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Eine Prinzessin verschwindet

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Dass der smarte Mäuserich Mäuschen Klapperhut mehr Geheimnisse in der Spitze seines wohlgeformten Schwänzchens aufbewahrte, als er Hüte in seinen randvollen Hüteschrank gestopft hatte, weiß nun wirklich jedes Kind. Denn Geheimnisse aufzubewahren war eine von Mäuschen Klapperhuts Spezialitäten. Dabei waren das nicht irgendwelche banalen Geheimnisse, wie zum Beispiel, wer am vergangenen Freitag das letzte Stück vom Jäger seine Pizza gemopst hatte. Nein, nein, es handelte sich hier um wirklich sehr geheime Geheimnisse. So von der Sorte, die wirklich besser tief verborgen bleiben, will man die Welt nicht in Chaos und Verzweiflung stürzen oder so was.

Eines dieser Geheimnisse war allerdings zuletzt doch etwas weniger geheim geworden. Und wenn nicht Mäuschen Klapperhut höchstselbst mir originalgetreu berichtet hätte, wie es dazu kam, dass einige Personen notgedrungen in dieses Geheimnis eingeweiht werden mussten, würde ich es gar nicht glauben wollen. Das war nämlich so:

Neulich war Mäuschen Klapperhut in seinem Häuschen am Rande des Waldes am Lohberg, auf der östlichen Seite vom oberen Gersprenztal, zweifellos einem der schönsten Täler des hessischen Odenwaldes, mal wieder gemächlich beim Hüteaufräumen. Es war Mittwoch, und Mittwoch war meist Hüteaufräumtag, wenn nicht wieder etwas dazwischen kam. Als er an der Haustür ein behutsames Kratzen vernahm, horchte er auf.

Deftiges auf der Tür Herumtrommeln war nichts Besonderes. Vor allem wenn der Jäger oder der Kleine Wolf in der Nähe waren. Bescheiden an der Tür klopfen bedeutete meist nur, dass der Briefträger langweilige Post zustellte. Aber behutsames an der Tür Kratzen, da roch man doch das heraufziehende Abenteuer förmlich durch die Tür hindurch.

Ameise Pimperle rief auch gleich aus der Küche heraus: „Kannst du mal aufmachen, Mäuschen Klapperhut, es bringt offenbar wieder jemand eine bedeutende Botschaft. Ich habe gerade vier Füße im frischen Spaghettiteig.“

„Ich gehe schon“, brüllte Mäuschen Klapperhut und rannte wie der Blitz zur Tür. Er riss sie auf und sah völlig perplex in die großen, hellen Augen der Weisen Waldeule. Perplex vor allem deshalb, weil die Weise Waldeule eine höchst seltene Besucherin war, die – wenn überhaupt – nur in den frühen Nachtstunden zu erscheinen pflegte. Und das auch nur in besonders finsteren Nächten. Wer tagsüber mit der Weisen Waldeule reden wollte, musste sich für gewöhnlich in den tiefen Wald bei der Ruine der Schnellertsburg begeben, wo sie sich in einem Baumloch, hoch oben in der Laubkrone eines gewaltigen Buchenbaumes verborgen, aufhielt.

„Ach du liebe Güte“, stammelte Mäuschen Klapperhut, „was machst du denn hier um diese Uhrzeit?“

„Oh, welch freundlicher Willkommensgruß“, schnarrte die Weise Waldeule, während sie sich hastig an Mäuschen Klapperhut vorbei in die Diele drängte und zur Küche eilte, wo sie sich keuchend auf ein dünnes Salatblatt stürzte, das sie in drei-vier Happen hinunterschlang.

„Bei allem Respekt, meine liebe Weise Waldeule“, protestierte Ameise Pimperle, „ich lade dich gerne zum Spaghettiessen ein, aber ein höflicher Gruß sollte schon noch drin sein, bevor du mir meinen Salatvorrat wegschnappst.“

„Ich bitte vielmals um Vergebung, Pimperle“, entschuldigte sich die Weise Waldeule, die Ameise Pimperle vor lauter Heißhunger völlig übersehen hatte, „ich war tatsächlich fast am Verhungern. Du musst wissen, ich fliege schon seit Stunden in der Gegend herum, ohne einen Bissen zu mir zu nehmen. Und das auch noch am helllichten Tag. Verzeih mir, bitte. Ein solch rüpelhaftes Benehmen ist sonst wirklich nicht meine Art.“

„Ach du Rattenschwanz und Katzendreck, du siehst ja völlig aufgelöst aus! Bist du etwa in eine Schlägerei mit einer jener Krähen von der Gersprenz-Aue geraten?“, fragte Mäuschen Klapperhut.

„Ach was“, erwiderte die Weise Waldeule. „Diese Taugenichtse werden sich hüten, mir in die Quere zu kommen. Nein, es ist etwas viel Wichtigeres im Gange. Der Brunnen lebt wieder! Verstehst du, Mäuschen Klapperhut? Der Brunnen lebt wieder! Aber lass mich erst einige Minuten zu mir kommen, dann erzähle ich euch die ganze Geschichte.“

Eine Viertelstunde später saßen die drei, von einer großen Portion Spaghetti gesättigt, zufrieden um den Küchentisch, eine Tasse heißen Tee schlürfend, während die Weise Waldeule in aller Ausführlichkeit ihre Erlebnisse des Tages berichtete.

