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1 Das 19. Jahrhundert als Epoche

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Das „lange“ 19. Jahrhundert begann 1776 mit Revolution und Krieg in Amerika. Die Schlachtrufe der Amerikaner, die von französischen Soldaten unterstützt wurden, erreichten bald Europa und hallten 1789 während der Französischen Revolution wider. Die Ergebnisse der beiden Revolutionen zu Beginn des „langen“ 19. Jahrhunderts haben bis heute Bestand. Die unveräußerlichen Menschen- und Bürgerrechte, das Prinzip des Verfassungsstaats, die Trennung von Kirche und Staat und der Vorrang des Individuums vor den Ansprüchen des Staates gehören zum Wertekanon moderner Demokratien. Die Französische Revolution brachte einen prägenden Modernisierungsschub, der die Staaten Europas zwang, adäquate Organisationsstrukturen zu entwickeln. Napoleon verbreitete den Code Civil über den Kontinent, brachte mit seinen Soldaten die Ideen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ unter die Leute und löste damit eine Kettenreaktion aus. Im Bewusstsein der Menschen des beginnenden 19. Jahrhunderts brachte die Französische Revolution eine kaum zu bewältigende Beschleunigung in ihr Leben. Binnen kurzer Zeit veränderte diese Revolution die Lebenswelt der meisten Europäer. Als die Ära der „Franzosenzeit“ zu Ende ging, konnten die Ergebnisse der Revolution nicht mehr zurückgenommen werden. Zwar folgte nach 1814 eine Phase der Restauration in Europa. Aber die Ideen von bürgerlichen Rechten, nationaler Einheit und liberalem Verfassungsstaat waren vom europäischen Kontinent nicht mehr zu tilgen. Die Revolution in Frankreich hatte einen tiefen Mentalitätswechsel bei vielen Menschen ausgelöst. In nahezu allen Ländern des Kontinents entstieg der nationale Geist aus den bis dahin fest verkorkten Flaschen und sorgte neben dem aufkommenden Nationalismus für liberale Verfassungsbewegungen, die nach Beteiligung an der Macht in den Staaten Europas riefen. Die Französische Revolution war 1789 der Beginn einer Epoche, die nicht nur das Ende der Revolution und die militärische Niederlage vor den Toren Leipzigs im Oktober 1813 überlebte, sondern bis in die Moderne nachwirkt.


Aus den Forderungen der Revolution entstanden die europäischen Nationalstaaten in England und Frankreich zuerst, dann in Griechenland, Belgien, Italien und Deutschland. Das „lange“ 19. Jahrhundert endete wie es begann: mit Revolution und Krieg, wozu die „inzwischen voll entfesselte“ Dynamik der Nationalstaaten entscheidend beitrug (Kocka, 2001). Die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts ebneten den Weg von der Vielstaaterei des Mittelalters in eine moderne Organisation des Kontinents. Zu Lebzeiten des protestantischen Religionsstifters Martin Luther existierten knapp 500 eigenständige politische Einheiten in Europa. Sie alle pochten auf überkommene Rechte, eigene Zölle, Währungen und Gesetze. Von diesem geopolitischen Flickenteppich blieben am Ende des „langen“ 19. Jahrhunderts noch 25 übrig.


