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II. Über die Nation hinaus?

Forschungstraditionen und Möglichkeiten ihrer Fortentwicklung

Wie die Einleitung gezeigt hat, war die Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert eng mit Vorstellungen von Nationalstaaten verbunden. Doch bedeutete dies nicht, dass nur die Innenpolitik der einzelnen Nationen als angemessenes Thema für die Historiografie gesehen wurde. Die transnationale Geschichte, so wie sie jetzt verstanden wird, ist keineswegs die erste historiografische Richtung, die mehr als eine Nation zugleich untersucht und in ihren Beziehungen analysiert. Dieses Kapitel zeigt an drei Themenfeldern –der Geschichte der Außenpolitik, der Imperialismusforschung und der vergleichenden Geschichtswissenschaft–auf, welche Ansätze einer Überwindung der thematischen Begrenzung auf die Nation es schon vor den gegenwärtigen Debatten gegeben hat, in welche Richtungen sie in den letzten Jahren weiterentwickelt wurden und welche Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten sie in Bezug auf die transnationale Geschichte immer noch bereitstellen.

1. Von der Außenpolitik zu den internationalen Beziehungen

Es liegt in der Natur der Sache, dass Untersuchungen zur Außenpolitik sich nicht auf einen einzelnen Staat beschränken können, geht es doch in diesem Forschungsfeld gerade um die Beziehungen der Staaten untereinander. Dennoch braucht dies keinesfalls zu einer Relativierung oder gar Dekonstruktion der Kategorie Nationalstaat zu führen, ganz im Gegenteil. Für den größten Teil der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts war der Nationalstaat eine dem Menschen vorgegebene Realität, an der sich das politische Handeln zu orientieren hatte. Auf dem Feld der Außenpolitik begegneten sich die Nationalstaaten als gleichsam personifizierte, nicht weiter auflösbare Einheiten–man beachte die |20◄ ►21| Sprache der Quellen: ›Deutschland forderte‹, ›Frankreich warf ein‹, ›Großbritannien vermittelte‹. Ihnen schien die Selbstbehauptung nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, denn über dem Staat gebe es keine übergeordnete Macht und kein übergeordnetes Recht: eine »Idealisierung des Staates auf der Basis der Spiritualisierung der Macht« (Mollin, 2000, S. 6). Eine Eindämmung der überbordenden Hegemonialansprüche einzelner Staaten könne nur durch die größere Macht anderer Staaten–allein oder in Allianzen–geschehen.

Politiker und Historiker waren sich einig, dass der Charakter der Außenpolitik als ein Kampf um Macht den Staatsmännern, die den Nationalstaat auf dem internationalen Parkett vertraten, unbeeinflussbar vorgegeben sei. Ihre Kunst bestehe darin, die Handlungsmöglichkeiten auszuloten und in Entscheidungen umzusetzen –als große Männer machten sie große Politik. Die Aufgabe der Historiker sei es, diese Entscheidungen nachzuzeichnen und zu würdigen. Dies konnte durchaus zu Kritik im Einzelfall, jedoch kaum jemals zur Kritik an den Grundannahmen der Außenpolitik führen. Dabei war im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Radikalisierung der nationalen Position der Historiografie zu verzeichnen. Wo noch Ranke den Staat zwar als unauflösliche Einheit, jedoch stets eingebunden in die Gemeinschaft mit anderen Staaten sah, warfen seine späteren Kritiker ihm vor, genau damit den nationalen Standpunkt bereits verlassen zu haben und zum Kosmopoliten geworden zu sein (genau das also, was den frühen Historismus, der in dieser Hinsicht noch das Erbe der Aufklärung bewahrte, für heutige Historiker zunehmend attraktiv zu machen scheint). Staaten bewegten sich nach ihrer Auffassung zwar auf dem gleichen Feld, doch gab es nichts mehr, was sie verbinden und zwischen ihnen vermitteln konnte–jeder Staat trug sein Gesetz des Handelns und seine Legitimation in sich selbst.

