Читать книгу Die Stunde der Patinnen - Mathilde Schwabeneder-Hain - Страница 7

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Am 25. Juni 1998 klicken für Giusy Vitale die Handschellen. Unerwartet, wie sie später sagen wird. Die junge Frau hatte sich sicher gefühlt, doch Abhöraktionen der Polizei wurden ihr zum Verhängnis.

Mit ihrer Verhaftung wird ein neues Kapitel in der Geschichte der sizilianischen Mafia geschrieben. Giusy Vitale ist die erste Frau, die in Palermo wegen ihrer führenden Rolle nach dem Mafia-Paragrafen angeklagt und rechtskräftig verurteilt wird. Später beschließt sie, als Kronzeugin auszusagen, und wird ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen.

Von einem „atypischen Phänomen“ ist im Untersuchungshaftbefehl zu lesen, von „etwas, das scheinbar alle Regeln durchbricht“: Eine Frau nimmt eine außergewöhnliche Position ein, fernab der klassischen Rolle einer donna di mafia, einer Mafia-Frau.

„Ja, ich war an der Spitze der Cosa Nostra“, antwortet Giusy Vitale während des Prozesses auf die Frage von Staatsanwalt Francesco Del Bene nach ihrer Rolle in der Mafia. Die italienischen Medien bezeichnen die damals 26-Jährige spontan als „boss in gonnella“ („Boss im Rock“), als Lady Boss, als eine „Frau, die es Männern gleichtut“. Hart, unerschrocken und unerbittlich.

Das Wort Mafia hört Giusy Vitale in ihrer Kindheit nie. Es ist auch gar nicht nötig, denn sie atmet das organisierte Verbrechen mit der Luft ein, die sie umgibt. Sie nimmt Regeln und Verhaltensmuster ihrer männerdominierten Umwelt nicht nur passiv auf, sie versucht sie selbst umzusetzen. Dazu bedarf es jedoch keines mafiatheoretischen Einführungsunterrichtes, es genügt die tagtäglich gelebte Realität.

Giusy Vitale wird am 25. Februar 1972 in Partinico geboren, als Letzte in einer Reihe von fünf Geschwistern. Ihre Brüder Leonardo, Michele und Vito sind ihre wichtigsten Bezugspersonen, wichtiger sogar als die für sie bereits relativ alten Eltern. Leonardo ist 17, als Giusy geboren wird, Michele 15 und Vito 13. Anders als ihre ruhige und angepasste Schwester Nina sieht sie in ihren älteren Brüdern Helden. Idole, die vor den bösen Bullen beschützt werden müssen. Halbgötter, denen sie gefallen und nacheifern will. Vor allem Leonardo ist für Giusy die „eigentliche väterliche Figur in der Familie“.

Giusy ist erst sechs Jahre alt – erzählt sie vor Gericht –, als sie erstmals an der Hand ihrer Mutter die Brüder im Gefängnis besucht. Sie erinnert sich an die stumme Verzweiflung der Mutter, die ihren Söhnen jedoch nach jeder Straftat, ohne Fragen zu stellen, zur Seite stand. An die Angst, die selbst der eigene Vater vor seinen gewalttätigen Kindern hatte. Die Justizprobleme der Brüder – vor allem die von Leonardo und Vito – dominieren den Alltag der Familie. Gefängnisaufenthalte sind Teil dieser vermeintlichen Normalität. Einer wird entlassen, der andere verhaftet. Eine Art kriminelle Endlosschleife. Die Anklage ist jedoch immer ein und dieselbe: Zugehörigkeit zur Mafia.

Partinico ist eine kleine Stadt nahe Palermo mit heute etwas mehr als 30.000 Einwohnern. 1968 drehte Regisseur Damiano Damiani mit Claudia Cardinale und Franco Nero in den Hauptrollen hier einige Szenen seines Films „Der Tag der Eule“ („Il giorno della civetta“). Als Vorlage diente Damiani der gleichnamige Roman des sizilianischen Schriftstellers Leonardo Sciascia, in dessen Mittelpunkt ein hochmotivierter Polizist aus dem Norden steht. Hauptmann Bellodi soll den brutalen Mord an einem Bauunternehmer aufklären. Doch der Ermittler scheitert trotz hoher Professionalität und drückender Beweise an der Omertà, dem Schweigen der Bevölkerung aus Angst vor der Mafia.

