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„Ich habe auf euch gewartet“

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Zur gleichen Zeit fühlen sich die Brüder Graviano auf ihrem ureigenen Hoheitsgebiet bedroht: in Palermo, im Stadtteil Brancaccio. Zur ernsthaften Bedrohung für sie wird ein kleiner, schmächtiger und von Natur aus sanfter Mann: Giuseppe Puglisi, der Pfarrer des Viertels, von allen Don Pino genannt. Pino Puglisi ist mit Leib und Seele Priester. Das Evangelium zu verkünden heißt für ihn in erster Linie draußen bei den Menschen zu sein. Seine Pfarre sind die engen Straßen und Gassen des verrufenen Viertels, das von Arbeitslosigkeit und Drogenhandel gezeichnet ist sowie eine der höchsten Kriminalitätsraten der Stadt aufweist. Hier kämpft der „tapfere Priester“, wie er später genannt wird, darum, den jungen Menschen Mut und Hoffnung zu geben. Er will ihnen eine andere Perspektive vermitteln als die, sich als einzigem Ausweg dem organisierten Verbrechen anzuschließen.

Mitten in Brancaccio gründet Don Pino deshalb ein Sozialzentrum: das Padre Nostro. Der Pater und sein Zentrum sind der nach außen hin so gottesfürchtigen Cosa Nostra von Anbeginn ein Dorn im Auge. Denn dort spricht Don Pino von Geschwisterlichkeit, von Solidarität und von sozialem Frieden. Seine Mission sieht er im Einsatz für Gerechtigkeit und Recht, im Einsatz für die Rechte und Pflichten der Bürger und Pfarrangehörigen. Puglisi stellt sich offen und eindeutig auf die Seite der Unterdrückten und der am Rande der Gesellschaft Stehenden. Sein Ziel ist es, ein auf christlichen Werten basierendes Rechtssystem zu schaffen. Mit Wut sieht die Mafia, dass seine Worte Gehör finden und sich das Zentrum eines guten Zulaufs erfreut. Doch für Puglisi ist das alles zu wenig. Er will bei seinen Bestrebungen, die Menschen zum Umdenken zu bringen, bei den Kindern ansetzen. Er gründet eine Schule – überzeugt, dass Erziehung und Ausbildung der richtige Weg sind – und kümmert sich intensiv um Drogenabhängige. Auch für sie kämpft er um einen Platz in der Gesellschaft, für einen Weg heraus aus der Sucht. Bei seinen Predigten von der Kanzel der Kirche San Gaetano nimmt der Pfarrer sich kein Blatt vor den Mund. Er spricht die Probleme des Viertels geradeheraus an und scheut auch nicht davor zurück, die Verursacher dieser tristen und von Gewalt geprägten Realität bei ihren Namen zu nennen: Giuseppe und Filippo Graviano.


Giuseppe Puglisi

Für die brutalen und skrupellosen Bosse stellt dies eine unerträgliche Herausforderung dar. Die Berufung auf das Evangelium und die Würde eines jeden Einzelnen macht ihnen Angst. Sie fürchten, sie könnten bei der jungen Generation an Einfluss und damit an Macht verlieren. Puglisi ist eine Gefahr für sie, weil er ihre eigenen Spielregeln als verbrecherisch und unchristlich aufdeckt, weil er unerschrocken mit der Bibel in der Hand gegen die Mafia auftritt und sich nicht einschüchtern lässt. Eine Gefahr, die deshalb eliminiert werden muss. Die Bosse verhängen ihr Todesurteil über ihn. Am Abend des 15. September 1993, es ist Puglisis 56. Geburtstag, schlagen die Killer zu.

Kurz vor 21 Uhr kommt Don Pino nach einem erneuten Tag voller Anfeindungen vor seiner bescheidenen Behausung an. Seine Mörder warten bereits in einem Auto versteckt auf ihn. Als der Priester die Schlüssel zur Eingangstür ins Schloss stecken will, nähern sich zwei Männer von hinten. „Pater“, sagt einer, „Pater, das ist ein Raubüberfall.“ Es ist Gaspare Spatuzza, der den Auftrag hat, Don Pino abzulenken. Spatuzza versucht, ihm seine Tasche zu entreißen. Der Mord, das war der Plan, sollte wie ein unglücklich ausgegangener Gelddiebstahl eines Drogenabhängigen aussehen, die Tat auf einen der Schützlinge Don Pinos zurückfallen. Selbst die mit einem Schalldämpfer versehene Pistole wurde so ausgewählt, dass sie die Ermittler in die Irre führt. Es ist ein für Mafia-Attentate völlig unübliches Modell: eine Beretta, Kaliber 7,65.