Die deutsche Diskussion über die Bedeutung der Geschichte der Außenpolitik und die Maßstäbe, die zu ihrer Untersuchung anzulegen seien, entflammte Mitte der 1970er Jahre. Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand vertraten die Auffassung, dass es die Außenpolitik sei, die den Verlauf der Geschichte maßgeblich präge und vor allem auch die Rahmenbedingungen für die Innenpolitik|21◄ ►22| schaffe (Hildebrand, 1975; 1976; Hillgruber, 1973; 1976). Zwar wirkten auch die innenpolitischen Entwicklungen auf die Außenpolitik zurück, insgesamt folge diese jedoch einer Eigengesetzlichkeit, die von den Interessen des Nationalstaates bestimmt werde, der »in Geschichte und Gegenwart–und eben nicht zuletzt als politische Einheit im internationalen Geschehen–in seiner Erheblichkeit kaum hoch genug einzuschätzen ist« (Hildebrand, 1976, S. 349). Außenpolitik sei eine »Antwort der Staatskunst« auf die »Herausforderung der Macht« (Hildebrand, 1995), daher gelte es für die Geschichtswissenschaft, ihren Entscheidungscharakter herauszuarbeiten und ihn nicht mit Hilfe von über den Einzelfall hinausreichenden Theorien in allgemeinen Prozessen verschwinden zu lassen. Die Kategorien, anhand derer die Außenpolitik beurteilt werden müsse, sind–ganz im Rahmen des Historismus gedacht–die Kategorien der zeitgenössischen Akteure, die zugleich die Richtlinien der Interpretation vorgeben: die Nation, der Staat, die Macht, der Gegensatz zwischen Gleichgewicht und Hegemonie, aber auch Konzepte wie Dämonie, Tragik und Schicksal.

Da die Historisierung dieser Begriffe unterbleibt und zugleich der Erzählung gegenüber der Analyse der Vorzug gegeben wird, gewinnen die Außenpolitikhistoriker dieser Schule keinen Ansatzpunkt, von dem aus die Innensicht auf die Ereignisse aufgebrochen werden könnte–zumal die Beschränkung auf die »Große Politik der europäischen Kabinette« (so der Titel einer vielbändigen Quellensammlung zur Diplomatiegeschichte von 1871–1914) eine entsprechende Begrenzung des untersuchten Quellenmaterials nach sich zieht. Noch immer sind es die Staatsmänner des 19. und 20. Jahrhunderts, deren Auffassung vom Charakter der Außenpolitik den Untersuchungsgegenstand definiert.

Hier setzte die Kritik des Bielefelder Gesellschaftshistorikers Hans-Ulrich Wehler ein, der forderte, den Primat der Außenpolitik durch einen Primat der Innenpolitik zu ersetzen (Wehler, 1975). Dies erlaube erstens die Frage, welche innenpolitischen Konstellationen die Formulierung einer außenpolitischen Position beeinflussten und zweitens die Untersuchung, wie Außenpolitik in die Innenpolitik zurückwirke. Damit würde ihre Interpretation|22◄ ►23| aus der Fixierung auf die internationalen Konstellationen herausgelöst und es könne sichtbar gemacht werden, dass sich Ziele der Außenpolitik häufig weniger durch ihren Bezug auf andere Nationalstaaten, als vielmehr durch ihre innenpolitischen Intentionen erklären lassen. In seinen Untersuchungen zum Kaiserreich führte Wehler diese These am Beispiel des Imperialismus aus, der für ihn weniger aus der Dynamik der Großstaatspolitik, denn als ›Sozialimperialismus‹ mit dem Ziel der Ablenkung von Partizipationsforderungen im Innern erklärt werden muss (Wehler, 1973).

Für die transnationale Geschichte sind beide Positionen nur sehr begrenzt anschlussfähig. Die Schärfe des Streits ließ in den Hintergrund treten, in welchem Maße seine Protagonisten wesentliche Grundannahmen teilten, allen voran die Idee der herausragenden Stellung des Nationalstaates. Beherrschten bei Hillgruber und Hildebrand die Nationen als einzige Akteure die internationale Bühne, so gelang es Wehler, die Heterogenität der Nation im Inneren aufzuzeigen und konfligierende soziale und wirtschaftliche Interessen in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken. Ohne dass dies ausdrücklich thematisiert oder gar theoretisch reflektiert wird, geht jedoch auch er davon aus, dass der Nationalstaat den gleichsam natürlichen Rahmen für diese Interessen darstellt und sie ohne Referenz auf andere Einflüsse abschließend erklärt werden können–Gesellschaftsgeschichte kann als Nationalgeschichte, kann als »Deutsche Gesellschaftsgeschichte« (Wehler, 1987–2008) geschrieben werden.