Da die Weise Waldeule ihre überragende Bedeutung für den geordneten Verlauf der Dinge im Wald und auf den angrenzenden Auen niemals aus den Augen verlor, verging gut und gerne eine weitere Viertelstunde, bis alles im Detail dargelegt worden war. Und dabei ging es wahrhaftig nicht um eine Lappalie.

Am frühen Vormittag war die Weise Waldeule unsanft von einigen Tauben aus dem Schlag des Rodensteiner Hofguts mit der alarmierenden Nachricht geweckt worden, aus den Grundfesten der benachbarten Ruine Rodenstein seien seit Stunden heftige Rumpelgeräusche zu hören. Die Rodensteiner Tauben, allesamt weniger als fünf Jahre alt, und entsprechend in völligem Unwissen über die uralten Geheimnisse des Rodensteiner Brunnens, hielten die Geräusche für die Vorboten eines fürchterlichen Vulkanausbruchs.

Die Weise Waldeule war sich sofort darüber im Klaren, dass eine Gefahr drohte, die einem Vulkanausbruch durchaus ebenbürtig werden könnte, wenn nicht sofort beherzt eingeschritten würde. Sie musste sich gar eingestehen, dass sie schon seit Längerem ein solches Ereignis befürchtet hatte und musste sich wohl vorwerfen lassen, nicht beizeiten Vorsorge getroffen zu haben. Aber nun war es zu spät und es musste unverzüglich gehandelt werden.

Die Weise Waldeule endete mit dem Satz „Wo in aller Welt steckt bloß dieser Ritter Trottelbein? Wenn wir ihn nicht unverzüglich auftreiben, droht ein fürchterliches Unglück!“

„Was hat denn Ritter Trottelbein mit dem Rumpeln in der Ruine Rodenstein zu schaffen?“, fragte Ameise Pimperle.

„Ach ja, Ameise Pimperle, das kannst du doch noch gar nicht wissen. Da wir aber bestimmt deine Hilfe brauchen werden, komme ich wohl nicht umhin, dich in das Geheimnis des Brunnens und die Rolle, die Ritter Trottelbein darin gespielt hat, einzuweihen. Nun, das war so …“, setzte Mäuschen Klapperhut nun seinerseits zum Erzählen an.

Seit vielen Jahrhunderten, so berichtete Mäuschen Klapperhut, hielt sich in einer abgrundtiefen Höhle unterhalb der heutigen Ruine Rodenstein ein uralter Drachen namens Wigolant auf. Er gehörte der Sippe der Schutzdrachen an, jene mächtige Drachen, die, wenn es darauf ankommt höchst überzeugend die Ehre einer Prinzessin und die über Jahrtausende gehorteten unsäglichen Schätze aus Gold, Silber und Edelsteinen zu hüten, es nicht auf ein höllisches Rachenfeuer mehr oder weniger ankommen lassen.

So geheim der Aufenthalt des Drachen Wigolant in den Tiefen des Odenwaldes auch war, so wichtig war auch seine Aufgabe, wenn es darum ging, das Glück der Schönsten unter den Prinzessinnen sowie der Edelsten unter den Rittern zu sichern. Und genau so wichtig war seine Aufgabe auch gewesen, als die unglückselige Sache mit dem Tanz passierte.

Eigentlich wurde das ganze Elend ausgelöst, als die blendend aussehende Prinzessin Smaragdauge von dem ganzen adligen Gedöns ihres elterlichen Schlosses, einschließlich des dazu gehörenden penetranten Benimmunterrichtes der Herzogin Esmeralda, endgültig das hübsche Näschen gestrichen voll hatte und sich deshalb nach langem Hin und Her von ihrer Amme und ihrer Zofe Bernarda widerstrebend dazu überreden ließ, sich unverzüglich von einem geeigneten Ritter erretten zu lassen.

Sie hatte auch bereits eine ziemlich klare Vorstellung davon, welchem Ritter diese Aufgabe zufallen sollte. Prinzessin Smaragdauge hatte bei der letzten Riverboatparty eines griechischen Reeders den ziemlich gut aussehenden Ritter Trottelbein aufgetan, der, wie sich bald zeigte, durchaus passabel mit Schwert und Laute umzugehen verstand. Er machte zwar zu Pferde keine sonderlich überzeugende Figur. Das wurde aber bei Weitem dadurch wettgemacht, dass er ein derart loses Mundwerk führte und sich so was von keinen Deut um die bei Hofe herrschenden Benimmregeln scherte, dass es der Herzogin Esmeralda gewiss äußerst missfallen hätte. Und das Verwegen-zu-Pferde-durch-die-Büsche-preschen würde man ihm schon noch beibiegen können. Die Prinzessin Smaragdauge war sich ihrer Sache ziemlich sicher.

Da ihre steinalte Amme, die freilich schon längst gerochen hatte, auf was die jüngsten Flausen der schönen Prinzessin hinauslaufen würden, bereits vor einigen Monaten einige spitze Andeutungen zum gelungenen „Errettetwerden“ abgelassen hatte, war es von der Wahl des geeigneten Ritters nur noch ein kleiner Schritt dahin, gemeinsam mit der Amme die geeigneten Vorkehrungen durchzuchecken.

So wanderte die bildhübsche Prinzessin Smaragdauge an einem herrlichen Altweibersommernachmittag, in Begleitung ihrer nicht unansehnlichen Zofe Bernarda, mit festem Schuhwerk und einem erstaunlich großen Picknickkorb ausgestattet, über die Erlauer Auen in Richtung Herrenwald.

