Читать книгу Ein Jahr mit Dir - Lisa Karen - Страница 6

Kapitel 4

Оглавление

Ein ganz neuer Lebensstil

Bastian! Wo bist du? Ich stehe auf dem vollkommen verlassenen Bahnhof von Paris, ohne Schuhe und nur mit meinem Nachthemd bekleidet. Es ist dunkel und ein leichter Nebelschwall umgibt die Gleise. Mir ist kalt! Ich fühle mich furchtbar allein. In der Ferne entdecke ich eine schwarze Gestalt, die jedoch durch den Nebel nicht zu erkennen ist. Wer ist das? Bastian?

Ich rufe seinen Namen, doch die Gestalt regt sich nicht. Warum bin ich hier und vor allem, wie bin ich nur hierher gekommen? Auf einmal überkommt mich ein kalter Schauer und die Einsamkeit in mir breitet sich weiter aus. Ich fühle mich absolut furchtbar. Die Gestalt regt sich immer noch nicht. Was soll das? Ich rufe immer wieder Bastians Namen, bekomme jedoch keine Antwort. Der Nebel wird stärker und die fremde Gestalt verblasst immer mehr. Auf einmal packt mich etwas von hinten an den Schultern und ich schreie!

»Emilia, moi jolie! Geht es dir gut?« Ich schrecke auf und bemerke meine Tante Joselin, wie sie sich über mich gebeugt hat. Sie hat sich auf die Bettkante meines Bettes gesetzt und streicht mir sanft über die Stirn. Erst jetzt begreife ich, dass alles nur ein Traum war. Gott sei Dank!

»Mein Schatz, du hast nur schlecht geträumt. Beruhige dich!« Ihre sanfte Stimme beruhigt mich sofort. Ich bin leicht verschwitzt und auch die Bettdecke hat etwas abbekommen.

»Du solltest dich erst mal waschen gehen. Und wenn du fertig bist, warten unten warme, buttrige Croissants auf dich.« Sie streicht mir abermals übers Haar.

»Ja, das mache ich. Ich brauche nur ein paar Minuten«, antworte ich ihr.

Tante Joselin verschwindet nach unten und ich mache mich auf den Weg ins Bad. Eigentlich hätte ich keine Kosmetik mitbringen müssen, dort liegt alles schon für mich bereit. Wunderbar duftende Seife, eine fein geborstene Haarbürste, herrliche Frottee-Handtücher, auf denen sogar meine Initialen gestickt sind. Tante Joselin hat wirklich an alles gedacht. Ich brauche nicht lange bis ich fertig gewaschen und angezogen bin. Ich entscheide mich für ein sommerliches, hellblaues Kleid mit einem leichten Ausschnitt. Um Die Taille binde ich mir ein weißes Satinband. Da es noch früh ist und bestimmt noch nicht so warm, ziehe ich mir eine leichte Strickjacke über. Mein langes goldbraunes Haar fällt in leichten Wellen über meine Schulter. Ich befinde mich im Spiegel für gut und hopse leichtfüßig die Treppe hinunter. Der Duft von ofenfrischen Croissants steigt mir sofort in die Nase. Hm! Lecker! Ich habe einen Bärenhunger! Tante Joselin und Marguerite haben bereits am Tisch Platz genommen.

»Guten Morgen alle zusammen!« Mit einem breiten Grinsen, begrüße ich die zwei. Marguerites Miene hat sich seit gestern Abend kaum verändert. Sie ist mal wieder mürrisch. Ich beachte sie nicht weiter und mache mich über die köstlichen Buttercroissants her.

»Probier’ die Himbeer-Konfitüre dazu, Emilia! Sie ist überaus delikat«, schlägt Tante Joselin vor. Ich bestreiche die Spitze meines Croissants mit der glänzenden Konfitüre und nehme einen großen Bissen.

»Hm, du hast nicht untertrieben! Das ist die reinste Geschmacksexplosion in meinem Mund. Köstlich!« Sie lächelt mir zu und nimmt einen Schluck von ihrem Pfefferminztee.

»So ihr zwei Süßen, was habt ihr denn heute vor?« Tante Joselin blickt abwechselnd von Marguerite zu mir. Marguerite scheint sich deutlich unwohl in ihrer Haut zu fühlen. Liegt ihre seltsame Laune etwa an mir?

»Mamá, ich hatte doch schon gesagt, dass Amelie und Valerie zum Nachmittagstee kommen.« Marguerite scheint nicht wirklich Lust zu haben mit mir den Tag zu verbringen.

»Und ich dachte du würdest Emilia ein wenig die Stadt zeigen, Schatz! Ich habe heute einen wichtigen Termin mit der Frau des Polizeidirektors. Wir müssen noch einiges für den Wohltätigkeitsball nächste Woche vorbereiten.« Tante Joselin hat keinen wirklichen Beruf, sondern kommt ihren Pflichten als treusorgende Ehefrau und engagierte Gesellschaftsfrau, wie man es in ihren Kreisen bezeichnet, nach.

»Aber Mamá, ich habe auch einige wichtige Termine. Mein Kleid ist immer noch nicht fertig. Mademousille DuPres ist mal wieder in Verzug. Das Kleid sitzt einfach viel zu locker. Diese Person schafft es nicht einmal richtig Maß zu nehmen.« Marguerites Augen werden immer düsterer und scheinen förmlich heraus zu springen. Tante Joselin ist offensichtlich verärgert über Marguerites Verhalten.

»Marguerite, so habe ich dich glaube ich nicht erzogen. Wenn du vielleicht mal etwas Anständiges essen würdest, müsste Mademousille DuPres auch nicht jedes Mal dein Kleid enger machen!« Tante Joselin atmet tief ein. Sie muss sich wahrscheinlich selbst erst einmal beruhigen.

»Wir werden beide am Freitag zusammen zu Madame DuPres fahren. Das spart Zeit und Geld. Und heute wirst du Emilia zumindest den Eiffelturm zeigen, verstanden?« Auch ihre Augen scheinen beinahe aus ihrem Gesicht zu springen. So erzürnt habe ich sie noch nie erlebt, aber bei Marguerite wundert es mich nicht wirklich.