Der Gegensatz zwischen den beiden Lagern–der im Rückblick weit weniger fundamental erscheint, als es die Zeitgenossen empfanden –bestimmte die Debatten zur Außenpolitik über zwanzig Jahre lang. Vermittelnde Positionen, die es immer wieder gegeben hat, konnten sich nicht durchsetzen (Ziebura, 1990). Erst Ende der neunziger Jahre gelang es, diese Fronten aufzubrechen (Conze, 1998; Loth / Osterhammel, 2000). Seitdem besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich Außenpolitik nur durch das Zusammenspiel von inneren und äußeren Faktoren erklären lässt. Im Gegensatz zur Hildebrand-Schule wird damit die Bedeutung der Innenpolitik für die Interpretation der Außenbeziehungen |23◄ ►24| anerkannt; zugleich wird betont, dass einzelne Bereiche, gerade dort, wo sie institutionell abgestützt sind, auch eine Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit entwickeln können. Jedoch erlaubt erst der größere, transnationale Zusammenhang die Ebenen, die sinnstiftend für das Handeln der außenpolitischen Akteure sind, zueinander in Beziehung zu setzen und ihren jeweiligen Einfluss empirisch auszuloten.

Die Betonung des kommunikativen Aspekts der Politik (Frevert / Haupt, 2005) rückt nicht nur die Strukturen und Regeln der internationalen Beziehungen als historisch geworden und historisch wandelbar in den Mittelpunkt–sie sind gleichermaßen Niederschlag vergangener Kommunikation wie auch Bedingung künftiger. Dieser Ansatz lässt auch nach den Bedingungen der Kommunikation fragen, nach ihren Formen und Symbolen, nach ihrer Sprache sowie nach der Sozialisation ihrer Akteure. Damit eröffnet er den Weg für eine Kulturgeschichte der internationalen Beziehungen, die ihrer Anlage nach nicht mehr von den einzelnen Nationalstaaten her, sondern nur noch transnational gedacht werden kann (Albert / Blum / Helmig, et al., 2009; Paulmann, 2000).

Wieder einmal bedeutet die Betonung des Transnationalen jedoch nicht, dass die Rolle der als Nationalstaaten konstituierten kollektiven Akteure zu vernachlässigen wäre–weder historisch noch heute, in Zeiten von zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung, supernationalen Zusammenschlüssen und der wachsenden Bedeutung von nicht-staatlichen international agierenden Akteuren. Die Geschichte der internationalen Beziehungen vermag dies wieder ins Gedächtnis zu rufen und zu verhindern, dass die Kategorie staatlicher Macht aus transnationalen Analysen verschwindet.

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2. Imperialismusforschung

Wenn es einen Bereich in der Geschichtswissenschaft gegeben hat, der–gleichsam aus der Natur der Sache heraus–den Blick über nationale Grenzen hinweg auf weltweite Zusammenhänge gelenkt hat, müssten dies die Untersuchungen zum Imperialismus sein. Und in der Tat weisen viele der älteren Forschungen Verbindungslinien zur heutigen transnationalen Geschichte auf.

Mit dem Begriff des Imperialismus werden zwei zusammenhängende Phänomene bezeichnet. Zum einen markiert er als Epochenbezeichnung die Zeit zwischen 1880, der Aufteilung Afrikas und dem Wettlauf um die letzten Kolonien einerseits, sowie dem Ersten Weltkrieg andererseits. Zum anderen verweist er als systematischer Begriff auf spezifische Antriebskräfte und Formen der überseeischen Eroberungen, die ihn vom früheren Kolonialismus unterscheiden.

Außenpolitisch war das imperiale Zeitalter von der Konkurrenz zwischen den europäischen Großmächten markiert. Anhand der Kolonien, so die weit verbreitete Meinung, würde sich die künftige Stellung jeder Nation entscheiden, würde sich entscheiden, ob sie Großmacht werden oder bleiben würde oder in Zukunft lediglich eine Macht zweiten Ranges wäre. Dieser Gedanke des Entscheidungskampfes führte dazu, dass auch Kolonien, deren unmittelbarer Nutzen –politisch, strategisch oder wirtschaftlich–nicht offensichtlich war, gleichsam als Pfand auf die Zukunft erworben wurden.

Innenpolitisch ging diese Epoche einher mit der fortschreitenden Politisierung und Mobilisierung immer weiterer Bevölkerungskreise, die sich auch in einer wachsenden Begeisterung für den Imperialismus äußerte. Inwieweit und von wem diese Begeisterung als Ablenkungsmanöver von innenpolitischen Schwierigkeiten instrumentalisiert wurde, der Imperialismus also im Wesentlichen ›Sozialimperialismus‹ war (Wehler, 1970b) und inwieweit sie sich im Gegenteil autonom entwickelte und die politische Führung unter Druck setzte (Hildebrand, 1975), wurde lange kontrovers diskutiert.

