Читать книгу Vier Adventsgeschichten - Martin Opatz - Страница 4

2

Оглавление

Das überschwängliche Hupen auf der Rheinstraße reißt mich aus meinen nostalgischen Erinnerungen. Diese türkischen Hochzeitskolonnen werden auch immer länger. Irgendetwas klingt heute jedoch anders, als sonst, bei derartigen Veranstaltungen: Es ist ein brummender Grundton, der den Fanfarenklang untermalt.

Ich konzentriere mich auf das Geräusch. Plötzlich durchzuckt mich die Erkenntnis: Der Ton ist mir, als Fahrer eines Motorrades aus dem berühmten Werk in Minnesota, selbstverständlich vertraut – es ist der typische Sound einer Harley Davidson. In diesem Fall allerdings nicht nur eines, sondern vieler Motorräder des hier in Rede stehenden Herstellers. Ich stelle den selbstgezauberten Latte macchiato mit ordentlich Milchschaum auf dem Küchentisch ab und stürme auf die, meiner Meinung nach, einsturzgefährdete Loggia meiner derzeitigen Behausung im dritten Obergeschoss eines Altbaus. Unten fahren hunderte weihnachtlich geschmückte Motorräder im Konvoi an mir vorbei. Es sind nicht alles amerikanische Modelle, es gibt auch deutsche, italienische und japanische. Die Fahrer haben sich größtenteils als Weihnachtsmänner verkleidet. Ihre Motorräder sind mit blinkenden Lichterketten und Christbaumkugeln aufgebrezelt. Einige haben kleine leuchtende Tannenbäumchen auf den Sozius geschnallt. Das gab sicher Ärger mit der Stammbesetzung, die sich jetzt wohl grollend ins heimische Wohnzimmer zurückziehen musste, weil Herr Göttergatte unbedingt seinen Weihnachtsbaum spazierenfahren wollte. Die Passanten bleiben stehen. Viele winken der fröhlich hupenden Kolonne zu.

Und jetzt fällt es auch mir wieder ein: Am 24.12. ist Heiligabend, am 25.12. ist Weihnachten und das ist in genau zehn Tagen! Heiliger Strohsack, wie die Zeit vergeht.

Am Schluss des vorweihnachtlichen Motorradkorsos kommt dann noch ein Truck vorbei, auf dem eine Amateurblaskapelle aufklärend Alle Jahre wieder zum Besten gibt. Wer es bis dahin nicht begriffen hat, ist nun vollends informiert – vorausgesetzt, er kennt das Lied.

Das bunt blinkende Spektakel hat sich knatternd und hupend in Richtung Rathaus Friedenau verzogen und mir bleiben ein paar Minuten, um die Erkenntnisse aus dem gerade Erlebten zu ordnen.

Weihnachten … Das ist immer etwas ganz Besonderes: Winterzeit, Schnee, kalte Luft … Die unglaubliche Ruhe, die in dieser Zeit herrscht. Die Menschen sind gut gelaunt und freuen sich auf ein besinnliches Beisammensein mit ihren Lieben. Die wunderbaren Weihnachtslieder, die uns allerorts begleiten, stimmen uns auf das ein, was da kommt. Herrlich!

Ich weiß nicht, wie lange ich so gedankenversunken und blöde vor mich hinlächelnd auf der Loggia gestanden habe. Auf jeden Fall klärt sich mein Geist langsam wieder auf und ich stelle fest, dass von all den schönen verträumten Gedanken recht wenige übrig geblieben sind. Eigentlich ist eher gar nichts davon in meiner jetzigen Realität erkennbar. Es nieselt vor sich hin, die Temperatur pendelt zwischen ein bisschen kalt und eher zu warm für einen vernünftigen Schneefall. Unten auf der Straße hasten die Menschen in Richtung Schlossstraße, einer der Einkaufsmeilen in Berlin, und – wie sollte es anders sein? – die Autos hupen im Stau. Ich kann keinen Passanten ausmachen, der den hupenden Autofahrern freundlich zuwinkt.