Im selben Augenblick, als Spatuzza die Tasche an sich reißt, drückt der zweite Mann ab. Salvatore Grigoli schießt Puglisi aus nächster Nähe lautlos in den Nacken. Bevor der Priester zu Boden fällt, lächelt er seine Mörder an und sagt: „Ich habe auf euch gewartet.“

Der Gerichtshof in Palermo verurteilt am 13. Februar 2001 Gaspare Spatuzza und Salvatore Grigoli wegen Mordes. Giuseppe Graviano erhält im Fall Puglisi wegen „Anstiftung zum Mord“ eine lebenslange Gefängnisstrafe, sein Bruder Filippo zehn Jahre Haft. Giuseppe Puglisi wird im Mai 2013 vor hunderttausend Menschen in einem Stadion in Palermo seliggesprochen. Als erstes Opfer der Mafia in der Geschichte der katholischen Kirche.

Die Familie Graviano – so schreiben die Richter in ihrer Urteilsbegründung – übt in jenen Jahren „die absolute Kontrolle über ihr Gebiet aus“. Was immer dort auch passiert – Erpressung, Raub, Mord –, die Gravianos wissen Bescheid oder, schlimmer, sind in den meisten Fällen selbst die Auftraggeber. Ihre Herrschaft bleibt lange ungebrochen. Auch der Umstand, dass sie bereits vor 1993 in den Untergrund abgetaucht waren und sich nicht mehr in Sizilien, sondern auf dem italienischen Festland aufhalten, ändert nichts daran. Durch ihre Flucht sind sie einer Verhaftung und einer Anklage im Sinne des Mafia-Paragrafen entgangen.

Während ihre Erfüllungsgehilfen im ganzen Land Terror verbreiten, genießen die Brüder Graviano – wie sich später herausstellt – das Leben in einer luxuriösen Villa am Meer. Die Geschäfte führen sie aber – auch dank ihrer Schwester – sowohl vom Untergrund aus als auch später aus dem Gefängnis heraus weiter. Am 27. Jänner 1994 werden Giuseppe und Filippo in Mailand verhaftet. Nach einer ausgiebigen Shopping-Tour mit ihren Frauen wollen die beiden den Abend im Restaurant „Il Cacciatore“ ausklingen lassen. Die sonst so vorsichtigen Bosse wittern die Gefahr nicht. Die Polizisten sitzen, als harmlose Restaurantgäste getarnt, bereits in Warteposition. Seither sind die Brüder im Gefängnis.

In der Folge tritt ihre Schwester auf den Plan. Nunzia, sagt Staatsanwalt Michele Prestipino, wird nicht nur zur Statthalterin ihrer Brüder vor Ort, sie nimmt vor allem die wirtschaftlichen Angelegenheiten der gesamten Familie in die Hand und übernimmt damit eine führende Rolle innerhalb des Clans. Denn nichts fürchten Giuseppe und Filippo nach ihrer Verhaftung mehr als den Verlust ihres beträchtlichen Vermögens. Sei es durch eine vom Staat vorgenommene Beschlagnahme, sei es durch Kämpfe innerhalb der Cosa Nostra, in der nun der neue Boss der Bosse, Bernardo Provenzano, den Ton angibt.

Die junge Frau übt ihre Funktion mit Überzeugung aus. Sie sieht sich nicht nur als ausführendes Organ, sie entwickelt ihre eigene Vision einer zeitgemäßen Mafia. Nunzia – bestätigt Michele Prestipino, der sie bei einer Vernehmung als „sehr entschlossen, sehr resolut“ erlebt hat – verkörpert die Moderne innerhalb der Familie. Sie träumt von internationalen Geschäftsmodellen und möchte die organisatorische Zentrale des Clans ins Ausland verlegen. Bald ist das Land gewählt. Sie geht nach Südfrankreich, um von dort die Geschäfte der Familie abzuwickeln.