Für das „lange“ 19. Jahrhundert waren zwei Entwicklungen besonders prägend. Tragender Pfeiler des wirtschaftlichen Aufschwungs, der sich bis zum Ende des Jahrhunderts einstellte, war die Industrialisierung. Sie veränderte die Produktionsbedingungen, marginalisierte die bisherigen Familienstrukturen, löste die strukturelle Armut während des Pauperismus und mehrere Auswanderungswellen aus, war der Beginn der Urbanisierung Europas und gleichzeitig Ursache für soziale Bewegungen, die all das nicht wollten. Die zweite prägende Entwicklung war die Gründung der Nationalstaaten, deren negative Wirkmacht ins 20. Jahrhundert hineinragte und als ursächlich für den Ersten Weltkrieg gilt. Die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts versprachen ihren Bürgern Gleichheit und Teilhabe an den gesellschaftlichen Entwicklungen. Nach und nach wollten sie „ihre“ Bürger am Wohlstand beteiligen, Verfassungen erlassen und Freiheit und Fortschritt garantieren. Diese hohen Ansprüche waren verbunden mit kultureller Homogenität und Identität mit einer gemeinsamen Geschichte, die zum Bezugspunkt über die sozialen Grenzen hinweg wurde. Gleichzeitig versprach der Nationalstaat „Abgrenzung und Behauptung gegen äußere Gegner“ (Janz, 2013) und entblößte damit die zweite Seite der Medaille, denn „Abgrenzung und Behauptung“ hatten natürlich auch ein kriegerisches Element. Nach der gescheiterten deutschen Revolution 1848/49 und der Reichsgründung 1871 griff die Nationalstaatsidee immer mehr auf Ost- und Südosteuropa über. Beim Berliner Kongress erhielten 1878 Serbien, Montenegro und Rumänien ihre nationalstaatliche Eigenständigkeit, während Bulgarien teilweise autonom wurde. Mit der Ausdehnung der Nationalstaaten ging das Ende der multiethnischen Superstaaten einher. Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich waren vor Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr in der Lage, als regionale Ordnungsmacht die ethnischen Konflikte in ihren Herrschaftsbereichen zu beruhigen.


Der Nationalstaatsgedanke des 19. Jahrhunderts verband sich mit der Zeit mit den Ideen des Liberalismus. Nun waren staatliche Einheit, Verfassungsstaat und individuelle Freiheiten der Dreiklang, der das überkommene System absoluter Monarchien erschütterte. Der Gedanke, in einer Nation mit gleichen Rechten für alle und einem an die Verfassung gebundenen Herrscher zu leben, erreichte mehr als nur die intellektuellen Eliten. In Deutschland war die Revolution 1849 gescheitert, aber die Ideen blieben erhalten – wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen. Der Nationalismus wurde mehr und mehr eine „konservative, auf den bestehenden Staat, seine Institutionen und Symbole bezogene Kraft – von der Obrigkeit gezielt gefördert“ (Janz, 2013). Er wurde schließlich zum sozialen Kitt, der als Antwort auf die Unwägbarkeiten, die die Industrialisierung mit der Binnenwanderung und der Urbanisierung nach sich zog, diente. Äußeres Erscheinungsbild waren Zeremonien, die mehrmals im Jahr die nationale Gemeinsamkeit zur Schau stellten. In Deutschland war das besonders der 2. September, an dem alljährlich an den Sieg im deutsch-französischen Krieg 1870 erinnert wurde. Jener „Tag von Sedan“ brachte Paraden, Schulfeiern, landesweite Beflaggung und national-patriotische Reden hervor, die allerdings oft in Hasstiraden gegenüber dem „französischen Erbfeind“ endeten. Frankreich erinnerte jedes Jahr an die glorreiche Revolution von 1789 und stellte dabei mitunter mehr als notwendig französisches Selbstbewusstsein zur Schau. Neben den Feiertagen wurden Staatsbegräbnisse aufwändig in Szene gesetzt. Das Pariser Panthéon, Westminster Abbey in London oder die Walhalla bei Regensburg gaben die geschichtsmächtige Umgebung derartiger Ereignisse ab. Der öffentliche Raum wurde mehr und mehr zu einer Feierstätte für Monarchen, Militärs und Staatsmänner. Allen voran gab der deutsche Kaiser Wilhelm II. den ersten Medienstar in der Geschichte. Seine öffentlichen Auftritte waren sorgsam inszeniert, für die anwesenden Photographen warf sich seine kaiserliche Hoheit auch schon mal in Pose. All das diente dem inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft, die in den zurückliegenden Jahrzehnten vieles hatte ertragen müssen.