»Oui, Mamá!« Mit gesenktem Blick fügt sich Marguerite ihrem Schicksal. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich diese Launen den ganzen Tag ertragen würde. Verdammt!

»Sehr schön! So könnt ihr beide euch ein wenig näher kennenlernen und später kannst du Emilia ja noch deinen Freundinnen vorstellen. So lernt sie schnell neue Menschen kennen.« Tante Joselin wirft uns beiden ihr schönstes Lächeln zu.

»Wie bitte?« Marguerite scheint hingegen nicht zu Lachen zu Mute sein. »Mamá, das kann wirklich nicht ...«, sie verstummt.

»Keine Diskussion! Ich bin mir sicher ihr werdet euch sehr gut verstehen. Ich für meinen Teil, treffe mich jetzt mit Madame Lacroix in der Galerie Lafayette.« Sorgsam faltet sie ihre Serviette auf dem Schoß zusammen und legt sie neben ihren Teller. »Ihr werdet schon euren Spaß haben. Wir sehen uns zum Abendessen.« Sie kommt auf Marguerite zu und gibt ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. »Était bon! Mon préféré!« Trotz ihres Streits sind sie sehr liebevoll zueinander. Mir würde das bei einer so launischen Person wie Marguerite schwer fallen. Ich finde sie einfach nur unsympathisch.

»Au revoir, Tante Joselin. Viel Spaß!« Sie verlässt den Raum und ich schaue zu Marguerite, die anscheinend ebenfalls aufbrechen will. »Und? Wollen wir zu Fuß gehen? Heute ist so ein herrlicher Tag. Ich bin schon ganz aufgeregt.« Voller Vorfreude schlage ich meine Hände vor mir zusammen.

»Moment Mal, du glaubst doch nicht wirklich, dass ich mit dir auch nur einen Fuß vor die Tür setze?« Mit so einer Reaktion hatte ich jetzt nicht gerechnet. Was ist denn mit mir nur verkehrt? »Wie meinst du das?« Ich blicke sie zugleich verwirrt und erschrocken über ihre Unfreundlichkeit an.

»Wie ich das meine? Du bist hier in Paris und nicht in irgendeiner Provinz. In den Lumpen kannst du hier nicht mal auf den Wochenmarkt zum einkaufen gehen! Da sind ja unsere Bedienstete besser gekleidet.« Wie bitte? Lumpen! Das Kleid ist von meiner Mutter. Die spinnt doch!

»Ich trage bestimmt keine Lumpen. Ich hätte nicht gedacht, dass du so eine Enttäuschung für mich sein würdest. Danke für die herzliche Begrüßung, Cousinchen!« Mit Tränen in den Augen, renne ich aus dem Zimmer durch den Salon, hinaus in den Garten. Die Sonne scheint herrlich warm und eine leichte Brise umgibt mich. Ich setze mich auf die steinerne Bank neben dem kleinen Brunnen mit den tänzelnden Elfen. Ein guter Platz, um zu weinen. Niemand ist in der Nähe und sofort bricht es aus mir heraus. All mein Frust über Marguerite, der abrupte Abschied von Bastian und mein Heimweh überkommen mich. So habe ich mir meine Ferien nicht vorgestellt, weinend in einem einsamen Garten mitten in Paris. Eigentlich sollte ich jetzt an der Seine spazieren, ein kühles Eis verspeisen und bis zur Spitze des Eiffelturms aufsteigen. Was habe ich ihr denn nur getan?

»Emilia!« Marguerites Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich drehe mich um und erblicke sie ein paar Meter von mir entfernt. Sie sieht besorgt aus. Vielleicht hat sie ja ihre Meinung geändert? »Geht es dir gut«, fragt sie fürsorglich.

»Danach sieht es glaube ich nicht aus!« Ich krame aus der Seitentasche meines Kleides ein Stofftuch heraus und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. »Was willst du?« Ich schäme mich ihr mein verheultes Gesicht zu zeigen. Sie in ihrem perfekten Kleid, mit ihren perfekten Schuhen und ihrem perfekten Gesicht. Sie muss bestimmt nie weinen und wenn, dann sieht sie immer noch perfekt aus.

»Ich wollte mich bei dir entschuldigen!« Langsam kommt sie auf mich zu.

»Entschuldigen? Steht Tante Joselin im Salon oder warum bist du auf einmal so nett?« Ich runzle die Stirn. Mal sehen, was sie sich jetzt wieder hat einfallen lassen.

»Ich glaube, ich habe eben ein wenig überreagiert. Je suis desole! Wirklich!« Sie setzt sich neben mich auf die Bank. Ihr rot gelocktes Haar wirkt in der Sonne noch edler. Ich weiß nicht so recht, was ich von ihrem Stimmungsumbruch halten soll. Vielleicht ist sie auch einfach nur eine sehr gute Schauspielerin.

»Na komm, jetzt sei nicht so stur!« Ihre Gesichtszüge werden von Sekunde zu Sekunde weicher. Ich denke ich muss ihr einfach vertrauen. Was habe ich schon zu verlieren?

»In Ordnung. Wir hatten wohl einfach einen schlechten Start. Ich verzeihe dir, Marguerite!« Wir nehmen uns in den Arm und blicken uns einige Sekunden stillschweigend an. Das erste Mal habe ich das Gefühl, in Marguerite eine Freundin finden zu können. Sie wäre meine erste. Wie seltsam sich das anhört? Noch nie habe ich mich mit einem Mädchen in meinem Alter über mehr, als meine schulischen Aktivitäten unterhalten. Ab und zu veranstaltete mein Vater im Sommer Grillfeiern bei uns zuhause, zu denen nur die renommiertesten Ärzte, Anwälte und Geschäftsmänner aus der Region kamen. Natürlich brachten diese auch ihre Frauen und Kinder mit. Die Mädchen in meinem Alter grenzten mich meistens aus, da ich nicht mit ihnen auf die Schule ging, sondern Privatunterricht bekam. Ich glaube sie dachten, ich würde mich für etwas Besseres halten und keinen Wert auf ihre Gegenwart legen. Aber ich war einfach nur schüchtern und nicht geübt im Umgang mit Gleichaltrigen. Ich spüre, dass sich in der Hinsicht nun etwas verändern könnte.

