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Kapitel 2

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Aufbruch ins Unbekannte

Der Frankfurter Bahnhof ist zu der Zeit einer der größten Europas und jedes Mal, wenn man ihn betritt ist es ein überwältigendes Gefühl. Die fünf großen Glashallen, unter denen die Züge in den Bahnhof ein und ausfahren, sind sein Markenzeichen.

Mein Zug fährt um 11:15 Uhr von Gleis 8, das bedeutet ich habe noch gut zwanzig Minuten Zeit. Ich bitte den Fahrer mich zu meinem Zug zu begleiten und meinen Koffer zu verstauen. Als ich meine Kabine betrete, überkommt mich ein Gefühl der Einsamkeit und Stille. Oh, Mann! Es ist so verdammt ruhig hier drin. Wie soll ich das nur ganze sieben Stunden ertragen?

Ich setze mich auf eine der beiden Sitzbänke, die mit einem sehr edlen, dunkelroten Samtstoff überzogen sind. Die Kabine ist allgemein sehr dunkel eingerichtet und irgendwie fühle ich mich etwas unbehaglich. Mein hellbeiges langes Kleid wirkt wie ein riesiger Farbklecks in der dunklen Kabine. Ich mag dieses Kleid sehr. Mein Vater hatte es mir in unserem Urlaub in Italien gekauft. Es ist an der Taille sehr eng geschnitten und zeigt etwas Ausschnitt. An den Beinen ist es weit ausgestellt, fast so als würde ich einen weiten Unterrock tragen. Da heute eine kalte Brise weht, habe ich mich für eine rosafarbene Jacke entschieden, die mich etwas wärmt. Ich ziehe mir die beigen Spitzenhandschuhe aus, um es mir ein bisschen gemütlicher zu machen. Ich vermisse meine Eltern jetzt schon. Hoffentlich war es die richtige Entscheidung über den Sommer weg zu fahren – allein.

Ich spüre, wie der Sitz unter mir anfängt zu vibrieren. Es scheint los zu gehen! Auf einmal empfinde ich ein flaues Gefühl in meiner Magengrube. Meine Eingeweide scheinen sich in einander zu verknoten, es ist beinahe unerträglich. In weniger als sieben Stunden werde ich in einer fremden Stadt, in einem fremden Land mit fremden Menschen sein, um dort für vier Monate zu leben. Für jemanden, der sein ganzes Leben kaum einen Fuß vor die Tür gesetzt hat, ist das schon ein sehr großer Schritt. Verdammt! Was hab ich nur getan? Ich muss hier raus, sofort!

In dem Moment, als ich aufstehen will, gibt der Zug ein lautes Pfeifgeräusch von sich. Oh, nein! Es ist zu spät. Mit einem Ruck setzt der Zug sich in Bewegung und wir fahren langsam aus dem Bahnhof heraus. Ich lasse mich zurück auf die Bank fallen und gebe ein dumpfes Stöhnen von mir. Jetzt ist es wohl endgültig.

Aus meiner Ledertasche, die einer Art Aktentasche ähnelt, ziehe ich mein Lieblingsbuch heraus „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi. Mein Lesezeichen, ein längliches Stück Pergamentpapier, auf dem ein gepresstes Gänseblümchen klebt, liegt zwischen den Seiten an meiner Lieblingsstelle. Vor vielen Jahren, ich war ungefähr elf Jahre alt, entdeckten mein Vater und ich während eines Spazierganges eine wunderschöne Wiese mit abertausenden von Gänseblümchen. Es war einer der schönsten Anblicke, die ich in meinem, bisher kurzem Leben sehen durfte. Mein Vater und ich spielten den ganzen Nachmittag dort. Es war wunderbar.

Nach einer wilden Verfolgungsjagd quer über die Wiese und den kleinen angrenzenden Bach, pflückte mein Vater ein Gänseblümchen aus dem hohen Gras und steckte es mir hinters Ohr. Jedes Mal, wenn ich dieses Buch öffne, muss ich an diesen herrlich unbeschwerten und absolut vollkommenen Tag denken. Um ihn auf ewig in unserer Erinnerung zu bewahren, schlug mein Vater vor, das Gänseblümchen in einem Buch zu pressen und mir daraus ein Lesezeichen zu basteln. Bis heute habe ich es nicht vergessen.