Zwei Fragekomplexe waren für die Forschung zum Zeitalter des Imperialismus bestimmend. Zum einen ging es darum, die |25◄ ►26| Ursachen und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu erklären. Für das Deutsche Reich kamen Fragen nach Kontinuitätslinien zwischen dem Kaiserreich und dem Dritten Reich hinzu, insbesondere nach dem Zusammenhang zwischen Nationalismus und Imperialismus auf der einen und Totalitarismus auf der anderen Seite (Arendt, 1951). Zum anderen, und diese Frage hat eine lange Tradition, die bis in die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Imperialismus zurückreicht, soll die imperiale Expansion immer auch Auskunft geben über die imperiale Nation. Auf welches historische Erbe, welche Strukturen, welche Anlagen und Eigenschaften lässt ihr Wille und ihre Fähigkeit zur Eroberung und Beherrschung überseeischer Gebiete rückschließen? Diese Frage hat nach dem Verlust der Kolonien und vor allem nach der postkolonialen Kritik am Imperialismus an unmittelbarer Bedeutung verloren. Doch scheint sie zum Teil in Untersuchungen zum europäischen Sonderweg verlagert worden zu sein (im Rückbezug auf Weber Mitterauer, 2003; Weber, 1920–1921): Die imperiale Expansion der europäischen Staaten wird durch den Verweis auf die Besonderheiten der europäischen Geschichte–sei es die industrielle Revolution, seien es kulturelle Spezifika oder Institutionen –erklärt. Zum anderen Teil mag sie einfach ihr Vorzeichen gewechselt haben und von einer Suche nach wesensmäßiger Stärke zu einer nicht minder teleologischen nach grundlegenden Ursachen des Imperialismus übergegangen sein, jetzt als Teil einer zerstörerischen Moderne interpretiert.

Deutscher und europäischer Sonderweg

Debatte, die die Erklärung für den deutschen Nationalsozialismus in langfristigen Entwicklungen des Deutschen Reiches suchte (verspätete Nationalstaatsbildung, verspätete Industrialisierung, schwache Stellung des Bürgertums, Ausbleiben von Parlamentarisierung und Demokratisierung).

Erklärungsansätze, warum es in Europa früher als in anderen Kontinenten zur industriellen Revolution gekommen ist und warum es Europa seit dem 16. Jahrhundert gelang, immer größere Teile der Welt zu unterwerfen und zu beherrschen. |26◄ ►27|

Für beide Fragestellungen steht der imperiale Nationalstaat im Zentrum des Interesses. Dies kann vereinbar sein mit transnationaler Methodik, wenn nämlich die Nation ihrerseits als Produkt von Wechselwirkungen aufgefasst wird, die sie selber überschreiten. Dieser Ansatz wurde jedoch zumindest in der älteren politikgeschichtlichen Literatur eher selten verfolgt (Schmidt, 1985; Schöllgen, 1986).

Anders lag das Erkenntnisinteresse bei Studien, die sich den Zusammenhängen zwischen Imperialismus und Kapitalismus widmeten, auch hier mit einer langen Forschungstradition. Ihnen ging es um den systematischen Zusammenhang zwischen den Phänomenen der industriellen Revolution und der damit einhergehenden Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung auf der einen Seite und der wirtschaftlichen Durchdringung überseeischer Gebiete, oftmals verbunden mit politischer Machtübernahme, auf der anderen.

Umstritten war dabei nicht nur, ob sich die Ausgaben, die die Weltmachtpolitik mit sich brachte, überhaupt rechneten, sondern auch, welche wirtschaftlichen Vorteile die Expansion den Metropolen brachte: Waren es Rohstoffe, Absatzmärkte für ihre Waren oder Anlagemöglichkeiten für Investitionskapital? Welchen Personenkreisen kamen diese Vorteile zugute? Lässt sich nachweisen, dass die gleichen Personen einen Einfluss auf die imperiale Außenpolitik nehmen konnten und tatsächlich genommen haben? Umstritten war weiterhin schon unter den Zeitgenossen, ob die Verfolgung dieser Ziele wirklich des Imperialismus bedurfte oder ob sie ebenso durch eine Freihandelspolitik hätte realisiert werden können. Freihandel plus soziale Reformen im Innern, so John Hobson, ein Vertreter der britischen Radikalliberalen, schon um die Jahrhundertwende, sei in der Lage, den Kapitalismus von seiner gegenwärtigen Übersteigerung im Imperialismus zu seinem Grundprinzip des friedlichen Interessenausgleichs zurückzuführen (Hobson, 1902). Ihm wurde von marxistisch-sozialistischer Seite entgegengehalten, dass im Gegenteil die imperialistische Expansion dem Kapitalismus inhärent sei, da dieser nur so lange zu überleben vermöge, wie er sich neue Gebiete einverleiben könne. Da aber die Expansionsmöglichkeiten letztendlich begrenzt seien, |27◄ ►28| führe der Imperialismus zwar kurzfristig zu einer Stärkung des Kapitalismus, bereite aber langfristig seinen Untergang umso sicherer vor (Hilferding, 1910; Luxemburg, 1913; Lenin, 1917).