Dort angekommen hieß sie der Zofe mit einem Augenzwinkern, sich auf einer vom örtlichen Goldschmied gespendeten soliden Holzbank auszuruhen, während sie selbst sich hinter einem Gebüsch zu erleichtern gedächte, um anschließend im Wald ein paar schmackhafte Pilze zu sammeln.

Die Zofe tat wie ihr geheißen und vertiefte sich sogleich in einen zu diesem Zwecke mitgeführten Arztroman, wohl wissend, dass sie die Prinzessin nicht so bald wieder sehen würde. Als das Geläut eines entfernten Kirchturms sie wissen ließ, dass seit den letzten Worten ihrer Herrin nun wohl genügend Stunden verstrichen waren, um keinen Verdacht zu erregen, machte sich die Zofe auf den Heimweg zum herrschaftlichen Schloss.

Dort brach sie vor dem Königspaar in einer derart überzeugenden Weise in Schluchzen und Wehklagen aus, während sie mit stockender Stimme unter Tränen das Verschwinden ihrer geliebten Prinzessin Smaragdauge kundtat, dass die Amme, welche diesen schändlichen Betrug freilich selbst angezettelt hatte, erhebliche Mühe aufbringen musste, um sich nicht vor Lachen in die Hosen zu machen.

Nachdem sowohl die Königin, als auch die Herzogin Esmeralda, zusammen mit ihren beiden Zofen, gebührend in das Schluchzen und Wehklagen eingestimmt hatten und der König sich, zum Entsetzen der Herzogin, vulgär fluchend zu den Gemächern seines Schatzmeisters aufgemacht hatte, kehrte eine gespannte Ruhe ein. Alle warteten auf die nun wohl unvermeidliche Nachricht, die sicherlich bald von einem Lauftroll überbracht werden würde. Zumindest das königliche Paar wusste nur allzu gut, was das vermeintliche Verschwinden ihres Töchterchens zu bedeuten hatte. Man war ja schließlich auch mal jung gewesen.

Unterdessen war die Prinzessin Smaragdauge tief in den Herrenwald eingedrungen. Erst als sie zwischen dem bunten Laub bereits die Gemäuer der Ruine Rodenstein hindurch schimmern sah, setzte sie sich auf einer Lichtung ins Gras und begann ihren Picknickkorb auszupacken. Sie breitete ein großes kariertes Tischtuch aus, auf dem sie Gedecke für zwei Personen, zwei halbe Hähnchen, eine Baguetteflöte, einen großen Streuselkuchen, eine riesige Flasche durchaus passablen australischen Sekt mit dazu passenden überdimensionierten Sektschalen und einen zugekorkten Steinkrug mit hochprozentigem Kirschgeist ausbreitete.

Als Nächstes füllte sie in eine der Sektschalen ein wenig vom Kirschgeist, den sie mittels eines verlässlichen Sturmfeuerzeugs entzündete. Dabei achtete sie, entsprechend den detaillierten Anweisungen ihrer Amme, sorgfältig darauf den scharf duftenden Rauch des brennenden Schnapses in Richtung Rodenstein zu fächeln.

Sehr zufrieden mit dem bisherigen Verlauf des Tages setzte sie sich nun hin und fing, im überraschenden Widerspruch zu ihren sonstigen Gewohnheiten, in jämmerlichster Weise zu wimmern an, wobei sie mit einem Taschentüchlein aus Brüsseler Spitze einige mühsam herausgepresste Tränchen abtupfte.

Es dauerte dann auch nicht lang, bis die erwartete Gestalt zwischen den Bäumen erschien. Ein ebenso runzliger wie feister alter Troll namens Gharok trottete gemächlich auf das Mädchen zu und setzte sich wortlos auf eine Ecke des Picknicktuches und griff beherzt nach den vor ihm ausgebreiteten Leckereien.

Höfischer Small Talk und Benimmregeln waren ihm offenbar fremd. Er stopfte das halbe Hähnchen, die Hälfte der Baguetteflöte und den gesamten Streuselkuchen ohne ein einziges Wort in sich hinein. Das Ganze spülte er mittels gut dreiviertel des Sektes herunter. Zum Schluss füllte er eine Sektschale randvoll mit Kirschgeist und kippte das scharfe Zeug in einem Zug seinem üppigen Mahl hinterher. Letzteres wiederholte er noch drei oder vier Mal, was er, wie sich später herausstellte, besser unterlassen hätte.

Daraufhin lehnte Gharok sich etwas zurück, versuchte die Prinzessin zu fixieren, rülpste vernehmlich und schnarrte mit deutlich angesäuselter Stimme: „Verlaufen?“ Sicherheitshalber etwas nachwimmernd nickte die Prinzessin.

„Retter?“, gab Gharok knapp zurück.

„Ritter Trottelbein“, erwiderte die Prinzessin, ganz zufrieden mit dem bislang durchaus sachlichen Verlauf der Unterhaltung.