An meinem Fenster ziehen grüne Wiesen vorbei. Ich schaue zu der Landschaft und fühle mich einen kurzen Moment wieder, wie zuhause. Der Blick aus meinem Fenster auf die alte Eiche, bis zu den endlosen Feldern, erscheint mir vor meinem geistigen Auge. Ich kann die frische, nach Blumen duftende Luft beinahe riechen. Was würde ich geben, um in diesem Moment wieder dort zu sein und nicht hier allein in einer düsteren Kabine auf dem Weg ins Unbekannte. Etwas reißt mich aus meinen Gedanken.

Mit einem lauten Knall öffnet sich die Tür zu meiner Kabine und ein junger Mann stürmt hinein. Er trägt ein weißes Leinenhemd und eine braune, abgetragene Cordhose dazu. Erst glaube ich, dass er zum Servicepersonal gehört, aber seine zerschlissene Kleidung lässt etwas anderes vermuten. Mein Blick wandert weiter nach oben zu seinem Gesicht. Oh Mann, er sieht verdammt gut aus! Er hat dunkelbraunes, leicht gelocktes Haar und trägt einen Drei-Tage-Bart. Aber seine Augen! Sie scheinen mich zu durchdringen. Ja wirklich, er scheint direkt in mich hineinzusehen. Sie sind weder blau noch grau, sie sind eisig, vollkommen klar. Ich bin wie paralysiert von seiner Erscheinung. Mein Mund öffnet sich und ich schaue ihn mit aufgerissenen Augen an und das erste, was mir entfährt ist ein leises, kaum hörbares »Hallo!«

Nun scheint auch er mich vollkommen paralysiert anzusehen. Mit einer eleganten Bewegung schiebt er die Tür hinter sich zu und bewegt sich langsam auf mich zu. In diesem Moment komme ich wieder zur Besinnung und es sprudelt nur so aus mir heraus.

»Was zum Teufel machen sie hier drin? Raus, sofort!« Er scheint erschrocken von meiner Reaktion zu sein, weicht jedoch nicht zurück. Auf einmal bemerke ich seine Nervosität, er schwitzt und zappelt aufgeregt mit den Armen um sich.

»Excusez-moi! Mademoiselle, aber ich müsste mal unter ihren Rock!« Wie bitte? Habe ich mich gerade verhört? Bin ich etwa immer noch betäubt von seinem vollends perfekten Gesicht? Was ist hier los?

»Bitte, Mademousille! Ich bin mir der durchaus unkonventionellen Bitte bewusst, aber schnell.« Er sieht mich mit nervösem und zugleich forderndem Blick an, wartend auf eine Antwort.

»Nein«, quieke ich. »Das ist nicht nur eine überaus unkonventionelle Bitte, sondern eine obszöne noch dazu. Sehe ich etwa so aus als…«, noch bevor ich meinen Satz vollenden kann, kommt der Fremde, verdammt gut aussehende Mann mit einem Satz auf mich zugesprungen und hält mir seine Hand vor den Mund. Gott, riecht der gut! Erst jetzt bemerke ich seinen süßen, beinahe himmlischen Duft. Und seine Hände! Sie sind beharrt und groß, so männlich. Seine Adern treten heraus. Er ist angespannt, blickt mir jedoch direkt in die Augen. Jetzt kann ich seine Augen noch besser sehen. Er sieht direkt in mich hinein.

»Ich werde jetzt den Saum deines Rockes hochziehen und mich darunter verstecken. Da draußen sind ein paar wirklich wütende Männer, denen ich nicht über den Weg laufen sollte.« Ich versuche seinen Worten zu folgen, doch sein süßer Geruch macht es mir unmöglich.

»Ich werde mich auch nicht genauer dort unten umschauen, versprochen.« Sein Mund formt sich zu einem verschmitzten Lächeln. Ich bin vollkommen in Trance. Was hat er gesagt?

Bevor ich auch nur über eine Antwort nachdenken kann, bewege ich meine Hand in Richtung meines Saumes und ziehe meinen Rock bis unterhalb meines Knies hoch. Verflixt nochmal, was tue ich hier? Ich lasse einen wildfremden Kerl sich unter meinem Rock verstecken, nur weil er schöne Augen hat? Seine Augen sind aber auch verflucht schön!

In weniger als drei Sekunden scheint er komplett unter meinem, zuvor schon opulenten Kleid, verschwunden zu sein. Ich spüre seinen Atem in meiner Kniekehle und zugleich ein fremdartiges Ziehen unterhalb meines Bauchnabels. Nicht zu vergleichen mit dem krampfartigen Gefühl in meiner Magengrube von vorhin. Im Gegensatz dazu fühlt es sich irgendwie gut an. Es klopft an der Tür.