Eben noch fasziniert von der bunten knatternden Horde, die mich gedanklich in die Vorweihnachtszeit gezogen hat, bin ich plötzlich ernüchtert. Muss ich nicht noch irgendwas vorbereiten oder besorgen? Hastig verlasse ich die Loggia. Ich erwarte ohnehin jeden Moment, dass sich dieses Bauteil vom Rest des Gebäudes löst und mit lautem Getöse auf den Bürgersteig donnert. Das würde so gar nicht zu den heiligen Klängen der Weihnachtslieder passen. Andererseits hätte ich mit meiner Weissagung recht behalten, schließlich gibt es hierzu eine Menge Schriftverkehr mit der zuständigen Hausverwaltung. Aber das tut hier nichts zur Sache.

Lange vor der Anmietung dieser Wohnung, hatten sich die Bewohner des Dachgeschosses über mir überlegt, dass Dachterrassen einen Sinn haben. Dummerweise sind solche Dinger nie ganz dicht. Gemeint sind hier die Terrassen, nicht die Eigentümer. Also läuft irgendwann mal Wasser durch die Altbaudecke, was sich zum Beispiel an der hiesigen Wohnzimmerdecke, auf einer Fläche von rund acht Quadratmetern sehr schön braun abzeichnet. Die Fenster zur Loggia vergammeln langsam durch die eingedrungene Feuchtigkeit, sodass sie sich nicht mehr richtig schließen lassen. Wenn das gestern passiert wäre, hätte ich keine große Last damit, es ist aber schon vor drei Monaten geschehen und eine Beseitigung des sogenannten Mangels scheint nicht in Sicht.

Nicht so schlimm. Wir haben bald Weihnachten. Da ist man nett und freundlich zueinander. Also ich bin es!

Inspiriert durch die motorisierten Weihnachtsmänner schalte ich die Lichterkette ein, die ich um die Balkontür herum befestigt habe. Eigentlich ist das eine stimmungsvoll, anheimelnde Lichtstimmung. In diesem Fall wird jedoch auch zusätzlich der gesamte Wasserschaden beleuchtet. Ich finde das im Moment nicht so festlich und ziehe den Stecker wieder aus der, vor einer Woche erst neu erworbenen, Dreifachsteckdose. Ohne Schadensbeleuchtung ist der weihnachtliche Stimmungseffekt zwar nicht mehr da, aber zumindest wird man nicht stets an den handwerklichen Dilettantismus erinnert.

Ich empfehle mir, mal langsam unter die Dusche zu gehen, um mir den Schlaf aus den Augen zu spülen. Im Anschluss daran werde ich, wenigstens nehme ich es mir strikt zu fast hundert Prozent vor, die nahegelegenen Einkaufszentren besuchen. Vielleicht werde ich durch die dortigen Schaufensterauslagen zum Kauf diverser, noch nicht vorhandener Weihnachtsgeschenke inspiriert.

Meine Stimmung steigt zunehmend. Ich habe mich für heute strukturiert. Ich weiß genau, was ich tun werde. Oft fällt mir das an den Wochenenden, an denen ich mich mal in Berlin befinde, schwer. Da ich mich wochentags beruflich bedingt zum Teil in Stuttgart aufhalte, sammle ich dort im Geiste sämtliche wichtigen Themen, die ich in der Hauptstadt erledigen muss. Beim Gitarreklimpern oder Comiczeichnen kann ich am besten entspannen und mir dabei die kompakte Struktur, der noch auszuführenden Leistungen des Wochenendes, am leichtesten aufbauen. Allerdings stelle ich irgendwann fest, dass meine Fingerkuppen durch das Gitarrespielen sehr stark schmerzen. Das ist kein Wunder, denn meist spiele ich stundenlang. Es lohnt sich dann einfach nicht mehr, irgendetwas anderes anzufangen. Und schließlich ist der Sonntag auch noch ein Tag. Hoffentlich hat wenigstens der Supermarkt von gegenüber auf, damit ich mir was Vernünftiges zum Abendbrot holen kann – und wenn‘s nur der Weißwein ist.