Für die transnationale Forschung sind diese Ansätze insofern von Bedeutung, als hier mit der Entwicklung des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems Kräfte in den Mittelpunkt der Analyse gestellt wurden, die die Nationalstaaten transzendierten (Wallerstein, 1974–1989). Dies würde bedeuten, dass die wirtschaftliche, soziale und politische Geschichte der europäischen Metropolen nicht mehr aus sich heraus, nicht mehr ohne Einbeziehung der Tatsache erklärbar wäre, dass es sich um imperiale Mächte handelte. Zu fragen bleibt jedoch, ob nicht in dieser Interpretation das Wirtschaftssystem weiterhin seine Dynamik in entscheidendem Maße aus den Metropolen erhielt. Auch in den Arbeiten, die den Imperialismus als globales System betrachteten, blieb damit Europa genauso wie in der politischen Geschichte das Zentrum der Welt und der Historiografie.

Überraschend früh wurde dieses Paradigma, dass sich Imperialismus –als Epoche und als Konzept–in erster Linie, wenn nicht ausschließlich von Europa her interpretieren lasse, in Zweifel gezogen. Bahnbrechend waren in dieser Hinsicht in den 1950er Jahren die Forschungen der britischen Historiker John Gallagher und Ronald Robinson, die den Imperialismus aus seiner Engführung auf die Übernahme formaler Herrschaft lösten und stattdessen betonten, dass, zumal im britischen Empire, immer formale und informale Herrschaft nebeneinander gestanden hätten. Aus Kostengründen hatten die Briten es vorgezogen, bei der Sicherung ihrer Interessen, wann immer möglich, auf Eroberungen und die Einführung einer eigenen Verwaltung zu verzichten: »By informal means if possible, or by formal annexation when necessary, British paramounty was steadily upheld« (Gallagher, 1953, S. 3).

Zwei Schlussfolgerungen ergaben sich hieraus. Zum ersten verschwamm mit dieser engen Verknüpfung von formaler Herrschaft und informellem Einfluss der Charakter des imperialen Zeitalters als einer eigenständigen Epoche, und zwar sowohl für die Vergangenheit durch die Betonung der Kontinuität zwischen |28◄ ►29| Kolonialismus und Imperialismus, als auch für die Zukunft, da nun eine Fortdauer kolonialer Herrschaft auch nach der Dekolonisierung denkbar wurde (Mommsen / Osterhammel, 1986; Robinson, 1984). Dieser Gedanke wurde vor allem von Politikwissenschaftlern aufgenommen und in der Dependenztheorie, die postkoloniale Unterentwicklung zu erklären trachtete, weiterentwickelt (Senghaas, 1972). Nicht mehr die Frage nach den europäischen Nationalstaaten und ihrem Schicksal stand damit im Vordergrund, sondern die Erklärung der andauernden Abhängigkeit der ›Dritten Welt‹.

War für das Mutterland die informale und die formale Herrschaft im Prinzip austauschbar, so erfolgte die Entscheidung zwischen ihnen, und dies ist die zweite These, in der Regel als Antwort auf lokale Faktoren. Die frühen Arbeiten von Gallagher und Robinson betonten hierbei noch sehr stark die Rolle der men on the spot, d.h. der kolonialen Prokonsuln und Beamten, denen schon aufgrund der langen Kommunikationswege eine sehr große Unabhängigkeit in der Formulierung imperialer Politik zukam. Dieser Ansatz wurde in den achtziger Jahren weiterentwickelt und radikalisiert: Nicht nur den Briten in den Kolonien wurde Handlungskompetenz und Einfluss auf die Entwicklung der imperialen Geschichte zugeschrieben, sondern auch den Kolonisierten und vor allem den Interaktionen zwischen beiden. David Fieldhouse hob hervor, dass imperiale Geschichte–im Gegensatz zur Geschichte der Metropolen und zur Geschichte der ehemaligen Kolonien–nur in der Konzentration auf die areas of interaction zwischen beiden weiterführende Interpretationen entwickeln könne (Fieldhouse, 1984). Robinson konzentrierte sich bei der Fortführung seiner Untersuchung der lokalen Faktoren auf die Rolle der Kollaborationsregime. Ob die Kolonialmacht in der Lage war, einheimische Eliten zur Zusammenarbeit zu bewegen, ob diese in der Lage waren, ihren Einfluss über weitere Bevölkerungsteile aufrechtzuerhalten und welcher Konkurrenz sie ausgesetzt waren, dies bestimmte nachhaltig die Möglichkeit und Gestalt kolonialer Herrschaft.