»Ja, bitte!« Zwei Fahrkartenkontrolleure betreten meine Kabine.

»Entschuldigen sie, Fräulein…« Fragend und zugleich beschämt sieht mich der Kontrolleur an, weil er meinen Namen nicht weiß.

»Fräulein Rosenberg.« Ich klinge bestimmt.

»Entschuldigen sie, Fräulein Rosenberg. Wir sind auf der Suche nach einem jungen Mann.« Mir stockt der Atem »Er ist ungefähr 1,85 m groß und hat dunkles Haar. Er konnte leider kein Fahrticket vorweisen und verschwand in diesem Wagon. Haben sie etwas gesehen?« Mist! Was sag' ich nur? Hilfe!

»Äh, nein. Niemand. Ich meine, ich habe nichts Auffälliges bemerkt« Na klar, nur den fremden Kerl unter meinem Rock. Ich spüre wieder seinen Atem in meiner empfindlichen Kniekehle.

»Sind sie sicher?« Die beiden Männer schauen mich verdutzt an. Ich scheine nicht gerade überzeugend zu sein. Lass dir was einfallen, Emilia! Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich.

»Meine verehrten Herren, mein Vater Wilhelm Rosenberg hat eine Menge Geld bezahlt, damit ich eine unbeschwerte und vor allem ruhige Reise habe. Würden sie mich also jetzt entschuldigen?« Wow! So einen Ton kenne ich gar nicht von mir. In Gedanken klopfe ich mir auf die Schulter.

»Aber natürlich, Fräulein Rosenberg. Wir werden sie nicht weiter belästigen! Entschuldigen sie die Störung!« Man sieht ihnen an, dass sie sich ganz schön auf den Schlips getreten fühlen. »Eine gute Fahrt noch.« Sie treten beide aus der Kabine und schieben die Tür hinter sich zu.

Stille! Ich spüre nicht einmal mehr seinen Atem an meinem Bein. Ist er noch da? Ich sollte vielleicht mal nachsehen. Oder? Ich kann ja wohl kaum die ganze Fahrt so sitzen bleiben, mit einem Mann zwischen meinen Beinen. Langsam bewege ich mich mit meinem Oberkörper nach unten, ziehe den Saum meines Kleides nach oben und schaue kopfüber unter meinen Rock in sein Gesicht.

»Bon jour!« Er sieht mich abermals mit diesem verschmitzten Lächeln an. Wir blicken uns direkt in die Augen, wie alte Vertraute, die sich eine lange Zeit nicht gesehen haben. Sekunden vergehen.

»Würdest du mir vielleicht den Weg frei machen«, fragt er. Ich schaue ihn verwundert an. Den Weg frei machen?

»Dein hübsches Köpfchen versperrt mir den Weg.« Er lächelt und zwinkert mir dabei zu.

»Ach so. Ja, natürlich.« Als ich mich mit einem eleganten Schwung wieder aufrichte, merke ich erst wie mir das Blut in den Kopf gestiegen ist. Kleine schwarze Punkte erscheinen vor meiner Iris. Wie lange habe ich nur da unten gehangen?

»Geht es dir gut?« Seine wunderschönen Augen blicken mich besorgt an.

»Ja, alles in Ordnung! Dürfte ich vielleicht erst einmal erfahren, was das hier sollte? « Ich versuche mein Gleichgewicht wieder zu finden und schaue ihn etwas verwirrt an.

»Ich brauchte einen Unterschlupf.«

»Und mein Rock kam dir da wohl sehr gelegen?« Was bildet er sich nur ein?

»Um ehrlich zu sein, ja.« Da ist es wieder, dieses verschmitzte Grinsen. »Wenn ich mich vorstellen darf, Jean Bastian Renouard. Aber für dich...«, er nimmt meine Hand »…bin ich nur Bastian.« Er ist Franzose? Das hätte ich mir eigentlich denken können; die französischen Floskeln, sein Charme.

»Also gut, NUR BASTIAN! Ich bin Emilia Rosenberg und auf dem Weg nach Paris, wie du dir vielleicht schon denken kannst. Und was hast du jetzt vor?« Ich schaue ihn mit gehobener Augenbraue an.

