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Die erste Patin der Cosa Nostra

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Die Zeit der großen Herausforderungen beginnt für Giusy jedoch 1995 – ein „Schreckensjahr“ für den Vitale-Clan. Ihr Bruder Vito wird im Februar zwar aus dem Gefängnis entlassen, doch als er von einer drohenden neuerlichen Verhaftung erfährt, schließt er sich Giovanni Brusca im Untergrund an. Drei Monate später wird Leonardo festgenommen und nach Palermo ins Gefängnis gebracht. Zuletzt landet sogar der mittlere Bruder Michele, der in Partinico bisher eine eher untergeordnete Rolle innegehabt hat, hinter Gittern. Die Führung des Clans geht einem ungeschriebenen Gesetz nach von Leonardo auf Vito über, denn er ist, wenn auch in einem Versteck lebend, der einzige sich in Freiheit befindende Bruder. Die Fäden laufen jedoch bei der 23-jährigen Schwester zusammen. In dieser Zeit arbeitet Giusy „Tag und Nacht“. Sie lernt alles, was man über das mandamento, den Herrschaftsbereich, der Vitale wissen muss und führt einen Großteil der Geschäfte bereits ganz allein. Einmal mehr will sie ihren Brüdern zeigen, dass sie ihnen ebenbürtig ist und problemlos die Führung des Clans übernehmen könnte. Und das, obwohl sie eine Frau ist! Mit Stolz nimmt sie wahr, dass sie ihre Brüder gegenüber anderen Mafia-Mitgliedern lobend erwähnen, auch wenn sie ihr gegenüber nach wie vor diktatorisch auftreten. Staatsanwältin Lia Sava bezeichnet sie als „Frau mit energischem Temperament, die wie ein Erdbeben die komplexe Welt der Cosa Nostra erschüttert“.

Immer mehr entfernt sich Giusy von ihrer eigenen Familie. Für die Kinder und vor allem für den Ehemann bleibt wenig Zeit. Sie ist für ihre Brüder jederzeit abrufbereit: für Vito, der nun meist in einem Stall nahe Partinico lebt, zwischendurch jedoch immer wieder anderswo in den Bergen Unterschlupf sucht, und für Leonardo, der im Gefängnis Ucciardone inhaftiert ist. Mehrmals pro Woche nimmt sie die vom Gesetzgeber vorgesehenen Besuchstermine wahr. Giusy fungiert als Verbindungsfrau zwischen den beiden, übermittelt verschlüsselte Botschaften und trägt ihren Teil zur Umsetzung getroffener Entscheidungen bei. Sie tritt aber auch immer häufiger mit anderen Clans in Verbindung und wacht über die territoriale Integrität des familiären Herrschaftsbereichs.

1996 steht die Familie – und damit auch Giusy – vor ganz neuen Herausforderungen. Giovanni Brusca, Vitos Vertrauter, geht der Polizei ins Netz. Nur durch einen Zufall befindet sich Vito zum Zeitpunkt der Razzia nicht im selben Haus und entgeht damit knapp der Festnahme. Der öffentliche italienische Fernsehsender RAI widmet der Verhaftung des „Superkillers“ eine Sonderausgabe seiner TV-Nachrichten. Auch Giusy verfolgt die Bilder im Fernsehen. „Der Mörder Giovanni Falcones“, „das Monster“, „der Verantwortliche für hunderte Delikte“: Die Journalisten überschlagen sich in ihren Aussagen. Bald darauf tauchen erste Gerüchte auf, die später ihre Bestätigung finden: Giovanni Brusca habe eine Zusammenarbeit mit der Polizei akzeptiert und möchte als Kronzeuge ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden. Für Vito wird es eng, sehr eng. Doch der Boss scheint dies geradezu als Ansporn zu verstehen, und so läuft die Familie in dieser Zeit zu ihrer kriminellen Höchstform auf. Ihr Arm reicht bis nach Palermo und Trapani, wo ein neuer Pate am Mafia-Himmel aufsteigt: Matteo Messina Denaro. Die Vitale wollen neue Allianzen schließen, um den eigenen Aufstieg abzusichern. Vito ist sogar als Nachfolger Totò Riinas im Gespräch. Zwei Jahre lang funktioniert die Familienstrategie, bis am 14. April 1998 die Polizei erneut zuschlägt. Vito wird verhaftet. Giusy protestiert lautstark, während das Polizeiauto mit quietschenden Reifen Richtung Gefängnis davonfährt.


Festnahme des Auftragskillers Giovanni Brusca 1996

Der Schock ist gewaltig. Nun ist der Clan führungslos. Zumindest offiziell.

Was also tun? Bisher kannte die Cosa Nostra in einer derartigen Situation nur zwei Auswege: Entweder ein weiteres männliches Mitglied rückt in die entstandene Lücke nach oder der Clan ist dem Untergang geweiht. Wie eine Beute auf dem Servierteller für gegnerische Familien angerichtet, deren Machthunger und Rachedurst gestillt werden wollen.