Neben dem inneren Spektakel, das für jeden sichtbar, die eigene Nation zur Schau stellte, war die Industrialisierung für die Ausbildung des Nationalstaatsgedankens von großer Bedeutung. Sie verursachte die Konkurrenz zwischen die Nationalstaaten und etablierte das Ringen um wirtschaftliche Macht zwischen Europas Nationen. Aus einem geregelten Nebeneinander wurde spätestens mit dem Beginn des kalendarischen 20. Jahrhunderts eine heftige Konkurrenz. Großbritannien war als Kolonialmacht und durch die früh einsetzende Industrialisierung schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum weltweiten Wirtschaftsimperium aufgestiegen. Amsterdam hatte seine Stellung als zentraler Handelsplatz Europas an London verloren. Die Gründung des deutschen Kaiserreichs im Januar 1871 geschah auch als Ausdruck eines Aufholprozesses gegenüber dem industrialisierten und hochgerüsteten Großbritannien. Mit dem Ende der Ära Otto von Bismarcks änderte sich das außenpolitische Augenmerk Deutschlands auf den Erwerb von Kolonien, um mit dem ungeheuren Reichtum und den ökonomischen Möglichkeiten der europäischen Kolonialmächte mithalten zu können. Damit einher gingen die Debatten um militärische Aufrüstung und die Anschaffung einer deutschen Flotte. Beides mündete schließlich in waffenstarrenden Militärblöcken, die sich im Sommer 1914 gegenüberstanden. Doch bevor es soweit war, verlagerten die europäischen Großmächte ihr Augenmerk auf die Aufteilung der Welt, die vor allem in Afrika verheerende Folgen bis weit in das 20. Jahrhundert nach sich zog. Bei der „Eroberung des schwarzen Kontinents“ wurden Pseudonationen geschaffen, Grenzen mit dem Lineal auf einer Landkarte gezogen und in die Tat umgesetzt. Afrikanische Gebiete wurden so aufgeteilt, wie es den Europäern praktisch erschien. Als diese künstlich geschaffenen Gebiete in der Mitte des 20. Jahrhunderts in die Unabhängigkeit entlassen wurden, entwickelten diese Staaten eine Sprengkraft, die nach wie vor den gesamten Kontinent erschüttern.


Die Militärpotenziale der europäischen Nationen trafen nicht nur in Afrika aufeinander. Auch in Asien waren die Kolonialmächte vertreten und eroberten Teile dieses Kontinents als wesentliche Station ihres weltweiten Handels. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte Europa auf diese Weise eine weltweite Dominanz erreicht. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde all das aufs Spiel gesetzt und verloren (Kocka, 2001). Am Beginn dieser „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts hatte Deutschland ein gehöriges Maß an Schuld. Die Regierung in Berlin war im Sommer 1914 einer der maßgeblichen Akteure, selbst wenn Kaiser Wilhelm II. so tat, als sei er nicht involviert, weil er mit seiner Jacht in norwegischen Fjorden segelte. Aber Deutschland trug nicht allein die Verantwortung (Münkler, 2013).


Der Erste Weltkrieg trennt die beiden Jahrhunderte, von denen das 19. „lang“ und das 20. „kurz“ war. Der erste Krieg war das Menetekel eines noch viel größeren Desasters im Zweiten Weltkrieg. Aber die Grundlagen für die Anfälligkeit der Deutschen gegenüber den radikalen Positionen der Nationalsozialisten wurden im 19. Jahrhundert gelegt. Es fehlte an Demokraten und Erfahrungen mit der Demokratie, die Zivilgesellschaft funktionierte nicht, das Parlament wurde permanent an seiner Arbeit gehindert oder durch den allein regierenden Kaiser ausgehebelt, und schließlich hatte der alltäglich gewordene Militarismus den Deutschen einen Anblick serviert, der ihnen später bei den braunen Kolonnen von SA und SS nicht fremd war.


Nationalismus und Industrialisierung waren die beiden entscheidenden Komponenten des 19. Jahrhunderts. Die Menschen wurden durch beides zwar einerseits aus ihrer gewohnten Lebensumgebung herausgerissen, erlebten aber andererseits den Aufbruch in die Moderne mit. Ökonomisch betrachtet war England durch die schon weit fortgeschrittene Industrialisierung eine Weltmacht. Frankreich hatte es zwar mit inneren Unruhen zu tun, war aber doch ein weitgehend stabiles Königreich, das sich auf seine weltweiten Kolonien stützen konnte. Deutschland hingegen kämpfte noch mit der Überwindung der Folgen der konfessionellen Spaltung, seiner geopolitischen Zersplitterung und nicht zuletzt mit den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, der im 17. Jahrhundert die geographische Mitte des Kontinents zerstört hatte. Dadurch lag Deutschland ökonomisch deutlich hinter seinen europäischen Nachbarn zurück, auch wenn sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das wirtschaftliche Wachstum und der soziale Wandel rasch beschleunigten.