„Von mir aus“, nickte Gharok. „Iss und trink, denn es wird eine Weile dauern, bis alles geregelt ist. Und zieh dir deinen Mantel drüber. Unten ist es kühl.“

Die nach ihrem Geschmack doch etwas allzu rüden Essgewohnheiten des Trolls hatten den Appetit der Prinzessin zwar nicht gerade angeregt, aber sie war immerhin seit dem Mittag unterwegs und konnte nicht erwarten, in den nächsten Stunden eine Mahlzeit gereicht zu bekommen. So biss sie ein paar Mal in die Hähnchenkeule, knabberte schnell noch einen Bissen Brot ab und trank ein wenig Sekt. Da sie alles hastig hinuntergeschluckt hatte, kippte sie zur Verdauung geschwind noch ein paar Schlückchen vom Kirschgeist hinterher. Das übrig gebliebene Essen packte sie sorgfältig in eine Tupperware und verstaute diese, zusammen mit den Getränken und dem Tischtuch, in ihrem Korb. Sie legte sich, wie der Troll es ihr geheißen hatte, den Mantel um und sagte: „Fertig“.

„Folgen!“, krächzte der Troll und kehrte ihr den Rücken zu. Er lief langsam den seichten Hang in Richtung Ruine hinauf, ohne sich zu vergewissern, ob die junge Dame seinem Befehl gehorchte.

Über die Folgsamkeit der Prinzessin Smaragdauge brauchte er sich in der Tat keinerlei Sorgen zu machen. Wenngleich der Troll ihr nicht unbedingt sympathisch erschien, so wirkte er auch keineswegs bedrohlich. Und da sich die Sache genau so entwickelte, wie ihre Amme es ihr vorhergesagt hatte, kamen der Prinzessin keinerlei Bedenken, den weiteren Fortschritt des geplanten Abenteuers betreffend.

In der Ruine Rodenstein angelangt, wandte Gharok sich dem alten Brunnenschacht zu. Dieser ragte einen guten Meter aus der Erde heraus. Auf Bodenhöhe war die Öffnung mit einem sehr schweren Mühlenstein verschlossen worden, der einst in einer der vielen Wassermühlen des oberen Gersprenztals gedient hatte. Der seit Jahrhunderten unbenutzte und längst trockene Brunnen war, nachdem er durch die Jahre mit Abfall und Bauschutt verfüllt worden war, aus Sicherheitsgründen in dieser Weise versiegelt worden. So zumindest stellte es sich dem ahnungslosen Besucher dar.

Gharok legte seine Hände auf den Brunnen, murmelte einige geheimnisvolle Wörter und hob dann seine Hände hoch.

Obwohl von ihrer Amme genauestens vorbereitet, erschrak Prinzessin Smaragdauge nicht wenig, als sich plötzlich, wie von Geisterhand geführt, der dicke Mühlenstein in die Luft erhob und etwa mannshoch über dem Brunnenschacht zitternd hängen blieb, ohne dass er von jemand oder etwas gehalten wurde. Pure Zauberei! Als aufgeklärte junge Frau unserer Zeit hatte die schöne Prinzessin Smaragdauge doch wohl einige Zweifel an den diesbezüglichen Schilderungen ihrer Amme gehabt. Dass dieser viele Zentner schwere Steindeckel tatsächlich frei in der Luft hängen blieb, verschlug ihr glatt die Sprache.

Gharok kümmerte sich nicht weiter um die staunende Mimik der Prinzessin. Er kletterte behände über den Rand des Brunnenschachts, hieß der Prinzessin ihm zu folgen und verschwand aus ihren Augen.

Als sie an den Brunnen trat, erwartete sie nun freien Blick auf den Bauschutt zu haben, der den Brunnen verfüllt hatte. Stattdessen blickte sie aber auf ein tiefes dunkles Loch. Gut und gerne fünfzig Meter unter dem Rand des Brunnens stand Gharok auf dem nackten Felsboden und hieß ihr, ihm zu folgen.

Prinzessin Smaragdauge meinte zunächst entsetzt, der Troll erwartete von ihr, herunterzuspringen. Als ihre Augen sich etwas an die Dunkelheit des Brunnenschachts gewöhnt hatten, sah sie jedoch, dass an der Innenseite des Schachtes ein schwerer Eisenring im Fels verankert war, an dem wiederum ein dickes Hanfseil bis zum Boden des Brunnens herunter hing.

„Also doch“, dachte sie und schwang sich geschmeidig über den Rand des Brunnens, fasste das Seil mit beiden Händen und hangelte sich mit geübten Klettersprüngen herunter. Heutzutage muss eine Prinzessin mehr drauf haben als lediglich sich vom Volke huldigen zu lassen.

Am Boden angekommen folgte sie mit raschen Schritten den Troll, der bereits durch einen von wenigen Fackeln beleuchteten Rundbogengang auf eine hell erleuchtete Öffnung zu lief.

Nun wurde es der Prinzessin allerdings doch allmählich etwas mulmig. Denn wenn sich die Worte ihrer Amme bewahrheiten sollten, würde sie in wenigen Augenblicken einem Wesen gegenüberstehen, von dem sie bis dahin geglaubt hatte, dass sie lediglich in sehr alten Märchen und Geschichten vorkämen. Weit gefehlt, denn auch in den Märchen und Geschichten der Gegenwart tummeln sich diese wahrhaft fantastische Wesen, wie wir gleich sehen werden.

Die Prinzessin Smaragdauge sammelte ihren ganzen Mut und trat durch die Öffnung, die sich als vergleichsweise winziger Nebeneingang einer riesigen Höhle entpuppte. Der fast kirchturmhohe Haupteingang lag weit links von ihr. Dieser wurde von zwei atemberaubend großen Granitplatten verschlossen, die an je drei nahezu karrengroßen Scharnieren hingen. Sieben Riegel von der Größe eines Baukrans verschlossen den Eingang so vollkommen, dass nicht einmal eine Elefantenherde das Tor hätte aufsprengen können.