Vor allem David Fieldhouse betonte, dass diese Integration von Imperialismusforschung und regionalwissenschaftlichen Studien |29◄ ►30| zu den Kolonien keinen ausschließlichen Weg vorschreiben wollte, sondern die nationalstaatlichen Narrative sowohl der kolonisierten wie auch der kolonisierenden Staaten durchaus ihre Legitimität behielten. Was jedoch nicht mehr möglich erschien, war eine umfassende Analyse der nationalstaatlichen Geschichte ohne Berücksichtigung ihrer globalen Bedingungen und noch weniger die Erklärung globaler Entwicklungen allein aus der Perspektive eines Nationalstaates.

3. Komparatistik

Der dritte große Bereich, in dem die Historiografie schon früh nationale Grenzen überschritt, war die Komparatistik. Vergleich bedeutet in der Geschichte die systematische Diskussion von zwei oder mehr Fällen mit dem Ziel, ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede deutlicher erfassen zu können. Häufig handelt es sich dabei um Fallbeispiele aus unterschiedlichen Ländern, doch sind auch Vergleiche unterhalb wie oberhalb der nationalen Ebene möglich–etwa zwischen Städten oder zwischen Kulturen (Kaelble, 1999b; Kocka, 2003).

Diese Definition zeigt bereits, dass weder ein Vergleich zwischen Fällen, die sich allzu ähnlich sind, noch zwischen solchen, die keine Gemeinsamkeiten aufweisen, Sinn macht. Wenn daher immer wieder darauf hingewiesen wird, dass man nicht Äpfel und Birnen miteinander vergleichen dürfe, so stimmt dies nur bedingt: Sie lassen sich in zahlloser Hinsicht miteinander vergleichen, ob es nun in Bezug auf ihren Vitamin- oder Kaloriengehalt oder ihren Anteil an den Exporten einer Volkswirtschaft ist. Wichtig ist allein, ob beide einer gemeinsamen Oberkategorie, einem tertium comparationis angehören, mit Blick auf welches sie verglichen werden können. In den ersten beiden Fällen wären dies Nahrungsmittel, im dritten Fall Exportgüter. Äpfel und Autos lassen sich selbstverständlich nicht in Bezug auf ihren Vitamingehalt vergleichen, doch können beide Exportgüter sein und in dieser Hinsicht einen Vergleich sinnvoll erscheinen lassen.

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Als Vater der modernen Komparatistik wird häufig der französische Historiker Marc Bloch zitiert, der in einem programmatischen Artikel aus dem Jahre 1928 auf den Erkenntnisgewinn hinwies, den die Untersuchung ähnlicher Phänomene in unterschiedlichen Kontexten verspreche (1928; dt. Übersetzung 1994). Der Vergleich erlaube zum einen die Überprüfung von kausalen Verknüpfungen zwischen zwei oder mehr Ereignissen und ihre Verfeinerung: Ließ der Blick auf ein einzelnes Land es einleuchtend erscheinen, dass eine bestimmte Ursache eine bestimmte Wirkung hervorbringe, so könne der Vergleich zeigen, dass die gleiche Ursache auch andere Wirkungen haben könne bzw. dieselbe Wirkung durch unterschiedliche Ursachen hervorgebracht werden könne. Damit verhindere er monokausale Deutungen. Zum anderen verfremde der Vergleich Phänomene, die bisher natürlich erschienen, und provoziere damit neue Fragen an Altbekanntes. Verglichen werden könnten dabei Fälle, die zeitlich und räumlich weit voneinander entfernt lägen, oder solche, die miteinander in einer engen Beziehung stünden–Letzteres sei sogar interessanter, denn hier erlaube der Vergleich, verborgene Einflüsse aufzuzeigen sowie endogene und exogene Ursachen von Entwicklungen voneinander zu trennen.

