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3 Josefine – 13. Januar 1926

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Eisblumen zeichnen sich am Schlafzimmerfenster ab. Es ist über Nacht kalt geworden, nachdem der Winter sich bisher noch vornehm zurückgehalten hatte. Aber jetzt kommt er mit voller Wucht.

Wie sie diese Jahreszeit hasst mit all den Beschwernissen, Kohlen schleppen, Schnee schippen, ständig zusehen, dass der Ofen nicht ausgeht. Vor allen Dingen die Wäsche trocknet nicht schnell genug. Jeden Tag hängt das Wohnzimmer voller Kinderkleidung und Stoffwindeln. Die Arbeit nimmt einfach kein Ende, und der mächtige Bauch macht ihr heute besonders schwer zu schaffen, schon vor dem Aufstehen.

Aber das ist auch kein Wunder, denn mal wieder geht eine Schwangerschaft auf ihr unvermeidbares Ende zu, ein weiteres kleines schreiendes Balg, das ihre volle Aufmerksamkeit verlangt und doch nur selten bekommen wird. Seit Tagen ist Josefine immer schon nach kurzer Anstrengung außer Atem und das Kindergeschrei im Haus strapaziert zunehmend ihre Nerven. Dann weiß sie aus Erfahrung, dass es bald soweit ist.

Aloys ist schon aufgestanden. Sie hört ihn in der Küche rumoren und mit den Kindern herumalbern. Irgendwie bewundert sie ihn für seine unbändige gute Laune und Geduld mit der ständig wachsenden Brut. Nie wird er laut oder reagiert unbeherrscht, auch wenn sie ständig um ihn herumwieseln und bei der Arbeit in der Schuhmacherwerkstatt ablenken.

„Luise, mach die Brote für die Kleinen, wenn du fertig gegessen hast. Mama geht es heute nicht so gut. Dalli, dalli!“,

„Mensch Papa, immer ich. Ich muss mich doch auch noch für die Schule fertigmachen.“, kommt die prompte Reaktion.

Luise ist fast zwölf und hat andere Dinge im Kopf, als sich um die kleinen Bälger zu kümmern, zum Beispiel möchte sie sicherstellen, dass ihr neuer Rock, den sie zu Weihnachten bekommen hat, auch frisch gebügelt ist und dem Urteil ihrer Freundinnen in der Schule standhält.

„Mecker nicht, und mach fix. In der Zeit, in der du dich beschwerst, kannst du schon drei Doppeldecker fertig haben.“

„Klara, zieh Alois und Tine frische Windeln an, die stinken wie ein ganzer Bau alter Füchse!“, ordnet Aloys seine andere Tochter an.

Klara, mit ihren zehn Jahren, schon eine kleine Madam, verdreht die Augen und rutscht von der Küchenbank, um den Anweisungen ihres Vaters zu folgen. Das tut allerdings auch sie nicht jedes Mal, ohne ihre eigene Meinung lautstark kundzutun, aber heute ist sie in Geberlaune.

Josefine lauscht noch etwas dem Treiben in der Küche und denkt darüber nach, wie anders doch das Leben ihrer Schwägerin Christine ist, die zwei Jahre zuvor nach Südamerika ausgewandert ist.

Gerade zu Weihnachten ist wieder ein langer Brief von ihr angekommen aus Uruguay. Uruguay, wie sich das schon anhört, so exotisch und klangvoll wie der Gesang einer fremden Eule. Angeblich heißt Uruguay übersetzt „am Fluss der bunten Vögel“ und sie stellt sich eine grüne Landschaft vor, durch die ein großer blauer Fluss zieht, überall frische Blumen blühen und Papageien in allen Farben durch die Lüfte ziehen. Christine schreibt davon, dass sie auf einem großen Gutshof lebt mit ihrem uruguayischen Ehemann Eduardo, der dort Verwalter ist, und wie sie als Leiterin des Haushalts über ein Heer von Bediensteten regiert.

Ach wie schön wäre das. Wenn man wenigstens ein Hausmädchen hätte, das bei der täglichen Schufterei etwas zur Hand gehen könnte. Aber das können sie sich nicht leisten. Noch sind ihre Mädchen zu jung, um das Kochen oder die Wäsche eigenständig zu übernehmen. Aber ran nimmt sie sie schon. Es kann nie zu früh sein, Werte wie Pflichtbewusstsein und Disziplin zu lernen. Wie sollen die Kinder denn sonst durchs Leben kommen. Kann ja nicht jeder so ein Glück haben wie Christine und in die weite Welt ziehen ohne Sorgen und Rücksichten. Die hat einfach alles zurückgelassen, die Familienpflichten, die üblichen täglichen Sorgen ums Geld und das bekannte Leben.