Doch Partinico stand schon vor Sciascias 1961 veröffentlichtem Roman im Geruch des organisierten Verbrechens. Der italienische Sozialreformer und deklarierte Pazifist Danilo Dolci machte die Kleinstadt daher zur Basis seiner gewaltfreien Aktivitäten. Als er entdeckte, dass die Mafia sogar die Wasserversorgung des landwirtschaftlich genutzten Gebietes kontrollierte, trat Dolci in den Hungerstreik. Er forderte die Errichtung eines Staudamms am Fluss Jato, denn die Brunnen waren fest in der Hand der Bosse. Das daraus gewonnene lebensnotwendige Wasser ließen sie sich teuer abkaufen. Mit dem Damm – so die Idee Dolcis – sollte die Bevölkerung den freien Zugang zu den Wasserreserven erhalten und damit eine bessere Lebensgrundlage bekommen.

Unter dem Eindruck der Not der Menschen und ihrer Unterdrückung durch die allgegenwärtige Cosa Nostra gründete Dolci 1958 in Partinico ein Forschungsinstitut zur Entwicklung von Arbeitsplätzen, das Centro Studi e Iniziative per la piena Occupazione. Revolution, das heißt, jedem Einzelnen Verantwortung geben, war eines von Dolcis Leitmotiven. Nur so, war er überzeugt, können die Verbindungen von Politik und Mafia gekappt werden. Internationales Aufsehen hatte der „Gandhi Siziliens“ bereits zwei Jahre zuvor erregt. Sein „Umgedrehter Streik von Partinico“, "lo sciopero alla rovescia", wurde von vielen Medien aufgenommen, aber auch kontrovers diskutiert. Dolci legte den Finger auf eine offene soziale Wunde und ein bis dahin weitgehend ignoriertes Problem: Bezahlte Arbeit gab es in der meist bitterarmen und vom organisierten Verbrechen dominierten Region so gut wie keine.

Die Grundidee war die: Wenn ein Arbeiter, um zu protestieren, streikt, dann muss ein Arbeitsloser, der sein Recht auf Arbeit einfordern will, arbeiten. Gemeinsam mit hunderten Arbeitslosen begann Dolci eine völlig kaputte, für die lokale Infrastruktur jedoch unverzichtbare Landstraße zu reparieren. Die Polizei schritt ein und löste die Aktion prompt auf. Dolci wurde wegen subversiver Tätigkeit verhaftet und vor Gericht gestellt. Ein Jahr nach dem Prozess, der mit einem Freispruch endete, erhielt er den Lenin-Friedenspreis. Mit dem Preisgeld finanzierte Dolci sein Institut, das die „Selbstanalyse des Volkes“ fördern und letztlich zum Ende der Mafia beitragen sollte.

Als Giusy Vitale geboren wird, gehört der Westen Siziliens nach wie vor zu den am schlechtesten entwickelten Gebieten Europas. Der Staudamm war zwar errichtet worden, doch die gesellschaftspolitischen Ideen Danilo Dolcis sind nie umgesetzt worden. Und die von Sciascia exzellent beschriebene Omertà ist omnipräsent. Partinico ist weiter eine unbezwingbare Mafia-Hochburg.