Frisch geduscht, unter Beobachtung des schönen roten Weihnachtssterns, der sein Dasein auf der gefliesten Fensterbank fristet, fühlt man sich gleich wie neu geboren und will den Tatendrang ausleben. Weihnachten … das ist herrlich. Die Möglichkeiten der Zeitmessung zeigen mir Daten zwischen 10:28 Uhr und 10:45 Uhr. Ich verstehe nicht, wie iPhone, iPad, MacBook und Ice-Watch so unterschiedliche Arten der Zeitwiedergabe haben können – ist doch alles elektronisch im Jahre 2013.

Ich vertraue der Aussage meines iPads und habe somit 17 Minuten gewonnen. Komischerweise verplempere ich derartige Gewinne immer mit dauernden Überlegungen, was ich mit der gewonnenen Zeit anfangen soll und eh ich michs versehe, ist schon wieder Weihnachten. Es ist wirklich merkwürdig: Anstatt beruhigt zu sein, dass ich noch so viel Zeit habe, werde ich nervös, weil ich noch so viel Zeit habe.

Ich nutze den zeitlichen Vorsprung erst mal, um mich in Ruhe einzucremen. Ich kann mir ja Zeit lassen und die Minuten des Eincremens dahingehend verschwenden, mir Gedanken darüber zu machen, wo ich bei der geplanten Struktur beginne.

So richtig genau kenne ich meinen Tagesstart nicht, als ich die Cremetube wieder schließe. In solchen Momenten ist es sinnvoll, ruhig zu bleiben, oder besser gesagt: zu werden. Ich schaffe es grade noch, mich teilweise anzuziehen, wobei Socken in dieser Phase nicht zwingend notwendig sind. Ich gehe ins Wohnzimmer und nehme das Beruhigungsmittel von der Wand. Nur mal ganz kurz ein paar Takte klimpern und dann geht‘s raus in den Weihnachtstrubel. Ich freue mich drauf.

Wie wird eigentlich Last Christmas auf der Gitarre gespielt? Gott sei Dank gibt es Internet. Google, google, google … da ist es. Die Griffstruktur ist nicht sehr einfach, das braucht Zeit. Irgendwie passt meine Stimme grad nicht so richtig zur Klangstruktur des Zupfinstrumentes. Da läuft doch was schief! Oder besser gesagt: Es klingt schief!

Nach einigen gruseligen Fehlversuchen stelle ich fest, dass die Gitarre verstimmt ist. Da das iPad über eine elektronische Stimmgabel verfügt, lässt sich das Problem flott und simpel lösen. Kurze Kontrolle über die Flageolett-Töne und schon klingt alles wieder harmonisch. Ich freue mich über das Ergebnis und zünde zwei Kerzen an. Nur ein paar Akkorde noch und dann werde ich rausgehen, ins Weihnachtsgetümmel.

Es ist schon erstaunlich, wie unglaublich schnell es in der Winterzeit dunkel wird. Mir fallen Dinge ein, wie kürzester Tag, längste Nacht … Also draußen ist es auf jeden Fall ziemlich dunkel. Das ist eigentlich merkwürdig. Ich sitze doch noch gar nicht so lange am Küchentisch. Ein rascher Blick auf die Digitalanzeige des iPhones klärt mich jedoch dahingehend auf, dass es doch irgendwie wieder heimlich 17:03 Uhr geworden ist. Donnerwetter. Kein Wunder, dass meine Füße so kalt sind.

Jetzt aber los, das wird sonst nichts mit dem Weihnachtsbummel, wobei das ja nun wohl eher ein Weihnachtssprint werden wird.

Ich hänge die Klampfe an den Nagel, ziehe mir in Windeseile die fehlenden Kleidungsstücke an, puste die Kerzen aus und geh zur Wohnungstür. Als ich davor stehe, weiß ich wieder mal nicht, ob es sich überhaupt lohnt, sich jetzt noch zwischen die hektischen Massen zu werfen. Morgen wäre ja auch noch ein Tag. Es ist dann zwar Sonntag, aber vor Weihnachten sind die Adventssonntage immer verkaufsoffen. Ich schiele zur Gitarre, kann mich jedoch von dem Gedanken losreißen und öffne beherzt die Wohnungstür.

Nachdem ich die Tür von außen abgeschlossen habe, gibt es kein Zurück mehr.

Vier Adventsgeschichten

Подняться наверх