Die Höhle selbst war so gewaltig, dass wohl der gesamte Berg, auf dem einst die Burg Rodenstein errichtet worden war, ausgehöhlt sein musste. Der Prinzessin Smaragdauge fielen fast die Augen aus dem Kopf.

In Wirklichkeit war nicht der Berg ausgehöhlt worden, sondern umgekehrt. In grauer Vorzeit hatte ein Heer von Zwergen, von jeher die treuesten Diener der Drachen, um ein mehrere hundert Meter umfassendes Felsplateau herum, aus Unmengen von Granitblöcken höchst kunstvoll eine gewaltige Drachenhöhle erbaut, die die neue Bleibe ihres Herrn, des Drachen Wigolant, werden sollte. Seine alte Bleibe hatte Wigolant in seinem damals mit lediglich dreitausend Lenzen noch jugendlichen Leichtsinn gründlich abgefackelt. Was ihm bei näherem Hinsehen nicht einmal Leid tat, denn die alte Höhle war wirklich etwas beengt und alles andere als bequem gewesen.

Nach Fertigstellung der neuen Höhle schütteten die Zwerge eine dicke Schicht aus Sand, Lehm und Gesteinsbrocken über den neu erstandenen Hügel und bepflanzten das Ganze mit dichtem Laubwald, damit keine Menschenseele je auf einen anderen Gedanken käme, als dass dort von jeher einer der zahllosen Hügel des Odenwaldes gestanden hätte.

Dass sich nach mehreren Jahrtausenden ein Junker aus der Gegend auf dem Hügel ansiedelte, beeinträchtigte zwar den Alltagsbetrieb der Drachenhöhle ein wenig. Aber da es sich bei den adligen Herrschaften um tüchtige Saufbolde und Streithammel handelte, brauchte man nicht zu befürchten, dass irgendjemand die gelegentlichen wilden Erzählungen dero von Rodenstein sonderlich ernst nähme.

Nichtsdestotrotz kam es den ursprünglichen Bewohnern des Drachenhügels durchaus gelegen, als das Geschlecht von Rodenstein, sei es nun infolge der Pest, wie es heute in einigen historischen Dokumenten zu Fränkisch-Crumbach nachzulesen ist, sei es an seinen nicht enden wollenden Streitereien mit den Herrschaften der auf der anderen Talseite gelegenen Schnellertsburg, alsbald ausstarb.

Die Zwerge sorgten gewissenhaft dafür, dass von der einst stolzen Burg Rodenstein bald nur noch eine mächtige Ruine übrig blieb, indem sie den armen Bauern und Tagelöhnern des oberen Gersprenztals eingaben, sich am nun leer stehenden Gemäuer fleißig der Baumaterialien für ihre Gehöfte und Hütten zu bedienen. Nach wenigen Jahren blieb nur noch das übrig, was Bewohner und Besucher des Gersprenztals immer wieder mal gerne als Treffpunkt für einen sorgenfreien Nachmittag unter Freunden nutzten: die Ruine Rodenstein, wie wir sie heute kennen und mögen.

Dass tief unter dem Fels verborgen ein sehr altes Geheimnis höchst lebendig war, wussten außer der Weisen Waldeule, Mäuschen Klapperhut, einem sehr alten Fuchs und dem Jungen Wolf, der seine Nase stets überall dort hineinzustecken pflegt, wo sie gewiss nicht hingehört, was übrigens einst zu einer wirklich bösen Geschichte führte, die an anderer Stelle erzählt wird, lediglich zwei oder drei verschwiegene Ammen, wie es jene der Prinzessin Smaragdauge war.

Die Prinzessin Smaragdauge schaute sich neugierig in der Höhle um. Nach einer Weile fiel ihr auf, dass es in der riesigen Höhle lediglich eine einzige Lichtquelle gab. Diese war allerdings mehr als sehenswert. Das helle Licht, das die gesamte Höhle ausleuchtete, entstammte einem mindestens zwanzig Meter hohen, gewaltigen Haufen von bunt durcheinander geworfenen Edelsteinen jedweder Form und Couleur, die sich mit enormen Mengen von goldenen, silbernen, bronzenen und alabasternen Gegenständen jedweder Bestimmung mischten. Das Ganze stellte einen derart unermesslichen Schatz dar, dass die Prinzessin sich nicht einmal ausmalen konnte, wie viele Schulen und Krankenhäuser für die armen Kinderchen in Congo man wohl damit hätte errichten können. Es schien ihr, als ob der Besitzer dieses Schatzes, ähnlich den Reichsten unter den Menschen, sich eher selten mit den in Congo und sonst wo herrschenden Nöten befasste. Die Prinzessin schüttelte den Kopf. Also nein, so einem müsste man doch wirklich mal ordentlich Bescheid stoßen.

Prinzessin Smaragdauge kam allerdings nicht mehr dazu, dieser durchaus ehrenhaften Überlegung noch weiter nachzuhängen, denn plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas in der Größenordnung eines VW-Käfers gefesselt, das sich hinter dem Geschmeidehaufen langsam auf und ab bewegte. Der Form nach konnte es sich, zu diesem Schluss kam die Prinzessin nach einigem Überlegen, um nichts anderes als die Schwanzspitze des alten Drachen Wigolant handeln, von dessen Gegenwart ihre Amme ehrfurchtsvoll flüsternd berichtet hatte.