Das hätte Josefine nicht gekonnt, soweit weg von allen Menschen, die ihr lieb und teuer sind. Und die Angst, wenn man irgendwo die Sprache nicht spricht, nicht weiß, was richtig und was falsch ist oder wie man sich benehmen muss. Nein, das wäre nichts für sie gewesen.

Rhede ist schon Herausforderung genug. Als Südlohner Mädchen musste auch sie sich erst eingewöhnen in die neue Gemeinschaft, aber mit der Hilfe von Aloys, der im Ort bekannt ist wie ein bunter Hund, und Tante Trücken, die in den ersten Jahren ein wahrer Segen war, ist es ihr ganz gut gelungen.

Sie mag ihre Nachbarn und die Freunde, die sich gegenseitig helfen und füreinander einstehen, wenn es darauf ankommt. Natürlich gibt es auch viel Getratsche, aber das steht auf einem anderen Blatt.

Und der Herrgott ist ja auch immer an ihrer Seite. Er hat dafür gesorgt, dass ihr der Kindersegen vom Himmel herabregnete und ihr bittere Verluste bis jetzt erspart geblieben sind. Alle ihre Kinder sind gesund zur Welt gekommen und entwickeln sich prächtig, manchmal etwas zu prächtig für ihren Geschmack, denn einen Dickkopf haben die meisten schon mitbekommen.

Luise war die Erste, sie kam weniger als ein Jahr nach der Hochzeit im März 1914 auf die Welt, da war Josefine fünfundzwanzig Jahre alt, also nicht mehr unbedingt ein junger Hüpfer.

Aloys hatte das Haus seiner Eltern gerade geerbt und seine ledige Tante Trücken wohnte selbstverständlich bei ihnen. Das war natürlich oft nicht leicht, denn die modernen Ansichten der jungen Eltern gefielen ihr nicht unbedingt. Aber sie war eine gute Seele und half, wo sie konnte, und das war nicht wenig.

Schon fünfzehn Monate später, im Juni 1915, kam Klara hinzu. Die war alles andere als ein liebes Kind, und das sollte so bleiben. Monatelang schrie sie sich die Lunge aus dem Hals, den sie offensichtlich aus der Mutterbrust nicht voll genug bekam, und erst das eigentlich viel zu frühe Zufüttern mit Zwieback brachte etwas Ruhe ins Haus.

In der Zwischenzeit war der Krieg ausgebrochen und Aloys diente seinem Land als Soldat an der Grenze zu Holland, was es ihm ermöglichte, jeden Abend zuhause zu sein. So wurde aus der kurzzeitigen Ruhe kein Dauerzustand.

Mariechen, ihre kleine, fleißige Helferin, wurde im September 1917 geboren, die ruhige Else dann im September 1919 und schließlich der heiß ersehnte Stammhalter Heinz im Juli 1921.

Und damit nicht genug. Alois, nach dem Vater benannt, aber modern geschrieben mit einem „i“ in der Mitte, ist jetzt fast drei Jahre alt, ein echter Tyrann, und die kleine Tine mit ihren sechzehn Monaten steht ihm in nichts nach. Ihr Trotz lässt Wände erzittern. Woher sie das nur hat?

Schwägerin Christine hat bisher noch keine Kinder und Josefine kann zwischen den Zeilen in den Briefen lesen, dass sie sehnsüchtig darauf wartet, schwanger zu werden.

Regelmäßig erkundigt sie sich nach den Kindern und will von jedem einzelnen wissen, wie sie sich entwickeln und was sie so treiben. Als gäbe es irgendetwas Besonderes zu berichten. Die Kinder machen genau das, was Kinder üblicherweise so machen, spielen und Blödsinn verzapfen und sich gegenseitig ärgern. Und zwischendurch zur Schule gehen und lernen, was allen bisher mit Gottes Hilfe nicht schwerfällt.

Nee, Dösköppe haben sie nicht hervorgebracht, das kann man wirklich nicht behaupten. Stolz erfüllt sie für einen kurzen Augenblick, bevor sie ein Ziehen im Unterleib verspürt und sich mit einem großen Seufzer langsam aus dem Bett bewegt.

„Na Finchen, geht es etwas besser?“, fragt Aloys besorgt, als sie in die Küche schleicht.

„Nein, aber ich glaube, heute geht es los. Mein Bauch hat sich gerade stark zusammengezogen. Das ist immer ein erstes Anzeichen.“, antwortet Josefine mit sichtlichem Unbehagen.

Sie lässt sich auf einen Stuhl plumpsen und greift nach einer Kaffeetasse. Der Duft hat ihr schon die ganze Zeit in der Nase gelegen und sie braucht dringend einen Schluck, um ihre Lebensgeister zu wecken.