Mehr als zwei Drittel der deutschen Erwerbsbevölkerung war in der Landwirtschaft beschäftigt. Ihr Leben war eintönig, an die Scholle gebunden und warf für die Bauern nur ein bescheidenes Einkommen ab. Gleichwohl wurde der gesellschaftliche Reichtum im Agrarsektor erwirtschaftet, so dass jeder landwirtschaftlichen Innovation eine entscheidende Bedeutung zukam. Die gesellschaftliche Ordnung des ausgehenden 18. Jahrhunderts war ständisch geprägt. Die gesellschaftliche Trennung zwischen Adel, Klerus und dem aus freien Bauern und Bürgern bestehenden „Dritten Stand“ gab es im wirtschaftlichen ebenso wie im rechtlichen und sozialen Bereich. Dabei standen die Adligen mit den Fürsten und Königen an der Spitze der sozialen Rangordnung, die keinerlei Durchlässigkeit besaß. Mehr noch: Wer in eine soziale Schicht hinein geboren wurde, wurde durch Rechtsvorschriften darin festgehalten. Der Adel, der im 18. Jahrhundert von der Steuerzahlung befreit war, kontrollierte die Nutzung des Bodens und lebte von den Abgaben und Dienstleistungen, die die von ihm abhängigen Bauern zu erbringen hatten. Diese starre und jeder Modernität entgegenstehende soziale Ordnung wurde dadurch vor Veränderungen geschützt, dass den unteren Schichten kaum Wahlmöglichkeiten blieben. Sie konnten weder ihren Wohnort, noch ihre Arbeitsstelle, den Beruf und schon gar nicht ihre Ehepartner frei wählen. Ihr Leben unterlag strengen Regeln, die von ihren Grundherren überwacht wurden. Deshalb war es den meisten Menschen am Beginn des 19. Jahrhunderts nicht möglich, zu reisen, andere Städte oder Länder zu sehen. Und wenn sie ihre Region doch einmal verlassen konnten, dann traten sie eine beschwerliche Reise an, die sie in Pferdewagen über lehmige Wege von einem Ort zum anderen brachte. Den meisten Menschen wird ein derartiges Vergnügen allerdings verwehrt geblieben sein, weil sie weder das Geld noch das Interesse hatten, ihre heimatliche Umgebung zu verlassen. Mobilität bezog sich am Ende des 18. Jahrhunderts auf Händler, die den Kontinent kreuz und quer mit ihren Waren bereisten und auf fromme Pilger, deren Ziel meist der Vatikan in Rom war.


Kontemplatives Reisen und Erkunden passte nicht zur Lebenswirklichkeit der Menschen. Ihr Alltag bestand aus harter Arbeit auf den Feldern, die nicht ihnen gehörten. Die agrarischen Arbeitsweisen waren von Überlieferungen der Vorfahren geprägt, technischen Fortschritt gab es nicht. Das Familienleben war von der beständigen Sorge geprägt, was aus ihren Mitgliedern bei Krankheit oder Tod des Ernährers werden sollte. Die Kinder waren eine Art Zukunftssicherung, sie mussten eines Tages ihre Eltern unterstützen. Das Verhalten wurde bestimmt von ihrer Einstellung zum christlichen Glauben und zur Kirche. Die Bibel und die dazugehörige apostolische Interpretation bot den Menschen eine überirdische Sinnerklärung ihres beschwerlichen Lebens an. Durch die christliche Lehre war das Leben der Menschen stark von der Vorstellung geprägt, schon im Diesseits für das Jenseits zu leben. Im jenseitigen Reich des christlichen Herrn würden sie für ihre irdischen Qualen reichlich entschädigt werden, so die Heilsbeschreibung der katholischen und evangelischen Kirche. Damit ließen sich für die einen alle irdischen Ungerechtigkeiten leichter ertragen und für die anderen besser rechtfertigen. Gleichzeitig trug der christliche Wertekanon aber auch zur Stabilisierung der sozialen Ordnung am Ende des 18. Jahrhunderts bei. Beide christliche Kirchen boten den Menschen Halt in einer als ungerecht empfundenen Welt an. Der Wegfall dieses Halts durch die Säkularisierung der christlichen Welt während der Französische Revolution war Auslöser für Unsicherheitsgefühle und Zukunftsängste bei vielen Menschen am Beginn des 19. Jahrhunderts.