»Und jetzt machen wir dich erst einmal richtig hübsch, Cousinchen!« Wie bitte? Worauf hab ich mich da nur eingelassen?

Sie zieht mich an der Hand, zurück ins Haus und die Treppe hinauf. »Wo gehen wir hin?« Meine Stimme zittert. Was hat sie wohl mit mir vor?

»In mein Zimmer! Oder besser gesagt meinen persönlichen Verschönerungssalon.« Ich bete, dass das nicht ihr Ernst ist. Sie öffnet die elfenbeinfarbenen Flügeltüren zu ihrem Zimmer. Zimmer ist da wohl der falsche Ausdruck. Das ist eher eine ganze Wohnung. Der erste Raum ihres „Zimmers“ ist wie eine Art Salon gestaltet, dessen Zentrum zwei opulente Sofas bilden. Es ist alles im Stil der Renaissancezeit gestaltet und unglaublich hell und warm. Marguerite stürmt sofort in einen zweiten Raum links von mir. Ich stehe wie angewurzelt da, überwältigt von all der Helligkeit und Schönheit hier. »Wo bleibst du denn?« Mit zaghaften Schritten folge ich ihr. Sofort wird mir bewusst, dass ich mich in ihrem Ankleidezimmer befinde. Auf circa fünfzehn Quadratmetern befinden sich zahllose Kleider, Kostüme, Pelzmäntel und Schuhe. Ich zähle an die zwölf Hüte, die sich auf einem Regal, über ihren Seidentüchern befinden. Welcher Mensch braucht so viele Hüte?

»Ich weiß, es ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber mein Papa liebt mich einfach zu sehr!« Sie strahlt über das ganze Gesicht und tänzelt an den Abendkleidern entlang.

»Ja, das scheint wirklich eine ganz besondere Liebe zu sein!« Immer noch schockiert von der Masse an Kleidung, bemerke ich nicht wie Marguerite verschiedene Kleider aus dem Schrank nimmt und mir an den Körper hält. »Was machst du da?« Sie scheint wie besessen von ihren Sachen zu sein. »Ich überlege, ob dir dieses Kleid von Chanel oder das Kostüm von Jean Patou besser stehen würde. Zusammen mit der Tasche von Hermes und diesen Sandaletten. Ah, ich glaube die Cremefarbenen passen besser dazu. Ja, ich glaube das funktioniert.« Bitte was?

»Ich mag meine Sachen! Außerdem haben wir ja nicht vor zu einer Gala zu gehen.« Mit einem Mal scheint sie wie erstarrt und blickt mich mit weit aufgerissenen, ja beinahe vorwurfsvollen Augen an.

»Ich glaube, ich muss dir mal eine Sache gleich von Anfang an klar machen. Paris ist nicht nur die Stadt der Liebe, sondern auch die Stadt der Mode. Sie lebt beinahe von ihr. Jeder Designer, der etwas von sich hält kommt hier her, weil wir Pariser unsere Passion zur Mode leben. Wir werfen uns morgens nicht einfach nur irgendein Stück Stoff über und sagen dann: „Ich mag meine Sachen!“ « Oh mein Gott, da scheine ich wohl in einen Bienennest gestochen zu haben. Und der Inhalt gefällt mir wirklich gar nicht!

»Jedes unserer Kleidungsstücke spiegelt unser Innerstes wieder, unsere Stimmung, unseren Glauben, unsere Sexualität!« Was habe ich nur getan? Sie scheint das wirklich ernst zu meinen.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du nur hergekommen bist, um dir den Eiffelturm anzusehen, oder?« Ihr Blick wird weicher und ich glaube ein verschmitztes Lächeln zu erkennen. Sollte ich ihr vielleicht von Bastian erzählen? Vielleicht könnte sie mir helfen ihn zu finden. Seit gestern ist nicht eine Minute vergangen, in der ich nicht an ihn gedacht habe. Das Gefühl von seinem Atem in meiner Kniekehle ist noch genauso intensiv spürbar wie gestern. Es wäre eine Tragödie, wenn wir nur diese eine Zugfahrt miteinander gehabt hätten. Von der ersten Sekunde an, wusste ich, dass zwischen uns eine ganz besondere Verbindung besteht.

»Ja, du hast ja Recht Marguerite. Um ehrlich zu sein, durfte ich schon ein wenig von den verbotenen Früchten Paris' kosten!« Habe ich das jetzt laut gesagt? Ich hoffe inständig sie versteht es und verurteilt mich nicht.

»DU KLEINES LUDER! Ich wusste, dass deine Ich-bin-das-unschuldige-Mädchen-vom-Lande-Nummer nur Fassade ist.« Mist! Ich hätte es wissen müssen. Hoffentlich erzählt sie es nicht Tante Joselin. Das wäre mein Ende!

»Du bist doch erst gestern angekommen und schon schnürst du deinen Keuschheitsgürtel etwas lockerer! Ich fasse es nicht.« Sie lässt sich rückwärts auf die kleine Sitzbank hinter ihr fallen, die Kleider immer noch fest umschlungen.

»Nein! Marguerite, ich habe nicht..., na du weißt schon! Es war auf der Zugfahrt.« Meine Gedanken überschlagen sich. Wo soll ich nur anfangen?

»Auf der Zugfahrt? Du konntest es also nicht einmal abwarten bis du in Paris warst? Onkel Willi scheint die Leine ja ganz schön kurz gehalten zu haben.« Wie bitte? Langsam fängt sie an mir auf die Nerven zu gehen.

»Nein, du verstehst das alles ganz falsch!« Ich setze mich neben sie auf die Bank und versuche meine Worte etwas besser zu wählen. »Ich habe ihn auf der Zugfahrt kennengelernt, er kam zur mir. Und wir haben uns dann unterhalten, so etwa sechs oder sieben Stunden.« Erst jetzt bemerke ich wie absurd sich das anhören muss.

