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Burgjoss

In Burgjoss angekommen, nahm ich die letzte leichte Kurve und Steigung mit Vorsicht. Die Straße war leicht gefroren. Ich fuhr die Frankfurter Straße entlang, bis die Abzweigung ganz scharf nach links und wirklich steil nach oben in die Heimbuchenstraße führte. Diese Ironie. Heim. Buchen. Weder das eine noch das andere stimmte. Nichts stimmte. Die Straße führte weiter nach oben und hatte hier gar keinen Namen mehr.

Karl hatte - ja, mein Mann hieß Karl. Karl Heumann-Röder. Heumann Ex- und Import. Wie soll ich diese Geschichte erzählen, wo ich doch diesen Namen nicht sagen darf? Ich hatte meinen Mädchennamen nach der Hochzeit behalten. Etwas hatte mich gewarnt. Er hatte es mir vor der Hochzeit versprochen, und es war durch das Standesamt bestätigt und besiegelt worden. Das Dorf nannte mich immer noch Frau Röder. Der Vorname war verschwunden. Ich wollte den Namen von Karl nicht mehr aussprechen. Das Unaussprechliche durfte man nicht sagen.

Aber der Staudamm war bei Dr. Bring gebrochen. Nun konnte, durfte, nein: musste ich den Namen sagen. Den Namen des Teufels aussprechen. KARL. Mein Mann. ER hatte hier dem Bürgermeister der Gemeinde ein riesengroßes Feldgrundstück für einen Apfel und Ei abgeluchst. Im Gegenzug versprochen, einen Teil der Gewerbesteuer durch eine Umsiedelung eines Teils der Firmen hier abzuführen, einige Arbeitsplätze garantiert und noch eine kleine Spende für den örtlichen Fußballclub abgeliefert. Nun prangte sein Schild neben 39 anderen auf dem Vereinsheim des VfB Oberndorfs, der trotz eines unglaublichen Engagements leider nur in der letzten Regionalliga spielen durfte.

Der Bürgermeister hatte ihm aus der Hand gefressen und gar nicht bemerkt, welchen Schmutz er dabei verdauen musste. Karl hatte es eines Abends heiter und beschwingt, gleichwohl mit blutig unterlaufenen Augen, nach der siebten Flasche Bier voller Stolz und doch auch mit Ekel vermischt, berichtet. Ich konnte spüren, dass er alle Menschen nur als Schmeißfliegen betrachtete, die er lüstern mit seiner Froschzunge schnappte und vertilgte.

Gedankenverloren drückte ich den elektrischen Garagentoröffner und war erleichtert. Sein Jaguar stand nicht in der geräumigen Garage, die Platz für vier Fahrzeuge bot. Der nur für seltene Zwecke eingesetzte Bentley stand majestätisch auf seinem Platz, ganz rechts. Für normale Termine war Karl immer mit dem Jaguar unterwegs, so auch heute Abend. Morgens der erste, abends der letzte. Noch beim Abendessen in der Jossastube oder in der Pizzeria Da Salva seinen Geschäften nachgehend. Fliegen schnappend. Wie ein gieriger Frosch. Mit einer meterlangen Zunge, die seine Opfer nicht rechtzeitig erkennen konnten. Und schon waren sie gefangen und wurden verschluckt.

Ermüdet und erschöpft ging ich ins Schlafzimmer und ließ alles von mir fallen. Das Kostüm. Die Schuhe. Die seelischen Schmerzen. Ich fiel ins Bett und schien innerhalb von Sekunden eingeschlafen zu sein.

Ein wirres Bild tauchte in meinem Kopf auf. Nein. Es musste ein Traum sein. War ich wach? Träumte ich? Oder träumte ich, dass ich träumte? Die Übelkeit war wieder da. Ein überaus übler Gestank. Ich versuchte ihn zu verscheuchen. Aber er war schwer und drückte auf meine Lunge, meinen Brustkorb. Mein Versuch, ihn weg zu schütteln, scheiterte, machte mich aber noch wacher. Dann realisierte ich, dass Karl auf mir lag. Der Gestank war sein Atem, ein Gemisch aus Bier, Schnaps und Zigarrenrauch. Er fingerte an mir rum und versuchte, sein Glied in meine Scheide einzuführen. Der Ekel übermannte mich. Ich bäumte mich auf und schaffte es irgendwie, mein Knie zwischen seine Beine zu stemmen. Es war eine Verzweiflungstat, und es war ein Reflex. Aber offensichtlich ein Volltreffer. Er jaulte auf.

Panik ergriff mich. Wenn er mich heute erwischen würde, würde er mich totschlagen. Ich musste davon laufen. Zeit, mich anzuziehen, gab es nicht. Also lief ich los. Halbnackt. Nur mit einem Seidennachthemd bekleidet. Barfuß. Blind vor Angst. Ich riss die Haustür auf und hastete atemlos ins Freie. Mein Instinkt riet mir, in Richtung Wald zu laufen. Die Sterne funkelten mich an und glitzerten böse. Karls Blick schien mich überallhin zu verfolgen. Es würde kalt werden heute Nacht. Egal. Immer nur weiter. Weg. Weg von ihm.

Schon hörte ich ihn. Er kam hinterher. Die Haustür fiel ins Schloss. Er brüllte. Worte, die nicht zu verstehen waren. Das war auch nicht nötig. Der Sinn war klar. Ich hatte Todesangst.