Gesprochen wird zuhause wenig, erzählt Giusy Vitale nach ihrer Verhaftung. Geschlagen hingegen viel. Ihre Brüder setzen selbst innerhalb der Familie auf brachiale Gewalt und die Überzeugungskraft ihrer Fäuste. Sie bestimmen, was zu tun oder zu lassen ist. Widerrede ist zwecklos und bringt meist gebrochene Knochen sowie blaue Flecken. Es ist eine archaische Welt mit ungeschriebenen, menschenverachtenden Regeln, in der Giusy aufwächst. Für Bildung und Schule ist da wenig Platz. Erst recht nicht, wenn es sich um ein Mädchen handelt. Mehr als der Pflichtschulabschluss ist für sie nicht vorgesehen, obwohl sie, wie sie selbst sagt, „recht gut und auch fleißig war“. Giusys Lieblingsfächer Rechnen und Sport werden bald durch andere Interessen ersetzt. Mit 14 Jahren bleibt sie zuhause, hilft der Mutter und geht mit dem Vater auf die Felder.

Die Eltern Vitale sind – wie die meisten in und um Partinico – Bauern. Der Vater bestellt den Boden und versorgt die Kühe, seine große Liebe gehört jedoch den Pferden. Ein Pferd ist in Sizilien mehr als nur ein edles Tier. Es ist ein stolzes Symbol und untrennbar mit der Figur der gabellotti verbunden: Pächter, die die Latifundien der Barone betreuten. Sie galten als Bindeglieder zwischen dem Adel und den einfachen Bauern und hatten im Laufe der Zeit Polizeiaufgaben und Gerichtsbarkeit übernommen. In den meisten Fällen waren die gabellotti aber auch die Mafiosi des jeweiligen Ortes. Hoch zu Ross und mit einem Gewehr über der Schulter haben sie bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts ihre Herrschaft im immer noch feudal geprägten Sizilien ausgeübt.

Auch Giusy liebt Pferde. Schon als Kind lernt sie reiten und sie gibt diese Leidenschaft nicht einmal dann auf, als sie hochschwanger ist. Aber Giusy liebt auch Waffen. Gewehre und Pistolen gehören zum Inventar der Familie Vitale und so lernt sie bereits in jungen Jahren „mit Waffen umzugehen“. Während andere Mädchen ihres Alters mit Puppen spielen und von einem Märchenprinzen träumen, ergründet Giusy die Unterschiede zwischen Revolvern, Pistolen und halbautomatischen Handfeuerwaffen. Sie ist fasziniert von den Details und besonders angetan von der Lieblingswaffe ihres Bruders Vito, die so klein ist, dass sie leicht versteckt werden kann. Später wird auch sie „das rauschartige Vergnügen verspüren, wenn man bewaffnet umhergeht“.

Auf die Frage des Richters, wann sie begriffen habe, dass ihre Brüder für die Mafia arbeiten, sagt die Angeklagte Giusy Vitale: „Mit rund achtzehn Jahren oder wahrscheinlich schon etwas früher.“ In dieser Zeit wird ihr auch bewusst, dass ursprünglich eine andere Familie den Ort beherrscht hat – die Familie Geraci – und dass ihre Brüder darum kämpfen, diese zu verdrängen. Je härter der Kampf um die Herrschaft wird, desto brutaler und skrupelloser werden ihre Geschwister, die nie ein wirkliches Interesse an einer Tätigkeit in der Landwirtschaft gezeigt haben. Doch Giusy ist trotz der gewalttätigen Ausbrüche ihrer Brüder immer in ihrer Nähe und immer zu ihren Diensten. Lange Zeit versteht sie nicht, was tatsächlich vorgeht. Aber auch als sie die Zusammenhänge zu begreifen beginnt, ist sie stets überzeugt, dass ihre Familie ein Opfer der Justiz ist.

Stolz und Ehrfurcht erfüllen sie, als ihr ältester Bruder Leonardo, das tatsächliche Familienoberhaupt der Vitale, zum Boss von Partinico aufsteigt. Ab diesem Zeitpunkt vertritt Leonardo nicht mehr nur die eigene Familie, sondern auch die Mafia-Familie. Als neuer lokaler Regent agiert er jedoch nicht allein, sondern ist einem der berüchtigtsten Mafiosi aller Zeiten unterstellt: Totò Riina. Die Vitale sind ab nun Teil der kriminellen Oberliga Siziliens.

Die Stunde der Patinnen

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