Wie aus den zahlreichen Abhöraktionen hervorgeht, findet Giusys ältester Bruder die Lösung für dieses Dilemma, und Leonardo ist keiner, der klein beigibt. In seiner Zelle fällt er die schicksalshafte Entscheidung: Der Clan bleibt bestehen, lässt er aus dem Gefängnis ausrichten. Nichts werde sich an der Macht der Vitale ändern. Leonardo setzt seine Schwester als Oberhaupt ein. Giusy ist ab nun ein echter Boss, die erste Frau an der Spitze eines Clans in der Geschichte der Cosa Nostra. Die erste Frau, die nicht nur von der eigenen Familie als Regentin, sondern auch von anderen Familien als solche anerkannt wird.

„Ich hatte die Führungsrolle inne“, erklärt Giusy später dem Staatsanwalt. „Ich habe die Cosa Nostra angeführt und ich habe jene Entscheidungen getroffen, die ich als richtig empfand.“

Giusy steht ihren Brüdern an Härte und Grausamkeit in nichts nach. Sie ist skrupellos wie sie und sie ist nun Herrin über einen willfährigen Machtapparat mit entsprechendem Waffenarsenal. Ohne Bedenken treibt sie verstärkt Schutzgelder ein und verdoppelt dadurch innerhalb kürzester Zeit die Einnahmen von rund 700 Millionen Lire auf eineinhalb Milliarden. Das erpresste Geld, das vorwiegend aus dem Bauwesen stammt, dient auch dazu, die „Geschwister im Gefängnis sowie deren Familien“ zu versorgen.

Als Boss an der Spitze des Clans entscheidet Giusy aber auch über Leben und Tod, und sie tut dies, ohne mit der Wimper zu zucken. Zutiefst überzeugt, dass alles, was der Familie schaden könnte, eliminiert gehört. Die Schmach über die Verhaftung Vitos sitzt tief. Die Verräter müssen daher gefunden und neue Vertrauensmänner angeworben werden. Hinter allem wittern die Vitale einen übermächtigen Gegner: Bernardo Provenzano, der – im Gegensatz zu seinem bereits inhaftierten Gegenspieler Totò Riina – weiterhin aus dem Untergrund seine Herrschaft ausübt. Provenzano will Partinico unterwandern, glaubt auch Giusy, und ist sich sicher, seine eingeschleusten Mittelsmänner bereits identifiziert zu haben. Besonders einer ist ihr ein Dorn im Auge: Salvatore Riina, ein Lebensmittelhändler, der zufällig wie der Ex-Boss der Bosse heißt und den Spitznamen „Mortadella“ trägt.

Als aufmüpfig beschreibt Giusy den „Gewerbetreibenden, bei ihr ums Eck“, als einen, der die Vitale im Ort „kleinredet“ und ihnen gleichzeitig die Einnahmen aus der Vergabe öffentlicher Aufträge streitig machen will. Das ist sein Todesurteil.

Am 23. April 1998 ist Giusy wieder einmal bei ihrem Bruder Leonardo zu Besuch im Gefängnis. Das Gespräch wird – wie alle anderen auch – von den Sicherheitskräften aufgezeichnet. Später wird der Staatsanwalt hervorheben, dass es vor allem Giusy war, die an diesem Tag für „Mortadellas“ Ermordung eintrat. Er sei ein Mann Provenzanos, insistiert sie. Offen bleibt am Ende nur mehr die Frage, wo und durch wen sie den Mann umbringen lassen wird.

Weitere drei von ihrem Bruder eingeforderte Mordaufträge werden vorerst aufgeschoben.

Als echter Boss hat Giusy eine rechte Hand, die ihr rund um die Uhr zur Seite steht. Michele Seidita ist ein Freund der Familie und sie kennt ihn seit ihren Kindheitstagen. Jetzt ist er Giusys einziger Vertrauter. Ein notwendiger Vertrauter, denn auch wenn sie als capomandamento, als Bezirksboss, akzeptiert ist, bleibt sie in den Augen der patriarchalisch dominierten Mafia-Welt in erster Linie eine Frau und darf an den Versammlungen nur in Begleitung eines Mannes teilnehmen. Mit Seidita plant und organisiert sie die Ermordung des „Verräters“, wählt Ort, Zeit und Waffe aus. Während am Abend des 20. Juni in der Garage des Opfers die tödlichen Schüsse fallen, befindet sich Giusy mit Mann und Kindern für alle sichtbar in einer Pizzeria, die Verwandte vor kurzem eröffnet haben. Im selben Lokal essen auch der Sohn des Mordopfers, Giuseppe, dessen Verlobte und einige Freunde. Man freut sich über das zufällige Wiedersehen, plaudert ein wenig und Giuseppe spielt mit Giusys Sohn Francesco. Dann geht jede Familie zu ihrem Tisch und gibt ihre Bestellung auf. Ein ganz normaler Abend in einer ganz normalen Pizzeria. Doch noch bevor die Pizze fertig sind, verlassen Giuseppe und seine Begleitung eilig und ohne Worte das Lokal. Der junge Mann hat einen Anruf auf seinem Mobiltelefon erhalten. Niemand beachtet den Vorfall, nur Giusy. Sie kennt als Einzige den Inhalt des Telefonats. Jemand hat Giuseppe mitgeteilt, dass sein Vater ermordet worden ist. Nach Mitternacht gibt es im Haus von Michele Seidita einen fröhlichen Umtrunk. Man stößt auf das gelungene Unternehmen an. Eine eindeutige Botschaft an den damaligen Boss der Bosse, Bernardo Provenzano: Hier regieren wir, die Vitale, und sonst niemand.