Weiter in den Wald hinein. Das Unterholz knackste. Ich spürte scharfe Steine, trockene Äste, Dornen. Und spürte doch nichts. Das Adrenalin erstickte jeden Schmerz angesichts meiner Angst, dass er mich erwischen könnte.

Ich lief und stolperte und strauchelte. Meine Lunge brannte. Keuchend hastete ich vorwärts und wurde auf einmal niedergestreckt. Mein Fuß hatte sich in einer Pflanzenschlinge gefangen, und ich knallte auf den Boden. Weiches Laub dämpfte meinen Sturz, aber ein Stein bohrte sich in meine Schläfe und knipste das Licht aus.

Als ich wieder zu mir kam, war alles friedlich still. Zuerst hörte ich ein leises Rascheln. Dann einige leise und einsame Vogelstimmen. Ein würziger Duft lag in meiner Nase. Ich versuchte mich zu bewegen. Die Schmerzen holten mich ein. Mühsam stöhnend richtete ich mich auf und versuchte mich zu orientieren. Wo war ich? Was war passiert? Karl! Ich war ihm weggelaufen. Halbnackt, barfuß und frierend im Wald.

Dann musste ich kichern. Es war grotesk. Ich hatte es geschafft! Ich war ihm tatsächlich weggelaufen! Der Preis: kalte Füße, ein schmutziges Seidennachthemd, einige blaue Flecken. Cool!

Langsam kam ich zur Besinnung. Was nun? Nach Hause konnte ich nicht gehen. Lisa? Dort würde er zuerst suchen. Dennoch: Eine andere Alternative hatte ich nicht. Ich stand auf und merkte nun, dass ich überall Schmerzen verspürte. Dennoch gab es auch ein anderes Gefühl: Ich war ihm entkommen! Ich war in Bewegung gekommen. Laufen. Befreiung.

Stolpernd und stockend suchte ich den Weg durch den Wald. Die Orientierung war klar. Immer bergab. Mein persönliches Bergauf und mein erster Triumph.

Irgendwann war der letzte Baum hinter mir, und ich hatte jede Menge neuer Kratzer und Blessuren. Aber ich fühlte mich frei. Ich ging die kleine Gasse hinter der Bäckerei zum Haus von Lisa, den Geruch von Hefe und anderen Backaromen in meiner Nase. Ein kleines Aufputschmittel auf meinem Weg in die Freiheit.

Vor dem Haus war kein Auto zu sehen, und Karl schien auch nicht in irgendeiner Ecke zu stehen. Dennoch hatte ich Angst, zu klingeln. Ein Steinchen ans Fenster werfen? Wie blöd! Gab es keine andere Möglichkeit? Ich zitterte. Die Kälte fraß sich in jeden Winkel meines Körpers. Bewegen hatte Dr. Bring gesagt. Also nahm ich einen Stein und warf ihn ans Wohnzimmerfenster. Schnell duckte ich mich hinter einem Busch. Nichts passierte. Mist. Also ein zweiter Versuch. Wenn sie einen Fernsehfilm sah? Oder Musik hörte und das Geräusch nicht bemerkte? In diesem Moment erschien ihre Silhouette am Fenster. Ich lief nach vorne. „Lisa!“

Sie sah mich und lief sofort weg. Ich bekam Angst. War Karl in der Wohnung? Hatte er sie in seiner Gewalt? Schon wollte ich weglaufen, aber da öffnete sich die Haustür.

„Hey, was ist?“, hörte ich sie rufen. Ich stolperte auf wunden Füßen über die Straße und fiel ihr in die Arme. Sofort heulte ich los. Die Anspannung löste sich. Ich bekam nicht mehr mit, dass sie die Tür schloss und lag in ihren Armen und schluchzte. Ein Nervenzusammenbruch.

Lisa gab mir Zeit. Dann führte sie mich langsam nach oben und ließ mich auf ihr Sofa plumpsen. Im Hintergrund lief irgendein Film im Fernsehen. Wie durch einen Nebel nahm ich die Stimme von Liz Taylor war. Wer hat Angst vor Virginia Wolf. Ich wollte schreien, aber ich hatte keine Kraft mehr. Der Nebel wurde dichter, und ich verlor mich in ihm.

Irgendwann später, die Morgensonne schien durch das Fenster und fand ihren Weg durch die hässliche Gardine, wurde ich wach. Der Duft von frischem Kaffee hatte mich wohl geweckt. Lisa war in der offenen Küche und trug einen violetten Kimono, den ich noch gar nicht kannte. Blaue und gelbe Streifen, silberne Tupfer. Schön! Woher hatte sie ihn?

Ich richtete mich auf. „Lisa?“

Obwohl ich fast nur flüstern konnte, hörte sie mich. Sie kam sofort und nahm mich still in den Arm. Ich zitterte. Die Bilder der letzten Nacht holten mich ein. Sie drückte mich fester an sich und löschte das Nachbeben aus.

„Lisa, es war so schrecklich. Er wollte mich wieder vergewaltigen. Ich bin ihm davon gelaufen“.

Jetzt erstarrte sie. Ihr Körper wurde ganz steif. Sie kannte meine Geschichten und Karl zur Genüge. Sie bekam Angst. Ganz paradox wurde ich in diesem Moment mutiger. Ich musste sie trösten und ihr Mut zusprechen.

„Es ist nicht schlimm, Lisa. Wenn er sich erst einmal beruhigt hat, macht er nichts mehr.“

Lisa löste die Umarmung und schaute mich voller Skepsis an.

Der stille Schrei

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