»Unterhalten?«

»Ich weiß, wie sich das jetzt anhören muss, aber es war einfach nur ... magique! Im Moment weiß ich aber leider nicht wo er ist. Wir wurden getrennt und ich hatte keine Zeit ihn zu fragen, wo er wohnt.« Mein Blick wandert zu meinen Händen, die sich nervös ineinander vergraben. Es macht mich traurig an ihn zu denken.

»Ich glaube Emilia, wenn es wirklich Magie war und immer noch ist, wird er dich finden. Er ist bestimmt jetzt, in diesem Moment schon auf der Suche nach dir, und glaube mir Pariser Männer können in der Hinsicht wirklich erfinderisch sein.«

Sie ergreift meine Hand und drückt sie ganz fest. Sie scheint wirklich auch eine liebevolle und mitfühlende Seite zu haben. »Ich hoffe du behältst Recht, Cousinchen.« Da müssen wir beide lachen und zum ersten Mal in meinem Leben, habe ich das Gefühl eine Freundin gefunden zu haben.

»Und jetzt mein kleiner Trauerkloß, machen wir dich erst mal Paris tauglich. Raus aus dem Ding!« Mit einem Satz springt sie von der Bank auf und zieht mir mein geliebtes Baumwollkleid über den Kopf. Meine Chancen sich dieser modischen Tortur zu entziehen sinken schlagartig.

In der nächsten Stunde probiere ich zahllose Kleider, Röcke und Hüte an. Ich komme mir vor wie ihr Schaufensterpüppchen, das sich aufgrund seiner eingeschränkten Möglichkeiten, nicht widersetzen kann. Als endlich etwas Passendes gefunden ist und ich meiner Erlösung bereits entgegen fiebere, winkt Marguerite mich zu einem gigantischen Frisier-und Schminktisch herüber. Den hatte ich bei den ganzen Kleidern glatt übersehen. Eine weitere Stunde vergeht, in der meine Haare auf überdimensionale Wickler aufgedreht werden, mein Gesicht unter einer Schicht Puder und Rouge zu versinken scheint und meine Augenbrauen einer Foltermethode unterzogen werden. Zwei Stunden in Marguerites Schönheitssalon, haben aus mir ein aufgetakeltes Püppchen gemacht, das jedoch unter all den anderen hier nicht allzu sehr auffallen dürfte. Dann hatte das Ganze wohl doch noch etwas Gutes.

»Und? Was sagst du?« Ihre hoffnungsvollen, großen Augen blicken mich fragend an. Ich habe keine andere Wahl, als etwas Positives über meine Verwandlung zu sagen.

»Schön!« Hoffentlich bemerkt sie nicht den ironischen Unterton, der meiner Meinung nach kaum zu überhören ist. »So anders. Hast du wirklich gut gemacht!« Abgesehen von der Schminke und den hohen Schuhen ist es eigentlich ganz in Ordnung. Sie hatte für mich ein cremefarbenes Etuikleid ausgesucht, über dem ich noch eine passende Jacke trage. Meine Haare sehen eigentlich aus wie immer, nur noch etwas voluminöser und glänzender. Alles in allem, doch nicht so übel. Ich muss mich wahrscheinlich einfach erstmal daran gewöhnen.

»Gefällt es dir wirklich? Ich finde es klasse. Es holt irgendwie das Beste aus deinem Typ heraus!« Sie scheint nichts von meiner leichten Abneigung gegenüber meines neuen Aussehens bemerkt zu haben.

»Können wir jetzt bitte los? Es ist schon nach elf und ich würde gerne noch so viel sehen heute.« Erst jetzt fällt mir auf, dass wir über zwei Stunden mit dieser vollkommen überflüssigen Prozedur verbummelt haben. Ich könnte jetzt schon dreimal auf dem Eiffelturm gewesen sein.

»Ja, wir machen uns jetzt auf den Weg. Immer mit der Ruhe! Paris läuft uns bestimmt nicht weg!« Wir finden schnell unsere passenden Handtaschen in Marguerites Kleiderschrank und machen uns auf den Weg nach unten. Als wir in der großen, mit Marmor übersäten Eingangshalle stehen, ruft Marguerite laut einen Namen. »Eleazar!« Ich zucke zusammen. Ein großer, stattlicher Mann in einem schwarzen Anzug tritt aus dem Salon zu uns. Ich habe ihn schon einmal gesehen, als er Onkel Pierre und mich vom Bahnhof abgeholt hat. Erst jetzt fällt mir auf, wie gut er aussieht und dass er sehr muskulös unter seinem Anzug zu sein scheint.

»Nous tenons à manger pour le déjeuner à La Coupole!« Langsam versuche ich in meinem Kopf ihre Worte zu übersetzen, aber ihr Akzent ist wirklich grauenhaft. Warte mal! Essen gehen? Jetzt?

»Marguerite! Wir wollten doch zum Eiffelturm? Außerdem habe ich überhaupt keinen Hunger.« Die rücksichtsvolle Marguerite von eben scheint verschwunden. Werden wir hier denn jemals das machen, was ich möchte?

»Man kann nicht so ein riesiges Bauwerk besteigen, ohne vorher etwas Anständiges gegessen zu haben. Aber vor allem muss ich dir zuerst unsere Kultur und das Wesen von Paris zeigen, du kleines Dummerchen!« Sie tippt mir mit dem Zeigefinger zweimal an die Stirn, wie eine Mutter, die ihr Kind zu tadeln versucht.

»Allez-y! Wir wollen doch keine Zeit verlieren.« Eleazar eilt zur Tür und geleitet uns nach draußen. Es ist wirklich ein herrlicher Tag, schon beinahe zu warm für meine Jacke. Ich frage mich nur, wie ich den ganzen Tag auf diesen Absätzen überstehen soll. Eleazar verabschiedet sich für einen Moment, um den Wagen vorzufahren.

»Glaub mir Emilia! Das „La Coupole“ wird dir gefallen. Du musst unbedingt die Sauce Bernaisse probieren! Danach willst du nichts anderes mehr essen.« Ein Glück! Eleazar kommt mit dem Wagen vorgefahren. Ihr Geplapper kann wirklich unerträglich sein. Aber eigentlich meint sie es ja nur gut. Ich muss endlich aufhören ihr gegenüber so skeptisch zu sein und mich ein bisschen locker machen.