Mit dieser Entscheidung steht Nunzia im klaren Gegensatz zu den Frauen ihrer Brüder, die ihr anvertraut sind. Ihre Schwägerinnen bleiben der traditionellen Rolle der Mafia-Frauen treu. Die beiden ziehen ein Leben in Palermo einem anonymen Aufenthalt im Exil vor. Sie wissen, dass sie zuhause auf den Respekt der Clanmitglieder zählen können, der ihnen als Ehefrauen ehrenwerter Männer gebührt, die ihre Gefängnisstrafe „würdevoll“, weil nicht mit der Justiz kollaborierend, absitzen. Das schon historische Fach der passiven First Lady der Mafia ist jedoch Nunzias Sache nicht.

Nunzia ist bei allen wichtigen Entscheidungen, die das Überleben des Clans betreffen, dabei. Sie kommuniziert mit den Brüdern im Gefängnis, sie kümmert sich um die „Gehälter“ für inhaftierte Mafiosi und deren Familien, an sie wenden sich andere Mafia-Familien, wenn es darum geht, größere Entscheidungen zu treffen. Sie arbeitet Schulter an Schulter mit ihrem Steuerberater und ihrem Rechtsanwalt. Dank ihrer Fähigkeiten erleiden die wirtschaftlichen Unternehmungen der Familie keinen Einbruch, stellen die Untersuchungsrichter fest. Die „Familie“ besteht somit weiter.

Nunzia sorgt dafür, dass die Gelder in Brancaccio eingetrieben werden. Noch im Jahr 2012, also bereits nach ihrer zweiten Verhaftung, soll sie allein aus Vermietungen von Wohnungen und Büros 66.000 Euro monatlich eingenommen haben. Doch die Mieten tragen in den 1990ern nur einen kleinen Teil zum Vermögen bei. Die Familie Graviano verfügt über einen großen Immobilienbesitz, den es angesichts der veränderten Lage zu verkaufen gilt. Sei es in fingierten Geschäften an Strohmänner, sei es tatsächlich in realen Transaktionen. Das Imperium muss neu geordnet werden.

Einblick in das von Nunzia verwaltete Familienvermögen geben die Abhörprotokolle der Ermittler. So beraten sich der Anwalt der Familie, Domenico Salvo, und Filippo Graviano im November 1998 über den Ankauf einer neuen Wohnung für die Mutter in Palermo. „Es gibt ein Palais aus dem achtzehnten Jahrhundert“, setzt der Jurist die Familie in Kenntnis, „vollständig restauriert und renoviert. Allein der Salon ist 260 m2 groß.“ „Kaufen, und zwar sofort, ohne lange nachzudenken“, ist die Antwort Filippos. „Je größer, desto besser, dann haben eventuell auch andere Familienmitglieder Platz.“

Zu dieser Zeit lebt Nunzia bereits an der Côte d’Azur. Sie schlägt in Nizza ihren Hauptwohnsitz auf und beherbergt je nach Bedarf einmal die Mutter, einmal die Schwägerinnen. Nunzia liebt das Leben an der französischen Mittelmeerküste, das eleganter, aber vor allem sicherer ist als in Palermo. Hier kann sie sich unerkannt und unbehelligt in der Öffentlichkeit bewegen. Hier kann sie in Ruhe ihre Finanztransaktionen abwickeln.

Wann immer es die Geschäfte verlangen, pendelt sie zwischen Frankreich und Sizilien. Mit ihren Brüdern hält sie regelmäßig Kontakt. Einerseits, um von ihnen Anweisungen bezüglich Vermögensverwaltung sowie Mafia-Aktivitäten entgegenzunehmen, andererseits, um von ihren eigenen Tätigkeiten zu berichten. Während der Gespräche benützen die Geschwister einen familienspezifischen Kommunikationscode. Sie verschlüsseln nicht nur Namen und Sachverhalte, sie verwenden auch eine eigens erfundene Gestik, die die Ermittler erst im Laufe der Beobachtungen entschlüsseln werden. Jede noch so harmlose Bewegung, wie das Tippen auf die Stirn oder das Berühren des kleinen Fingers der linken Hand, verweist auf einen – fast immer – illegalen Tatbestand und wird später in der Beweisführung von der Justiz verwendet.

Die Stunde der Patinnen

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