»Ich würde gern den oberen Teil von dir kennenlernen!« Er hebt seinen Zeigefinger und deutet auf meinen Rock »Diesen Teil kenne ich ja bereits.« Ich spüre wie die Hitze mir in den Kopf steigt. Ich werde feuerrot und mir wird erst jetzt bewusst, was sich überhaupt in der letzten viertel Stunde in dieser Kabine abgespielt hat. Meine Kehle ist staubtrocken. »Ich hatte eigentlich nicht vor, die nächsten sechs Stunden in Begleitung zu verbringen. In dieser… kleinen….Kabine!« Was rede ich da? Er ist süß! Bitte, bleib hier!

»Dann hast du es eben jetzt vor. Ich verspreche auch, hier OBEN auf meinem Platz zu bleiben.« Ich sehe ihn vollkommen verwirrt an.

»Aha! Ich glaube du hast ja auch gar keine andere Möglichkeit als mit mir hier zu bleiben, oder Monsieur Schwarzfahrer?« Endlich habe ich mein Selbstbewusstsein wieder zurück. Ich richte mich auf und versuche meinen Rücken durchzudrücken, damit meine Silhouette gut zur Geltung kommt.

»Gut erkannt, Emilia!« Langsam setzt er sich auf die Bank gegenüber von mir und macht es sich bequem. »Was treibt dich nach Paris«, fragt er entschlossen.

»Ich werde für vier Monate bei Verwandten leben, bevor im Herbst mein Studium beginnt.« Warum erzähle ich ihm das? Ich kenne ihn doch gar nicht! »Und du? Warum sprichst du so gut deutsch?« Ich strenge mich an, meine Körperspannung zu halten. Ich muss gut aussehen!

»Mein Vater ist Deutscher.« Sein Blick wird düster, er schließt kurz die Augen und sieht mich dann wieder an.

»Ich lebe in Paris. Das ist meine Heimat aber ich kann beide Sprachen fließend sprechen.« Sein Blick wandert über meinen Körper. Ob er bemerkt wie angestrengt ich dasitze?

»Genug von mir. Ich will mehr über dich erfahren. Du bist sehr schön!« Schon wieder wird mein Gesicht knallrot.

»Ich glaube nicht, dass du einen Freund hast.« Was fällt ihm ein?

»Wie bitte? Was für eine intime Frage!« Ich schaue beschämt aus dem Fenster.

»Ich würde aber gern mit dir intim werden.« Mir fällt die Kinnlade herunter. Hat er das gerade laut gesagt?

»Zumindest, was deine Persönlichkeit angeht. Oder an was hattest du gedacht?« Sein Grinsen wird immer breiter und von jetzt auf gleich brechen wir in lautes Gelächter aus. Mein steifer, angespannter Rücken windet sich von einer zur anderen Seite. Ich kann mich nicht mehr halten. Mir ist vollkommen egal, ob meine Silhouette eine perfekte S-Kurve bildet oder ich aussehe wie ein zusammen gefallener Kartoffelsack. Dieser Kerl bringt mich einfach um den Verstand. Ich lege meine Hände auf meinen ausgestreckten Bauch. »Ich muss schon sagen, Monsieur Schwarzfahrer, sie erweisen sich als eine sehr unterhaltsame Reisebegleitung.« Ich bin absolut entzückt von ihm. Was für ein toller Mann!

»Stets zu ihren Diensten, Mademoiselle Rosenberg.« Er salutiert und wir fangen abermals laut an zu lachen. Als wir uns wieder gefangen haben, sieht er mir ganz tief in die Augen. Mein Körper ist sofort angespannt und ich habe das Gefühl, nicht einmal mehr meinen kleinen Zeh bewegen zu können. »Du bist wirklich sehr schön.« Mein Gesicht scheint in Flammen zu stehen. Noch nie habe ich diese Worte aus dem Mund eines Mannes gehört. Ich fühle mich ihm schon so nahe, obwohl ich ihn erst seit einer halben Stunde kenne. Was geschieht bloß mit mir?

»Hat dir ein Mann so etwas schon einmal gesagt?« Sein Blick ist sanft und lieb, sodass ich mich nicht schäme für meine Antwort »Nein, noch nie!«

»Dann wurde es ja mal höchste Zeit. Eine Frau wie du sollte so etwas jeden Tag hören.« Eine Frau wie ich! Als eine Frau hatte ich mich bis eben noch nie gesehen. Ich bin siebzehn. Ist man dann schon eine Frau? Ich verwerfe den Gedanken wieder, meine Aufmerksamkeit gilt jetzt nur diesem reizenden, wunderschönen, jungen Mann vor mir. Hm, Bastian! Was für ein schöner Name!

Ein Jahr mit Dir

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