Nach einer kurzen Autofahrt sind wir am „La Coupole“ angekommen. Ich hatte vorher schon einmal von diesem Restaurant gelesen und weiß, dass es hier nur die edelsten Speisen gibt, die aber auch edle Preise haben. Meine Eltern hatten mir genug Geld mitgegeben, um für vier Monate gut auszukommen, aber wenn ich mit Marguerites Lebensstandard mithalten wolle, wäre ich nach einer Woche blank. Für heute, kann ich jedoch eine Ausnahme machen. Ich hoffe, sie versteht, dass ich mir in Zukunft solche luxuriösen Späße nicht erlauben kann.

Vor dem Restaurant ist eine Art Terrasse, auf der einige Tische stehen, die durch einen schwarzen Eisenzaun und verschiedene Pflanzen, von der Straße abgegrenzt sind. Es sieht sehr gemütlich aus und wir setzen uns an einen der schönsten Tische. Zwei Vorspeisen und eine Karaffe mit lieblichen Weißwein werden uns serviert. Ich probiere von allem ein wenig, da ich eigentlich vom Frühstück noch pappsatt bin. Marguerite isst noch weniger als ich, insgesamt wahrscheinlich nur drei Bisse. Sie beschränkt sich mehr auf den Wein und auf die jungen Männer einige Tische weiter, die uns unentwegt anstarren. Bei dem Gefühl so beobachtet zu werden, fühle ich mich sichtlich unwohl.

»Jetzt zapple doch nicht so rum!« Marguerite spielt mal wieder Mutti und tadelt mich jetzt nun schon zum wiederholten Mal. »Sie schauen uns an.« Mit ihrer Hand macht sie eine leichte Bewegung in Richtung der drei Herren.

»Ist mir gar nicht aufgefallen.« Mein nervöser Blick wandert abwechselnd von meinen Händen zu Marguerite und zu meinem Glas Wein. Nur zu den Männern kann ich nicht schauen. Da ich mit solchen Situationen nicht viel Erfahrung habe, weiß ich auch nicht, wie man sich verhält. Außerdem sind meine Gedanken nur bei Bastian. Bei ihm war ich seltsamer Weise nur zu Beginn nervös und angespannt. Mit einem Mal bemerke ich wie Marguerite einem der Männer zunickt und er sich daraufhin von seinem Stuhl erhebt. Mit schnellen Schritten kommt er auf uns zu und richtet währenddessen sein Jackett.

»Marguerite, was soll das? Du kennst den Mann doch gar nicht!« Ich blicke sie entsetzt an.

»Diese Tatsache wird sich gleich ändern.« Sie grinst hämisch und richtet ihren Blick auf den gut aussehenden Mann, der mittlerweile unseren Tisch erreicht hat.

»Bon jour, Madames!« Oh, seine Stimme klingt verführerisch. Ich hoffe Marguerite weiß, was sie tut. »Bon jour!« Marguerite fixiert ihn mit einem ebenso verführerischen Blick und sie fangen an, sich auf Französisch zu halten. Zuerst versuche ich ihnen zu folgen, aber ihr Akzent und sein Blick, machen mir eine Übersetzung unmöglich. Ich schaue zu den anderen zwei Männern, die sich über ihren Freund und seine neue Eroberung zu amüsieren scheinen. Ich kann mir schon vorstellen was für eine Art Männer sie sind. Vermutlich ziehen sie jeden Abend durch verschiedene Bars, um Frauen dazu zu bringen sich mit ihnen einzulassen. Ich fühle mich ein wenig angewidert und blicke zur Straße, in der Hoffnung dort etwas angenehmeres zu entdecken. Sofort fällt mir ein kleines Mädchen mit ihrer Mutter auf, die die Schaufenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite bestaunen. Das Mädchen hat einen kleinen weißen Malteserhund, der voller Freude auf und ab springt. Ich beobachte sie einige Minuten und erinnere mich an meine Kindheit zurück. Auch ich trug öfters feine Spitzenkleider, wie das Mädchen dort und hatte auch einen Hund. Er war ebenso fröhlich, wie der kleine Malteser dort. Auf einmal erregt etwas anderes meine Aufmerksamkeit oder besser gesagt jemand. Nur wenige Meter von dem Mädchen entfernt, steht ein junger Mann, der sich mit einem anderen unterhält. Ich sehe sein Gesicht nicht, aber seine Kleidung ist dieselbe, wie Bastians. Der Mann hat ebenfalls kurzes braunes Haar. Kann er es sein? Ich versuche sein Gesicht zu sehen, doch er dreht sich einfach nicht um. Ich richte mich immer weiter auf, um eine bessere Sicht zu haben. Ehe ich mich versehe überkommt es mich und ich schnelle mit einem lauten Geräusch in die Höhe. Ich rufe so laut wie ich kann seinen Namen. »Bastian!«

Durch meine ruckartige Bewegung reiße ich beinahe den Tisch um. Marguerite wirft mir einen vernichtenden Blick zu, der mich aber nicht in meinem Vorhaben beirrt. Die Kellner um uns herum sind wie erstarrt und zugleich schockiert über mein Verhalten. Womöglich sind die Gäste sonst nicht so emotional. Mit schnellen Schritten haste ich aus dem Lokal in Richtung Straße. Einige Autos kommen von links, wie ebenso von rechts gefahren. Ich nehme all meinen Mut zusammen und laufe auf die Straße. Die Reifen der Autos fangen an zu quietschen und noch ehe ich die Straße überqueren kann, kommen sie zum stehen. Der Mann aus dem dunklen Wagen ruft mir einige sehr schlimme, französische Wörter zu, von denen ich glücklicherweise nur die Hälfte verstehe. Mein Blick liegt jetzt wie gebannt auf Bastian. Zwei Meter vor ihm, komme ich zum stehen. Noch bevor ich ihn ansprechen kann, dreht er sich um und blickt mich mit seinen großen blauen Augen an »Je les connais?«

Meine Enttäuschung kann ich nicht verbergen. Er ist es nicht! Ich merke wie mir die Tränen in die Augen steigen. Verzweifelt suche ich nach irgendeiner französischen Floskel in meinem Kopf. »Je suis desole, Monsieur! Ich dachte...äh...Pardon!« Nun kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich muss mich an die Scheibe des Spielwarenladens anlehnen, um nicht den Halt zu verlieren. Marguerite kommt auf mich zugerannt und nimmt mich in den Arm.