„Na dann, auf ein Neues! Du wirst das schon wieder gut hinkriegen, da bin ich sicher. Hoffentlich ist es ein Junge, Mädchen haben wir ja schon so viele. Aber wir nehmen es, wie es kommt. Der Herrgott wird schon wissen, was das Richtige für uns ist. Bleib sitzen, ich hole noch ein paar Briketts für den Herd, damit es dir wenigstens heute nicht kalt wird. Soll ich der Hebamme schon mal Bescheid geben?“, fragt Aloys mit einem verstohlenen Seitenblick auf sie, denn so sicher ist er sich nicht, dass alles wieder reibungslos verlaufen wird.

Josefine sieht müde aus, sie arbeitet zu viel in ihrem Zustand, aber was sollen sie machen. Sie können sich kein Personal leisten. Also, Zähne zusammenbeißen und durch. So will es der Herrgott, sonst würde er sie nicht ständig wieder mit einem kleinen Gottesgeschenk bedenken.

„Nein, es ist noch zu früh. Mir ist noch kein Wasser abgegangen. Ich sag dir schon, wenn du losmusst.“

Josefine greift nach einer Scheibe Brot und merkt, dass sie sich fast zu schwach fühlt, um die zu kalte Butter gleichmäßig zu verstreichen. Sie schafft es mit einiger Anstrengung und gibt Pflaumenmus oben auf, das sie im Sommer eingekocht hat.

Das ist ein anderer Grund, warum sie den Winter hasst. Sie kann nicht in ihren geliebten Garten gehen und sich darin stundenlang vergnügen. Wenn sie Unkraut zupft oder Blumen sät kann sie die ganze Welt um sich herum vergessen und sich ganz auf ihre Erdverbundenheit einlassen.

Mit viel Liebe pflegt sie die Obstbäume und Beerensträucher, pflanzt Kartoffeln und Gemüse und, vornehmlich für das eigene Pläsier, hegt sie ihre schönen Rosenbeete und all die anderen Sommerblumen. Das Ganze hat ja auch noch den wunderbaren Effekt, dass man das volle Jahr über Gemüse- und Obstvorräte hat.

Vor dem Genuss kommt allerdings das Einkochen, was sie nicht ganz so gern macht, aber mit Hilfe der Nachbarinnen geht ihr auch das schnell von der Hand. Und voila, das beste Pflaumenmus von der Darpstegge!


Ihr wird ganz mulmig, wenn sie daran denkt, wieder ein Kind an der Brust zu haben, das alles aus ihr heraussaugt, was es bekommen kann. Sie ist jedes Mal froh, wenn sie abstillen kann und endlich auch andere das Füttern übernehmen können.

Mariechen tut das besonders gern, sie mag kleine Kinder und geht sehr liebevoll mit ihnen um. Liebevoller manchmal, als es Josefine recht ist.

Sie glaubt nicht an das Verwöhnen von Kindern. Das Leben ist hart und man muss sie darauf vorbereiten. Klare Regeln, Disziplin und eine harte Hand, das sind ihre Erziehungsmaxime, so wie sie es selbst zuhause gelernt hat. Mit zu viel Schmusen und in den Arm nehmen erreicht man nur, dass die Kinder verweichlicht und von anderen untergebuttert werden.

Aber man muss sich in der rauen Welt behaupten können. Auch wenn man später selbst eine Familie hat, schadet es nicht, wenn man weiß, wie man sich durchsetzt, und dass nur Fleiß und harte Arbeit zum Erfolg führen.

Mit Aloys ist sie da nicht immer einer Meinung. Er hat stets Verständnis für die Bälger und stellt sich sogar manchmal gegen sie, wenn eins der Sprösslinge eine ordentliche Züchtigung für ein Vergehen verdient hat. Er sagt dann „Ach Finchen, das sind doch Kinder. Das war doch nicht böse gemeint.“ Dabei kann sie den Kleinen oft im Gesicht ansehen, dass sie es mit Absicht getan haben. So unschuldig sind die nicht. Nur freche Widerworte, die duldet Aloys auch ihr gegenüber nicht. Da gibt es dann schon einmal eine ordentliche Ohrfeige von ihm, ansonsten muss sie meist selbst Hand anlegen.


Mit ein bisschen Wehmut denkt Josefine an die Zeit zurück, als sie Aloys kennengelernt hat. Das war im Jahr 1912 und alles war so einfach und unbeschwert.

Sie hatte zwar viel Arbeit und wenig Geld, aber auch keine großen Sorgen. Sie arbeitete bei Fabrikant Wegmann in der Krechtinger Straße im Haushalt. Kochen, putzen, waschen, Kinder betreuen, all das hat sie hier von morgens früh bis abends spät gemacht. Dafür bekam sie Kost und Logis und ein paar Mark Lohn, den sie zum großen Teil für ihre Aussteuer sparte und mit dem anderen Teil ihren Vater in Südlohn unterstützte, der von seiner kleinen Rente aus der Zeit als Tagelöhner kaum leben konnte.