In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte der überwiegende Teil der Bevölkerung auf dem Land. Die allermeisten Erwerbstätigen waren in der Landwirtschaft beschäftigt, sie stellten das Rückgrat der agrarischen Gesellschaft. Lediglich zehn Prozent der Menschen hatten sich in Städten oder kleinen Siedlungen niedergelassen. Dort waren sie in den Manufakturen tätig oder übten kaufmännische und militärische Berufe aus. Aber auch in den Städten und Dörfern war das Leben strengen Regeln unterworfen. Zünfte und Gilden organisierten den Berufsalltag und sorgten durch strenge Zugangsregeln dafür, dass politische oder wirtschaftliche Rechte für die Angehörigen der jeweiligen Verbände erhalten blieben. Auch in den Städten kamen die meisten Menschen über ihren unmittelbaren Umkreis nicht hinaus. Reisen aus privaten oder beruflichen Gründen waren höchst selten, Straßen waren weder geteert noch kartographiert. Die Pferdewagen holperten über Kopfsteinpflaster oder lehmige Böden, was das Reisen verlangsamte und zur Strapaze machte.


Wer doch eine Reise antrat und Deutschland durchqueren wollte, musste mehrfach Zölle oder andere Abgaben zahlen, die an den Grenzen der vielen kleinen Territorien erhoben wurden. Hunderte eigenständige Völkerrechtssubjekte hatten sich auf deutschem Boden versammelt und damit zwar einerseits den Grundstein für den Föderalismus der heutigen Bundesrepublik gelegt, andererseits aber auch einen einheitlichen Wirtschaftsraum in der europäischen Mitte verhindert. Die französischen Nachbarn hingegen lebten bereits seit langem in einem einheitlichen, zentralistisch organisierten Staat. Die rückständige Agrarstruktur und die starke Wirkung der fortbestehenden feudalen Strukturen erschwerten in Deutschland sowohl die Lösung der nationalen Frage als auch die Bildung eines einheitlichen Marktes. Die feudalen Produktionsverhältnisse in Deutschland hemmten Produktion und Handel. Es gab keinen einheitlichen Markt und kein beherrschendes Zentrum des Handels. Jedes einzelne Territorium beharrte auf besondere Privilegien und Rechten und forderte lautstark die Beibehaltung besonderer Zölle und Abgaben.


Auf dieser Grundlage starteten die Deutschen in das aufregende 19. Jahrhundert. Wenn man es aus ihrer Sicht betrachtet, dann haben sie innerhalb eines Menschenlebens den Sprung aus einer rückständigen, kaum mobilen und wenig technisierten Agrargesellschaft in einen hochentwickelten, innovativen und stark technisierten Staat geschafft. Wie groß der Abstand zwischen Absprung und Landung war, kann man an technischen und ökonomischen Veränderungen ermessen. Gab es 1800 weder Straßen noch Eisenbahnlinien, schlängelten sich 1880 bereits 34.000 Kilometer Gleise durch das Land. Zur Jahrhundertwende arbeitete in Deutschland noch kein Hochofen, 100 Jahre später hatten sich im Ruhrgebiet ganze Städte um die qualmenden Schlote gebildet. Obwohl die neue Welt kaum noch wieder zu erkennen war und die alten Strukturen pulverisiert waren, mussten sich die Menschen in Deutschland diesem Wandel nicht nur anpassen, sondern ihn auch noch gutheißen. Von diesen Entwicklungen waren alle europäischen Länder betroffen. Aber die Deutschen waren auf Grund ihrer Geschichte und geographischen Lage in der Mitte des europäischen Kontinents besonders von den Umwälzungen betroffen. Deshalb lohnt die Betrachtung des 19. Jahrhunderts aus dem Blickwinkel der Deutschen, die den geostrategisch wichtigsten Teil des europäischen Kontinents bewohnt haben: Die Mitte.


Der Startschuss für die Veränderungen in Europa fiel aber nicht in Deutschland, sondern am 17. Juni 1789 in Paris durch einen Aufschrei der Empörung aus dem Munde eines Abgeordneten der französischen Nationalversammlung:

Das lange 19. Jahrhundert

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