»Was ist los? Wer war der Mann?« Ich versuche mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen und richte mich wieder auf.

»Ich dachte es wäre er!« Sie scheint nicht zu verstehen, was ich meine und zieht mich fester an sich. »Wen meinst du?« Ihr Blick ist besorgt und zugleich verwirrt.

»Ach so! Du dachtest er wäre es gewesen. Deine Bekanntschaft aus dem Zug, richtig?« Der Gedanke an unsere gestrige Begegnung schießt mir erneut Tränen in die Augen. Ihr Arm schnellt in die Luft und sie schnippst zweimal, laut mit dem Finger. Eleazar steigt daraufhin flink aus dem Wagen und hält uns die hintere Tür auf. Wir eilen zur anderen Straßenseite und ich steige in den Wagen. Marguerite geht noch einmal in das Restaurant, um zu bezahlen und sich von dem fremden Mann zu verabschieden. Langsam kann ich mich wieder beruhigen und versuche ein wenig zu lächeln. Ich darf mir nicht selber so meine Ferien verderben. Ich bin doch nicht hergekommen, um die ganze Zeit wegen einem Kerl traurig zu sein. Marguerite steigt zu mir in den Wagen und auch sie lächelt.

»Und?« Egal was eben passiert ist, jetzt will auch ich wissen, was mit dem verführerischen Fremden ist.

»Vielleicht treffen wir uns am Freitag auf einen Drink im Le Regine.« Ihr Grinsen wird immer breiter.

»Das ist doch toll! Er schien sehr nett zu sein.« Irgendwie versuche ich immer neutral zu klingen. Ich sollte wohl etwas offener und ehrlicher zu ihr sein. »Um ehrlich zu sein, hatte ich das Gefühl dass er...« Sollte ich das jetzt wirklich sagen?

»Was ist er?« Oh, nein! Sie runzelt die Stirn und scheint leicht verärgert.

»Äh, dass er wirklich...« Sei ehrlich, sei ehrlich! Mein Innerstes drängt mich immer weiter. »...gut zu dir passt. Ihr seht toll zusammen aus!« Ich lächle sie an, um meine Unsicherheit zu verbergen.

»Genau das denke ich auch! Jedoch...«, sie verstummt. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen. »Emilia, darf ich ganz ehrlich zu dir sein?« Na klar! Wenn ich es schon nicht sein kann, dann wenigstens du.

»Sicher.« Ich nicke ihr selbstsicher zu. Was wohl mit ihr los ist? Vielleicht ist sie sich doch noch über die unehrenhaften Absichten ihres neuen Liebhabers klar geworden.

»Ich habe eine heimliche Affäre mit einem verheirateten Mann!« Oh, nein! So etwas hatte ich jetzt nicht erwartet.

»Marguerite! Mit einem verheirateten Mann. Onkel Pierre bringt dich um!« So ein entsetztes Gesicht, habe ich wahrscheinlich in meinem ganzen Leben noch nicht gemacht.

»Bist du verrückt! Onkel Pierre wird davon niemals etwas erfahren!« Sie boxt mich mit voller Wucht gegen meinen Oberarm.

»Aua!« Mit einer ebenso zackigen Handbewegung wie vorhin, winkt sie Eleazar zum Auto, der die ganze Zeit wachsam davor gewartet hatte. Als Eleazar auf dem Fahrersitz Platz nimmt beugt sie sich ein Stück zu ihm vor. »Nous allons à la Tour Eiffel, Eleazar! Mademousille Rosenberg braucht ein wenig frische Luft. Dort oben scheint es ja genug davon zu geben!« Mit einem vernichtenden Blick boxt sie mir erneut gegen den Arm.

»Das sollte dich nur an etwas erinnern. Ich hoffe es tut noch eine Weile weh!« Sie lächelt und streichelt sanft über die Stelle, an der sie mich zweimal so hart getroffen hatte.

Die Fahrt bis zum Eiffelturm ist nicht weit. Und ehe ich mich versehe, fahren wir an der Seine entlang mit Blick auf dieses riesige, aus Stahl gefertigte Bauwerk. Meine traurigen Gedanken sind verflogen und das Einzige was ich will, ist zur Spitze aufsteigen.

»Also, Cousinchen! Ich komme mit bis zur ersten Plattform, ab da kannst du dann alleine gehen.« Ich drehe mich zu ihr um. »Wieso? Der Ausblick muss doch wundervoll sein.« Versuche mal einer dieses Mädchen zu verstehen.

»Ja, ist er bestimmt auch. Viel Spaß « Das kann doch nicht ihr Ernst sein.

»Das heißt du warst noch niemals ganz oben?« Ich kann es nicht fassen.

»Nein. Aber du schaffst das schon! « Sie tätschelt mir die Wange und steigt aus dem Wagen. Ich sitze wie angewurzelt auf dem Sitz und kann es immer noch nicht fassen. Dieses Mädchen lebt ihr ganzes Leben lang in Paris und war noch nie auf der Spitze des Eiffelturms. Irgendwas scheint bei ihr kräftig schief gelaufen zu sein.

»Kommst du jetzt mein Trauerkloß oder was?« Sie hält mir ihre Hand hin und zieht mich aus dem Wagen. Ich bin überwältigt von dem Anblick, der sich mir bietet. Während Marguerite sich mit schnellen Schritten von mir entfernt, scheine ich wie erschlagen von all den neuen Eindrücken.

»Mal sehen, wer von uns schneller ist, du steifes Püppchen!« In einer rasanten Geschwindigkeit, renne ich an Marguerite vorbei und fordere sie zu einem kleinen Wettlauf auf.