Synchroner und diachroner Vergleich

Synchroner Vergleich: Vergleich von Ereignissen, Strukturen oder Entwicklungen, die sich zeitgleich in verschiedenen Regionen finden lassen (die Periode bleibt stabil, die Phänomene können unterschiedlich sein–Beispiel: Parteiensystem in Großbritannien und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg). Demgegenüber untersucht der diachrone Vergleich diese Phänomene in zeitlicher Verschiebung (Phänomene bleiben stabil, Periode kann unterschiedlich sein–Beispiel: Auswirkungen der Einführung der Altersversicherung auf Familienstrukturen, dies kann in einem Land um 1870 sein, in einem anderen um 1920, in einem dritten erst 1990).

Die Geschichte des Vergleichs als wissenschaftliche Methode reicht jedoch wesentlich weiter zurück (Schriewer, 2003). Seit |31◄ ►32| dem ausgehenden 17. und dann vor allem im 18. Jahrhundert hatten sich die Naturwissenschaften in wachsendem Maße des Experiments als Instrument der planmäßigen Erhebung von Daten bedient, die dann klassifiziert und kategorisiert und dergestalt zur Überprüfung von Hypothesen eingesetzt wurden. Wo Experimente nicht möglich waren, suchte man sie durch Vergleiche zu ersetzen. In beiden Fällen jedoch ging es um die Erkenntnis allgemeiner und intersubjektiv überprüfbarer Gesetzmäßigkeiten. In ganz Europa wurde das 18. Jahrhundert zur Blütezeit der vergleichenden Anatomie, der vergleichenden Sprachwissenschaft und des proto-anthropologischen Vergleichs–aus Letzterem entwickelte sich dann die Lehre von den Entwicklungsstadien, die alle Völker und Nationen zu durchlaufen hätten. Die offensichtliche Differenz zwischen ihnen dürfe nicht davon ablenken, dass sie dennoch gemeinsamen historischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen seien–diese waren sowohl die Bedingung wie auch das wesentliche Erkenntnisinteresse des historischen Vergleichs.

Brachte der Siegeszug des Historismus mit seiner Betonung der unhintergehbaren Individualität von Nationen und historischen Ereignissen die Abkehr von der Suche nach dem Allgemeinen und damit auch vom Vergleich, so führte die Wendung gegen den Historismus seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem in Deutschland zu einer neuen Blütezeit der Komparatistik. War es im 18. Jahrhundert die Begegnung mit den Naturwissenschaften, so wurde jetzt die Auseinandersetzung mit der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften, vor allem mit den Theorien zur gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierung, zur treibenden Kraft. Nicht mehr die Frage nach dem ›Wie‹ historischer Abläufe, sondern nach ihrem ›Warum‹ sollte fortan im Zentrum der Forschung stehen. Der Königsweg dorthin führte über den Vergleich (Wehler, 1980).

Gleichwohl wurde von Anfang an auch das Spannungsverhältnis zwischen zwei Tendenzen thematisiert: auf der einen Seite die Suche nach Gesetzmäßigkeiten, die eine Isolierung von Faktoren verlangt, um ihren Zusammenhang analysieren zu können; auf der anderen Seite das für die Geschichtswissenschaft zentrale Bestreben, diese Faktoren in ihren Kontext einzubetten und zu |32◄ ►33| betonen, dass erst dieser Kontext bedeutungsstiftend sei. Zudem spielte für die Geschichtswissenschaft die sprachliche Konstitution der Wirklichkeit, ihre Erfassung und Interpretation durch die historischen Akteure eine wesentlich größere Rolle als in den Sozialwissenschaften. Schufen Akteure durch ihre sprachliche Benennung Unterschiede zwischen Phänomenen, gaben sie ihnen damit unterschiedliche Bedeutung, so wurde argumentiert, dann könnten die Historiker diese Unterschiede nicht durch übergreifende Definitionen einebnen. Damit war das Ziel des Vergleichs nicht länger die Erkenntnis allgemeiner Gesetze, also solcher, die für alle Zeiten und Räume Gültigkeit beanspruchten, sondern die Erfassung von kausalen Zusammenhängen mit begrenzter Reichweite (Haupt / Kocka, 1996b; Kaelble, 1999a). Die Gesetze, denen die Geschichte unterworfen war, waren selbst Produkt der Geschichte und bedurften damit der Historisierung.

Auf der anderen Seite: Ohne Auswahl und Gewichtung von Faktoren und ohne die Frage, wie eine spätere Entwicklung mit einer früheren kausal zusammenhängt, ist Geschichtswissenschaft, selbst in ihrer historistischen Ausprägung, unmöglich. Der explizite Vergleich steht also nicht im Gegensatz zur Geschichte als Kontextwissenschaft, er systematisiert und rationalisiert lediglich, was ohnehin implizit stattfindet–auch die Behauptung der Singularität eines Phänomens setzt ja den Vergleich immer schon voraus.