Ein leichtes Zittern durchfuhr den ebenso wohlgeformten wie durchtrainierten Rücken der Prinzessin und ihre Nackenhaare nahmen die Form einer verschlissenen Schuhbürste an. Sie versuchte zu schlucken, aber ihre Kehle war plötzlich so trocken geworden, dass sie rasch nach der Pulle Kirschgeist aus dem Picknickkorb griff. Nach einem nicht allzu bescheidenen Schluck aus derselben schüttelte die Prinzessin mutig ihre zu Berge stehende Mähne, blinzelte ein paar Mal mit den Augen und rief mit einer Stimme, die seltsam schrill rauf und runter rutschte: „Ist da wer?“

Auf der Stelle verschwand die Mischung aus Jo-Jo und VW-Käfer um Platz zu machen für eine hervorschießende Wolke zischenden Dampfes, der zwischen den Farben Rot, Grün und Gelb zu schwanken schien. Als Nächstes folgte etwas, das in Größenordnung und Form etwa einem Traktor der XXXL-Ordnung entsprach. Es war erwartungsgemäß der Kopf des Drachen. Hals, Schultern und Brustkorb des Drachen, die der Konfektionsgröße des Kopfes entsprachen, folgten in einer beunruhigend flinken Geschmeidigkeit, die bei diesen Ausmaßen nicht unbedingt zu erwarten gewesen wäre. Die Prinzessin schluckte abermals.

„Kommt zu mir!“, befahl der Drache mit einer seltsam sanften, aber tief dröhnenden Stimme. Prinzessin Smaragdauge machte drei kleine Schritte auf den Drachen zu und blieb erneut stehen. Sie fing an sich zu fragen, ob die Idee mit dem Erretten wirklich klug gewesen war. Es kam ihr allmählich so vor, als sei das Leben bei Hofe des Königs doch nicht ganz so schrecklich, wie sie sich das bis zum Morgen des selbigen Tages noch eingebildet hatte. Zumindest nicht in Anbetracht dessen, was dieses riesige Monstrum ihr wohl für ein qualvolles Leben bescheren könnte, wenn es dem erwählten Retter nicht gelänge, den von ihm erwarteten Sieg zu erringen.

„Seid unbesorgt, Euch wird kein Haar gekrümmt werden, junge Lady“, dröhnte die Stimme des Drachen, als könne er ihre Gedanken lesen. Was auch in der Tat der Fall war. Vor einem erfahrenen Schutzdrachen konnte man nicht einmal seine geheimsten Jugendsünden verbergen. „Kommt zu mir, es wird Euch nichts geschehen.“ Und zu seinem Obertroll Gharok gewandt befahl er: „Bringt heißen Tee und Gebäck. Die junge Lady friert. Sie soll sich wohlfühlen.“

Der letzte Satz führte dazu, dass die Prinzessin wieder Vertrauen zu den Ratschlägen fasste, die ihre Amme ihr mit auf den Weg gegeben hatte. Sie schritt nun langsam und würdevoll, wie es einer wahrhaftigen Prinzessin geziemt, den halben Weg auf den Kopf des Drachen zu. Dort blieb sie stehen, ließ sich würdig auf ein Knie sinken und sprach, wie es die Amme ihr geheißen:

„Euer drakonischen Gnaden, verzeiht mir meine Gegenwart. Ich bin gekommen, um Eure Hilfe zu ersuchen. Ein Umzug in einen eigenen Haushalt tut dringend Not, Ihr versteht. Auch eine noch so hübsche und gescheite Prinzessin kann nicht ewig im Schloss ihrer Eltern herumlungern, mögen diese einen noch so lieben und verwöhnen. Irgendwann muss Schluss sein. Ich habe nach dem Ritter Trottelbein geschickt, der mich noch heute in der gebührenden Weise erretten soll. Wenn es Euch nicht zu viel Ungemach bereitet, einige Minuten Eurer wertvollen Zeit zum Schutze eines ebenso edlen wie mutigen Paares zur Verfügung zu stellen, wäre ich Euch äußerst verbunden. Seid versichert, Euer drakonischen Gnaden, meine …“

Die Prinzessin Smaragdauge brach erschrocken ihre auswendig gelernten Sprüche ab, als der Drache ungeduldig seine rechte Klaue hob.

„Erspart mir dieses Gesülze!“, knurrte er unwirsch. „Du willst errettet werden? So sei es. Dem Wunsch einer bildschönen Prinzessin, vor dem Antlitz eines Schutzdrachen mutig dargebracht, muss entsprochen werden. So steht es geschrieben in den ältesten Schriften der Welt. Aber kommt mir bloß nachher nicht damit, dass das Elterngeld vorne und hinten nicht reiche, oder die heranwachsenden Gören Euch aus dem Ruder laufen. Gewünscht ist gewünscht. Basta!“

„Jawohl, Euer drakonischen Gnaden. Selbstverständlich, Euer drakonischen Gnaden. Gewünscht ist gewünscht. Ganz meiner Meinung, Euer drakonischen Gnaden ... “, stammelte Prinzessin Smaragdauge etwas verunsichert, während sie störrisch einen winzigen aufkeimenden Zweifel ob der Richtigkeit ihrer Wahl, den rettenden Ritter betreffend, beherzt zur Seite schob. Gewünscht ist gewünscht. So ist das nun mal, dachte sie und wischte sich ein eingebildetes Staubkorn von der hübschen Nase.

