insbesondere deshalb erdbebensicher bauten, als Schutz für den äußerst seltenen Fall, wie er heute eingetreten war: das Schnarchen des Drachen selbst.

Nicht einmal das zu wissen, hätte den Troll in irgendeiner Weise beunruhigen können. Was sollte es denn für einen Unterschied machen, ob das tiefe Dröhnen nun von einem Erdbeben oder vom Schnarchen des Drachen kam, so hätte er gedacht. Soll der Drache doch schnarchen. Doch da hätte er sich gewaltig geirrt. Denn das Schnarchen des Drachen hatte nicht nur die Funktion, die Eingeweihten in der Umgebung der Höhle zu warnen. Vor allem hatte es die Eigenschaft, dass alle Lebewesen, die sich innerhalb der Höhle befanden, durch die tiefen Schwingungen des Schnarchens und der, wegen der Akustik der glockenförmig gebauten Drachenhöhle sich aufbauenden Schallinterferenzen, auf der Stelle versteinert wurden. Was dann auch augenblicklich eintraf.

Gharok, der beim ersten Schnarchgeräusch unmittelbar neben dem schlafenden Drachen stand, wurde von einer Sekunde zur anderen in einen völlig unbeweglichen Troll aus massivem Granit verwandelt. Die hinter ihm her schwebende Sammlung erlesener Kostbarkeiten fiel klirrend zu Boden, wobei leider einiges zu Bruch ging, wie der Drache Wigolant viele Jahre später mit Bedauern zur Kenntnis nehmen sollte.

Auch der gesamte Tross von um die hundert Trollhelfern verwandelte sich innerhalb weniger Sekunden nach und nach in eine Granitarmee, ähnlich den chinesischen Lehmsoldaten im Pekinger Nationalmuseum.

Auch Prinzessin Smaragdauges Lage war alles andere als rosig. Wenngleich sie zu Anfang des Schnarchens nicht mehr unmittelbar in der großen Höhle, sondern bereits im schmalen Eingang des Stollens gestanden hatte, der zum Brunnenschacht führte, und die tödlichen Schallwellen sie daher nicht mehr ganz so direkt erreichen konnten, spürte sie, wie ihr plötzlich die Füße einschliefen.

Sie ruderte schwerfällig mit den Armen, um das Gleichgewicht zu erhalten, aber hatte das unangenehme Gefühl, nicht mehr so recht Meister ihrer Bewegungen zu sein. Erschrocken blickte sie in die Höhle und stellte mit Entsetzen fest, dass sämtliche sich dort befindenden Trolle, einschließlich Gharok selbst, in äußerst merkwürdigen Haltungen stocksteif erstarrt waren und ihre Hautfarbe, die sonst eher entfernt an einen alten Schulschwamm erinnerte, die Farbe von blaugrau schimmerndem Granit angenommen hatte.

Es dauerte nur einen weiteren Augenblick, bis die Prinzessin begriff: vor ihr standen, anstelle der lebendigen Trolle, in der Tat lediglich noch Granitblöcke in Trollgestalt. Sie bedurfte keinerlei Nachhilfe, um zu begreifen, was die Ursache für die Verwandlung war und dass sie selbst sich in wenigen Minuten ebenfalls in einen Granitblock verwandelt haben würde, wenn sie sich nicht sofort aus der Nähe der Höhle entfernte. Der Schrei des Entsetzens, der ihr unwillkürlich entfuhr, wäre wohl Kilometer im Umkreis zu hören gewesen, hätte sie sich nicht tief unter der Erde, im Epizentrum eines heftig bebenden Odenwälder Hügels befunden.

Wigolant

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