»Püppchen! Eine Dame rennt nicht und vor allem nicht in der Öffentlichkeit.« Im Nu stehe ich in der Mitte der riesigen Plattform, genau unter ihm. Der Blick nach oben überwältigt mich erneut. Ich strecke meine Arme von mir und fange an mich zu drehen, den Blick senkrecht nach oben gerichtet. Ich kann mein Glück kaum fassen. Ich drehe mich immer schneller und lasse den Wind meine Haare in alle Himmelsrichtungen wehen. Es ist ein befreites Gefühl!

»Bist du fertig? Die Leute sehen schon alle her!« Marguerite reißt mich aus meinen Gedanken.

»Jetzt sei mal nicht so verbissen. Ich bin das erste Mal in Paris.« Endlich einmal ehrliche Worte aus meinem Mund. Zwischen Marguerite und mir scheint sich eine Art neckischer Schlagabtausch zu entwickeln. Irgendwie gefällt mir das.

»Es ist jetzt um zwei. Wir haben genau noch neunzig Minuten Zeit bis wir zum Nachmittagstee wieder zurück sein müssen.« Sie schaut prüfend auf ihre Armbanduhr, als stände sie unter großem Zeitdruck.

»Na dann lass uns keine Zeit verlieren, Cousinchen!« Und schon flitze ich weiter zum Eingang. Mein Enthusiasmus und die Vorfreude platzen nur so aus mir heraus. Marguerite ist peinlich berührt und meidet die Blicke der Leute um uns herum. Bis zur ersten Plattform ist es nicht weit, auf der wir uns trennen. Marguerite setzt sich in ein kleines Café und bestellt sich einen Kaffee. Auf der ersten Stufe zur zweiten Plattform, drehe ich mich nochmals zu ihr um. Sie tippt ungeduldig mit dem Finger auf ihre Uhr, den Blick nicht von mir abgewendet. Gott, ist dieses Mädchen nervend.

Ich brauche eine halbe Stunde bis zur Spitze. Doch der Anblick macht die Anstrengung wieder wett. Hier oben ist der Wind um einiges stärker, aber das ist mir egal. Ich komme mir vor, wie in einer anderen Welt. Als ich auf die weißen Dächer Paris’ schaue und mir klar wird wie groß und endlos diese Stadt ist, wird mir auch bewusst, wie schwierig es werden wird hier jemanden zu finden.

Mein liebster Bastian, wo bist du nur? Vielleicht ist es naiv von mir zu denken, dass er dasselbe für mich empfinden könnte wie ich für ihn. Aber die Hoffnung in mir, ihn wiederzusehen ist so stark wie nie zuvor. Ich will mich nicht mit dem Gedanken abgeben, nur diesen einen Tag mit ihm gehabt zu haben und mein ganzes Leben nicht zu wissen, was aus uns hätte werden können. Das Einzige, was ich weiß und das von Bedeutung ist, dass ich Gefühle für ihn hege und jede Minute an ihn denken muss. Es ist, als würde er mich die ganze Zeit über begleiten, nur dass ich ihn nicht sehen kann. Langsam merke ich, wie mich diese Stadt und die neuen Erfahrungen prägen und mich zu einer Frau werden lassen. Nur langsam, aber dennoch deutlich spürbar.

Nach einer gefühlten halben Stunde entscheide ich mich dafür Marguerite zu erlösen und steige wieder hinab. Als ich auf der ersten Plattform ankomme, steht Marguerite bereits mit verschränkten Armen und tippenden Fuß vor der Treppe und wartet.

»Es ist zehn vor halb drei! Meine Freundinnen kommen in einer halben Stunde zu mir nach Hause und wir müssen uns noch umziehen.« Umziehen? Wir haben doch schon tolle Kleider an. »Beeil dich!« Im Schnellschritt laufen wir zum Auto, wo Eleazar bereits auf uns wartet. Auf dem Weg zurück, redet Marguerite kein Wort mit mir. Ich scheine ihren Zeitplan ganz schön durcheinander geworfen zu haben. Als wir angekommen zerrt sie mich ohne Rücksicht und ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was ich von dieser ganzen Tortur halte, am Arm in ihr Zimmer.

In noch nicht einmal zehn Minuten, sucht sie uns beiden ein neues Kleid und Schuhe heraus, pudert mir das Gesicht und steckt meine Haare seitlich fest, sodass sie leicht zur Seite herunter fallen. Ihre Haare bleiben offen und fallen in leichten Wellen über ihren Busen. Sie scheint ihr Handwerk wirklich zu verstehen. Wir beide sehen toll aus!

»Eine Sache noch, Emilia. Ich muss dich warnen! Amelie und Valerie sind zwei gehässige, verzogene Biester, die dich wenn sie wollen in der Luft zerreißen. Also sag bloß nicht zu viel und lach' einfach über jeden ihrer Witze. Sie halten sich für unheimlich komisch! Alles klar?« Sie scheint richtig besorgt um mich zu sein. Aber wenn ich mit Marguerite zurecht komme, werden die beiden ein Kinderspiel sein. »Ich denke ich bekomme das hin!«

Von unten ertönt ein Klingeln, was bedeutet, dass Pest und Cholera eingetroffen sind. Oh, das war ganz schön hart! Aber, wenn man Marguerites Worten Glauben schenkt, muss ich das wohl auch sein. Wir begeben uns nach unten, wo die zwei uns schon erwarten.

»Salut, meine Damen!« Marguerite begrüßt die beiden mit zwei Küsschen auf die Wange. Das scheint hier wohl so Mode zu sein. »Darf ich euch vorstellen, meine Cousine Emilia Rosenberg aus Deutschland.« Die beiden mustern mich und ich fühle mich dabei deutlich unbehaglich.

»Hoch erfreut, meine Damen!« Ich reiche ihnen beide vornehm meine Hand und mache einen kleinen Knicks.