„Gharok, lass die benötigten Requisiten vorbereiten! Macht unverzüglich Meldung, wenn der erwartete Retter naht. Dann lass das Tor öffnen. Wir wollen ihm den gebührenden Empfang bereiten.“

Während der Drache Wigolant sich hinter seinen leuchtenden Schatz zurückzog um sich im Fernsehen „Julia – Wege zum Glück“ anzuschauen und die Prinzessin Smaragdauge es sich, in Erwartung des Errettetwerden, bei Tee und Gebäck einigermaßen gemütlich zu machen versuchte, ist es nun höchste Zeit, uns den weiteren Ereignissen am Hofe des Königs zu widmen.

Erwartungsgemäß hatte ein Lauftroll am Nachmittag eine hastig auf einen kleberigen gelben Erinnerungszettel gekritzelte Nachricht überbracht, auf der Gharok wissen ließ, dass die, zugegebenermaßen außerordentlich gut aussehende Prinzessin, wie er etwas anzüglich hinzugefügt hatte, sich in der Gewalt des Drachen Wigolant befand, ihr jedoch kein Haar gekrümmt würde, sofern der herbeigerufene Retter sich nicht allzu sehr verspäte.

Noch während der König Gharoks Sauklaue zu entziffern versuchte, kam der von der Amme heimlich alarmierte Ritter Trottelbein bereits mit Getöse auf einem schweren Gaul über die Zugbrücke gepoltert. Was ihm prompt das Gezeter einer Wäschefrau einbrachte, er solle nicht so einen Krach machen, sie hätte ihren plärrenden Säugling endlich dazu gebracht einzuschlafen und hätte ein wenig Ruhe wohl verdient, ob er denn glaube, er sei in Iffezheim.

Ritter Trottelbein trat wenige Minuten später in abgewetzten Jeanshosen und Jacke, mit langen verwilderten Haaren, verstaubten Westernstiefeln an den Füßen, ein blitzendes Kampfschwert aus bestem Damaszenerstahl um die schmalen Hüften gegurtet und die Laute lässig über die Schulter gelegt, vor den König, der sich mittlerweile würdig auf seinen schicken Thronsessel begeben hatte.

„Tach Majestät! Schöner Tag, nicht? Tut mir leid, dass es nicht eher ging. Ich war gerade beim Wäscheaufhängen und ich musste noch beim Schmied vorbei. Mein Schwert hatte etwas Flugrost angesetzt. Tschuldigung!“, sagte Ritter Trottelbein freundlich.

„Setz dich!“, sagte der König, der ob der Nonchalance des Ritters etwas verwirrt dreinschaute, dem es jedoch in der gegebenen heiklen Situation durchaus nicht unangenehm war, auf den üblichen Begrüßungsfirlefanz verzichten zu können. „Die Frage, ob du mir als Retter meiner Tochter willkommen wärst, brauchen wir hier nicht zu erörtern. Es gibt offenbar einen ‚fait accompli‘. Wozu habe ich diese Göre eigentlich Jahrzehnte lang von einer veritablen Herzogin in Benimmregeln unterrichten lassen? Kommen wir zur Sache. Was stellen Sie sich so vor?“

„Tja …“, sagte der Ritter, nachdenklich auf seine zum Zwecke des Lautenspiels vollendet geschnittenen und gefeilten Fingernägel schauend, „ich habe eigentlich keine große Erfahrung in Verhandlungen über Löseschätze. Ich hörte allerdings, der Drache Wigolant sei nicht gerade kleinlich mit seinen Forderungen. Ich habe mir sicherheitshalber vom Gersprenzhof einen Ackergaul ausgeliehen. Nicht, dass mir mein junger Wallach auf halbem Wege zum Rodenstein unter dem Löseschatz zusammenbricht. Was schlagt Ihr vor, Majestät?“

„Nun“, knurrte der König, „als Vater einer so wohlgeratenen Prinzessin habe ich freilich so etwas kommen gesehen und zu diesem Zwecke über die Jahre vorsorglich etwas auf die hohe Kante gelegt. Wenn wir noch ein wenig aus dem Nachlass ihrer Erbtante dazugeben, müsste das wohl reichen. Schau es dir an.“

Der König führte Ritter Trottelbein hinter einen schweren purpurnen Vorhang in eine Ecke des Thronsaals, wo zwei bis zum Rand mit allerhand wertvollen Schätzen gefüllte riesige Truhen standen.

„Voilà!“, sagte der König. „Zu meiner Zeit hätte man damit drei Prinzessinnen vom Feinsten erretten können. Aber auch das Leben eines Drachen scheint nicht von der galoppierenden Inflation verschont zu bleiben. Jedenfalls ist es weit mehr, als Gharok auf seinem Laufzettel angedeutet hat. Kannst du das zum Rodenstein schaffen, bevor es dunkel wird?“

Dem Ritter Trottelbein fiel das Kinn herunter. So viel Gold, Silber und sonstige Schätze hatte er in seinem Lebtag noch nicht beisammen gesehen. Er hatte eher an etwas in der Größenordnung von einigen prall gefüllten Alditüten gedacht. Der Ackergaul vom Gersprenzhof tat ihm schon im Voraus Leid. „Passt schon“, sagte er und grinste den König breit an.