Am 25. Juni 1998 wird Giusy Vitale verhaftet. Wie besessen von ihrer Machtfülle, hat sie diese Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen. Als sie mit den vielen verschiedenen Abhörprotokollen konfrontiert wird, ist sie überrascht über die eigene Unvorsichtigkeit. Zu wenig verschlüsselt waren die Aussagen, zu eindeutig das aufgezeichnete Beweismaterial. Die langjährigen Ermittlungen der Polizei zeigen, dass Giusy schon bald eine außergewöhnliche Rolle innehatte, dass sie Mitwisserin vieler, auch blutiger Geheimnisse war und Kontakte zu anderen Mafia-Familien hielt. Giusy war eine Frau, die Befehle auszuführen wusste und Befehle geben konnte. Sie war Teil des berüchtigten Corleoneser Clans um Totò Riina und damit Teil eines der dunkelsten Kapitel der neueren italienischen Geschichte.

Giusy wird wegen Mafia-Zugehörigkeit zu sechs Jahren Haft verurteilt, die später auf viereinhalb Jahre reduziert werden. Doch bereits 2003 wird sie erneut verhaftet und angeklagt. Diesmal muss sie sich wegen des Mordes an „Mortadella“ verantworten. Die junge Frau, die ihre Haft absaß, ohne jemals Zeichen der „Schwäche“ zu zeigen, bekommt erstmals Angst, lebenslang hinter Gittern zu bleiben und ihre Kinder nie mehr wiederzusehen. Im Februar 2005, sieben Jahre nach ihrer ersten Verhaftung, beschließt Giusy Vitale nach langem inneren Kampf, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Als erste Patin packt sie aus und erzählt aus ihrem Leben als Mafiosa. Sie gibt Einblick in die sonst verschlossene Welt der Bosse, deckt Verbindungen zu Politik und Wirtschaft auf, klagt eine nur allzu nachsichtige, weil korrupte Verwaltung an. Giusy löst mit ihren Aussagen, die tausende Seiten füllen, ein regelrechtes Erdbeben aus. Mit derselben Radikalität, mit der sie sich vorher in den Dienst der Mafia gestellt hat, tritt sie nun gegen das organisierte Verbrechen und ihre eigene Familie auf. Die Reaktion der Brüder lässt nicht auf sich warten. Während einer Verhandlung am Schwurgericht in Palermo wird Leonardo Vitale, der sich in einem Gefängnis in Parma befindet, zugeschaltet. Von dort richtet er den Bannstrahl gegen die abtrünnige Schwester: „Ich habe gehört, eine Ex-Blutsverwandte von mir arbeitet jetzt mit der Polizei zusammen. Wir sagen uns von ihr los, ob lebendig oder tot, was sie hoffentlich bald sein wird … Sie ist ein giftiges Insekt!“

Doch Giusy lässt sich nicht beirren. Sie geht ihren eingeschlagenen Weg weiter und bricht weiter Tabus. Diesmal auf der anderen Seite. Der richtigen, wie sie jetzt sagt. Wie eine sprudelnde Quelle gibt sie immer mehr Details preis. Sie erzählt von der Verlogenheit der „Ehrenwerten Gesellschaft“, ihrer Scheinheiligkeit und den nur nach außen gelebten familiären Werten. Sie spricht von den Abenteuern ihres verheirateten Bruders und von ihren eigenen Liebhabern, mit denen sie ihren Mann betrogen hat. Vom geringen Wert des menschlichen Lebens, wenn man auf der falschen Seite steht. Es ist ein Befreiungsschlag, den Giusy Vitale versucht. „Ich habe dreißig Jahre wie im Mittelalter gelebt“, sagt sie eines Tages, „damit muss Schluss sein. Ich will ganz neu anfangen.“

Letztlich – sagt sie – war dann doch alles ganz einfach. Es war eine einfache Frage ihres Kindes, die alles ins Rollen gebracht hat: „Mama, was ist das: die Mafia?“

Giusy Vitale wird der erste weibliche Boss, der sich ins Zeugenschutzprogramm aufnehmen lässt.


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