Weniger gegen den Vergleich als solchen und seine Erkenntnisinteressen als gegen seine Methodik richtet sich denn auch die Kritik der letzten Jahre. Sie entzündete sich zum einen an der Auseinandersetzung um den ›europäischen Sonderweg‹, der seit Max Weber zum Motor für den Vergleich zwischen Europa und anderen Erdteilen geworden und dann in den Modernisierungsdebatten wieder aufgenommen wurde. Der Vergleich, das Postulat der Unterwerfung unter gemeinsame Gesetzmäßigkeiten, wehre der Festschreibung von Differenzen als natürlich gegeben (›Essentialisierung‹) und ihrer Hierarchisierung nur scheinbar.

Bestehende Unterschiede negierten zwar nicht mehr eine fundamentale Gleichheit. Dadurch jedoch, dass die ausgemachten Differenzen auf die Zeitschiene verlagert würden, also ein früheres|33◄ ►34| oder späteres Stadium der gemeinsamen Entwicklung darstellten –Asien etwa der europäischen Vergangenheit entspräche, Europa der asiatischen Zukunft, weshalb Vergleiche vorzugsweise diachron durchzuführen seien–käme es zu einem Verlust der Gleichzeitigkeit (denial of co-evalness, Fabian, 1983) und damit zur Ausblendung der Möglichkeit einer Rückführung dieser Unterschiede z. B. auf den Kolonialismus.

Der Vergleich, lautete der Vorwurf weiter, führe zu einer Defizitgeschichte. Nicht mehr ein von beiden Vergleichseinheiten unabhängiges tertium comparationis bilde den Maßstab, sondern eine der Einheiten stelle zugleich die Norm dar, an der die Entwicklung gemessen werde. Nicht um den Vergleich von Äpfeln und Birnen ginge es, um im Bilde zu bleiben, sondern darum, was der Birne fehle, um ein Apfel zu sein–die klassische Frage nach dem ›What went wrong with Islam?‹ (Lewis, 2002). Anders als im Falle des Obstes gäbe es für den Vergleich zwischen Kulturen keine Begriffe und keine Metaebene, die nicht ihrerseits schon sprachlich, historisch und kulturell geprägt seien. Zumal wenn die beiden Seiten des Vergleichs noch immer über unterschiedliche (wissenschafts-)politische Macht verfügten, die Möglichkeit eines »the Empire writes back« (Ashcroft / Griffiths / Tiffin, 1989) also nur marginal bestünde, führe der Vergleich damit zu einer Verfestigung des Ungleichgewichts.

Der zweite methodische Angriff kam von Seiten der Historiker, die räumliche Wanderungsprozesse untersuchten–sei es von Völkern, Sprachen, Ideen oder Artefakten: Ein methodisch sauberer Vergleich, der auf den Nachweis von Interdependenzen zwischen zwei Faktoren abziele, müsse von zwei oder mehr unabhängig voneinander existierenden Einheiten ausgehen, die zum einen über den Vergleichszeitraum hinweg stabil blieben, zum anderen weder auf gemeinsame Wurzeln zurückgingen, noch sich gegenseitig beeinflussten. In den Naturwissenschaften war dieser Einwand bereits im 19. Jahrhundert unter dem Stichwort ›Galtons Problem‹–nach dem britischen Rasseforscher Francis Galton–diskutiert worden (Kleinschmidt, 1991). Für die Neuzeit sei diese Form der Unabhängigkeit nur in Extremfällen gegeben, in der Regel seien die Untersuchungseinheiten vielmehr Teil eines|34◄ ►35| engen Beziehungsgeflechts. Dieses auszublenden führe nicht nur zu Verzerrungen, es nähre auch die Illusion von unabhängigen Nationalstaaten, deren Entwicklung durch endogene Faktoren zu erklären sei. Der Vergleich führe also gerade nicht zu einer Überwindung nationalstaatlicher Paradigmata, sondern im Gegenteil zu ihrer Verstärkung (Espagne, 2003).

Diese Vorwürfe haben zu einer überaus anregenden Diskussion sowohl innerhalb der Komparatistik wie auch zwischen den Komparatisten und den Transferhistorikern beigetragen und zur Entwicklung von Vorschlägen für eine Kombination beider Ansätze geführt. Sie sollen im nächsten Kapitel vorgestellt werden.

Transnationale Geschichte

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