Der König hatte eigentlich befürchtet, dass der Ritter noch zusätzlich Ansprüche auf eine nette Rettergebühr anmelden würde. Da jener nichts dergleichen andeutete, hegte der Fürst den Verdacht, der Ritter würde sich wohl an einem Teil des Löseschatzes schadlos halten. Womit er dem Ritter allerdings gröblich Unrecht tat, denn dieser entstammte einem so was von ehrenhaften Geschlecht, dass derlei Trickserei ihm niemals in den Sinn gekommen wäre. Ritter Trottelbein war der Ansicht, dass die Ehre, die Prinzessin Smaragdauge retten zu dürfen, ihm mehr als Lohn genug sei. Er hoffte sehr, dass die junge Dame, die er von der Riverboatparty als ein zwar etwas hochnäsiges, aber ansonsten recht natürliches und unkompliziertes Wesen in Erinnerung hatte, sich nach ihrer Rettung, hinsichtlich ihrer alltäglichen materiellen Wünsche, nicht als allzu anspruchsvoll erweisen würde. Mit seinem Kampfunterricht und dem Lautenspiel verdiente er einen auskömmlichen Lebensunterhalt. Die Prinzessin hätte sich, der ihm von der Amme zugesteckten Auskunft zur Folge, hinlänglich solide Fähigkeiten angeeignet, um sich erforderlichenfalls auch auf eigenen Füßen durchs Leben zu schlagen. So war es dem Ritter Trottelbein mehr als recht, sich in seiner ohnehin spärlichen Freizeit nicht auch noch mit der Verwaltung eines königlichen Schatzes herumplagen zu müssen.

Während die Diener des übel gelaunten Schatzmeisters die beiden Truhen zum Schlosshof und auf den Rücken des geduldig wartenden Gauls schafften, suchten der König und der Ritter die Königin in ihren Gemächern auf, um einige Details hinsichtlich gewisser, für eine junge Dame unentbehrlichen, Umstände bei einer wohlgeordneten Errettung zu besprechen.

Da Ritter Trottelbein sich der Königin gegenüber mit ausgesuchter Höflichkeit und Charme benahm, was ihr Gemahl wohlwollend zur Kenntnis nahm (Aha, er kann also, wenn er will …), fiel es dieser nicht schwer, alsbald ihre reichlich vergossenen Tränen zu trocknen und die anstehenden Angelegenheiten schnell und sachlich zu klären.

Eine Viertelstunde später standen das königliche Paar, diverse Hofdamen und Edelleute, eine Handvoll Zofen und Küchenmädchen, sowie eine leidlich zufriedene Wäschefrau mit ihrem ausgeschlafenen Säugling auf dem Arm, auf dem Schlosshof, um den Ritter Trottelbein zu verabschieden und ihm die erforderliche Menge Glück beim Besiegen des Drachens und Erretten der Prinzessin zu wünschen.

Da der Ackergaul mit den beiden Schatztruhen bereits mehr als bedient war, verzichtete der Ritter darauf, sich auch noch in den Sattel zu schwingen. Es war ihm durchaus bewusst, dass er seinen künftigen Schwiegereltern damit unzweideutig signalisierte, dass, wenn er auch aus eher bescheidenen Adelsverhältnissen stammte, niemand ihm in Sachen Edelmut etwas vormachen konnte und er deshalb auch die uneingeschränkte Achtung des Königspaars redlich verdiente.

Erhobenen Hauptes führte er das Pferd am Zügel. Bis zum Rodenstein war es nun wirklich nicht weit. Wenn er sich dran hielt, konnte er das leicht in weniger als einer Stunde schaffen, sofern der Gaul sich nicht dazu entschloss, unterwegs auch noch lahmen zu müssen.

Unter dem Hoftor drehte Ritter Trottelbein sich noch einmal um, winkte der versammelten Schlossmannschaft zu, rief freundlich: „Alla dann!“, und machte sich auf den Weg, die ihm nun einmal übertragene Aufgabe nach bestem Wissen und Können hinter sich zu bringen.

Hier musste Mäuschen Klapperhut eine längere Pause einlegen. Seine Zunge war schon ganz trocken vom langen Erzählen.

„Ameise Pimperle“, sagte er zu seiner mit winzigen roten Ohren gebannt zuhörenden Mitbewohnerin, „hast du nicht noch eine Kanne Tee auf dem Herd stehen? Ich muss unbedingt etwas trinken, wenn ich nicht verdursten soll, längst bevor die Prinzessin aus den Klauen des Drachen gerettet worden ist. Und wenn du noch ein Croissant von heute Morgen übrig hättest, käme mir das gerade recht.“

„Dem Erzähler soll serviert werden was ihm beliebt“, erwiderte Ameise Pimperle. „Möchtest du vielleicht noch eine Gabel von den Spaghetti, meine liebe Weise Waldeule?“

Die Weise Waldeule, vom Mittagessen noch reichlich gesättigt, winkte ab: „Mach dir keine Umstände, Pimperle. Aber eine Schale Tee nähme auch ich gerne, wenn es recht ist.“

„Wird gemacht. Auch der Überbringer bedeutender Nachrichten soll nicht verdursten.“, flachste Ameise Pimperle und machte sich in der Küche zu schaffen.

Wigolant

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