Beinahe gleichzeitig antworten sie mir »Hocherfreut!« Marguerite geleitet uns in das Esszimmer, wo bereits Tee und Kaffee sowie verschiedene Biskuits aufgetischt wurden sind. Die zwei Hausmädchen von gestern Abend und heute Früh stehen ebenfalls an ihrem Platz und warten darauf uns zu bedienen. Marguerite und ich sitzen nebeneinander. Pest und Cholera nehmen gegenüber von uns Platz. Sogleich wird uns Kaffee eingeschenkt und ich falte meine Serviette auf dem Schoß aus.

»So ihr zwei! Was habt ihr zu berichten? Welche Geheimnisse habt ihr wieder einmal aufgedeckt?« Marguerite scheint wieder ganz in ihrer Rolle als biestige, reiche Tochter aufzugehen.

»Unser Lieblingsopfer Rosi hat es letzte Nacht wieder einmal wild getrieben.« Alle drei beginnen zu kichern. Diese Rosi scheint ihnen des Öfteren Gesprächsstoff zu liefern.

»Wen hat sie diesmal mit nach Hause genommen?« Oh, jetzt wird es interessant.

»Der arme Philipp musste dran glauben!« Valerie wirft Marguerite einen seltsamen, vorwurfsvollen Blick zu. Sie scheinen irgendetwas zu verbergen.

»Philipp! Ich dachte er hätte mehr Niveau.« Marguerite nippt an ihrem Kaffee und scheint verstimmt. »Habt ihr sonst noch jemanden im Le Regine getroffen?« Sie scheint auf irgendjemand Bestimmtes abzuzielen. Vielleicht ihren verheirateten Liebhaber?

»Die üblichen Verdächtigen!« Valerie und Amelie werfen sich einige vielsagende Blicke zu, Marguerite schenkt den beiden jedoch nur wenig Beachtung.

»Was ist das für eine Bar?« Mal sehen, ob ich die Stimmung etwas auflockern kann. »Hört sich interessant an.« Auch ich nippe vornehm an meinem Kaffee und versuche die drei ein wenig nachzuahmen.

»Das ist eines der beliebtesten Etablissements in Paris, um zu tanzen, zu trinken und Männer kennen zu lernen.« Das erklärt natürlich einiges! »Wir können dich ja am Donnerstag mitnehmen, wenn du Lust hast?« Das wäre auf jeden Fall eine gute Gelegenheit neue Menschen kennen zu lernen und nach Bastian Ausschau zu halten. Hör auf! Mein Innerstes gibt mir einen Tritt. Ich sollte wirklich aufhören über ihn nachzudenken. Es wäre ein Wunder, wenn ich ihn hier wiederfinden sollte.

»Ja klar! Das wird bestimmt lustig.« Ein Mädchenabend! Der Erste meines Lebens. Vielleicht gefällt es mir ja wirklich.

»Fein! Meine Damen, folgen sie mir bitte auf mein Zimmer, dort können wir in Ruhe weiter reden!« Warum so förmlich? Marguerite versucht Abstand zu halten oder einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Wir folgen ihr alle in ihr monströses „Zimmer“.

Ich mache es mir auf einem der Sofas bequem und höre den dreien gebannt zu. Valerie sitzt ebenfalls mit mir auf dem Sofa und Amelie und Marguerite durchstöbern den Kleiderschrank. Sie unterhalten sich über alle möglichen Leute aus der gehobenen Gesellschaft, über ungewollte Schwangerschaften, Ehebrüche und Mode-Fauxpas. Ich frage mich wirklich ob ich in diese Welt voller Intrigen, Geheimnisse und Lästereien jemals hinein passen werde. Ich schaue aus dem Fenster, um auf andere Gedanken zu kommen, als plötzlich ein seltsames Poltern von draußen ertönt. Die Flügeltüren zum Balkon sind geöffnet und man kann es laut und deutlich hören.

Zunächst versuche ich es zu ignorieren, um nicht den Faden zu verlieren. Soweit ich mitbekommen habe ist Rosi eine Art Sängerin, die im Le Regine auftritt. Sie ist bekannt für ihre Männergeschichten und ihre Freizügigkeit. Ihr Lebensstil scheint nicht gerade beliebt bei Marguerite und ihren Freundinnen zu sein. Jedes einzelne Detail ihrer Kleidung von gestern Abend wird ausführlich diskutiert und bewertet. Ich finde es absolut überflüssig seine Zeit mit Gesprächen über derartige Themen zu verschwenden. Da gibt es deutlich wichtigeres. Aber das würde den Horizont der drei eindeutig übersteigen.

Auch wenn ihre hitzige Diskussion noch zu interessant scheint, das seltsame Geräusch von draußen wird immer lauter. Ich kann mir nicht erklären, wer oder was dafür verantwortlich sein kann.

»Marguerite!« Ich will sie auf die seltsamen Geräusche aufmerksam machen. Vielleicht weiß sie, was es ist. »Marguerite, kommst du mal bitte?« Nur langsam kann sie sich losreißen.

»Was ist denn los? Ich zeige Amelie gerade den Entwurf für mein Kleid.« Das ist natürlich jetzt viel wichtiger. Hat dieses Mädchen denn nichts anderes in ihrem Kopf? Das Geräusch wird immer lauter. Jetzt flüstere ich.

»Ist das ein Einbrecher? Hör doch mal!« Jetzt habe ich auch die Aufmerksamkeit von Amelie, die mit einem riesigen Hut und einer Federboa bekleidet aus dem Kleiderschrank kommt.

»Ein Einbrecher? Niemals.« Wie gebannt starren wir zum Balkon. Mit einem Mal hören wir Schritte. Da der Balkon eher einer riesigen Terrasse ähnelt, können wir ihn nicht ganz überblicken. Valerie ergreift meine Hand und drückt sie ganz fest. Es tut weh, aber im Moment kann ich mich nicht darauf konzentrieren. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Mein Atem beschleunigt sich. Die Schritte kommen immer näher. Eine Gestalt taucht im Rahmen der beiden Flügeltüren auf, jedoch kann man nicht erkennen wer es ist. Die untergehende Sonne scheint von hinten, sodass man nur seinen Schatten sieht. Als die Gestalt durch die Tür tritt und sich zu erkennen gibt, bleibt mein Herz für einen Moment stehen. Es ist Bastian!

Ein Jahr mit Dir

Подняться наверх