Wenn sie mehrere freie Tage hatte, lief sie zu Fuß nach Südlohn und später wieder zurück, die ganzen zwanzig Kilometer, denn ein Fahrrad hatte sie nicht. Aber das machte ihr nichts aus. Sie war zwar nicht groß, aber drahtig und kräftig, mit flinken Beinen. Müßiggang war ihr stets fremd und ist ja sowieso bekannter Weise aller Laster Anfang.

An einem Samstagabend im Sommer gab es ein Tanzfest bei Hengstermann und sie entschloss sich, mit ein paar befreundeten Hausmädchen dorthin zu gehen, um bei Tanz und Musik dem Alltag etwas zu entfliehen.

Sie tanzte gerne und war auch kein Kind von Traurigkeit, wenn es ums Singen von Schunkelliedern ging oder die Likörflasche die Runde machte. Auch einen aufgesetzten Obstbrand verschmähte sie nicht.

Als sie schon ordentlich in Fahrt war, kam dieser schmucke, gutaussehende junge Mann auf sie zu und forderte sie mit einem „Na, schöne Frau, wie wäre es mit einem kleinen Ründchen zu zweit?“, zum Tanz auf.

Er tanzte wie ein junger Gott und lachte sie dabei so natürlich und beseelt an, dass sie sich schon bald federleicht fühlte. Sie tanzten den ganzen restlichen Abend zusammen und dann brachte er sie nach Hause. Unterwegs erwies er sich als äußerst galant und zuvorkommend und sie sprachen miteinander, als würden sie sich schon ewig kennen.

Eine solche Vertrautheit hatte sie noch nie zuvor mit einem möglichen Freier verspürt, obwohl sie sich auch diesmal alle Mühe gab, ein wenig unnahbar zu erscheinen. Sie wollte erobert werden.

Natürlich hatte es schon andere Interessenten zuvor gegeben, aber bei niemandem hatte sie dieses Kribbeln im Bauch gespürt, wenn sie ihr in die Augen schauten. Bei Aloys war das anders. Irgendwie wusste sie gleich, das ist der Mann meines Lebens und mit ihm möchte ich alt werden.

Von diesem Tag an gingen sie regelmäßig zusammen aus und waren auf jeder Tanzveranstaltung im Ort anzutreffen. Aloys machte ihr ordentlich den Hof, und sie genoss es in vollen Zügen. Er hatte immer gute Laune und eine Menge Freunde, so dass es nie langweilig wurde.

Er war Schuhmacher und hatte gerade überlegt, sein erstes eigenes Geschäft in seinem Elternhaus aufzumachen, um neben Reparaturen auch Schuhe zu verkaufen, die nicht direkt auf Bestellung gemacht waren. Sie fand, das sei ein sehr ehrbarer Beruf, der auch eine Zukunft hatte, denn Schuhe brauchten die Menschen auf jeden Fall.

Ihre wunderbare, unbekümmerte Zeit des Freiens hatte leider aus ihrer Sicht ein viel zu frühes Ende. Die Mutter von Aloys starb plötzlich und unerwartet an einem Schlaganfall und es musste eine Frau ins Haus, die den Haushalt führen konnte. Tante Trücken war zwar eine gute Stütze, aber einen Geschäftshaushalt schmeißen, das wäre dann doch zu viel von ihr verlangt gewesen.

Im Februar 1913 hielt Aloys feierlich um ihre Hand an, in dem er vor ihr auf die Knie ging, ihr einen schönen selbstgepflückten Blumenstrauß reichte und in der anderen Hand einen silbernen Verlobungsring hielt.

„Liebes Finchen, seit einigen Monaten sind wir uns nun so nah gekommen, dass ich fest überzeugt bin, dass du die richtige Frau an meiner Seite bist. Möchtest du meine Frau werden? Bitte sag ja, sonst bin ich für alle Zeit verloren.“

Josefine musste ob dieser Schwülstigkeit seines Ausdrucks lachen, aber sie akzeptierte dann doch sein Anliegen aus vollem Herzen und mit dem nötigen Ernst.

„Ja Aloys, ich möchte deine Frau werden und mein Leben mit dir teilen. Ich hoffe, der Herrgott ist immer an unserer Seite.“


Und so sitzt Josefine jetzt hier in ihrer Küche in der Darpstegge und lauscht nach innen. Noch ist dort Ruhe angesagt.

Allerdings nicht im Rest der Küche. Alois ist mal wieder aus dem Laufstall geklettert und versucht, die Schubladen zu öffnen und das Besteck gleichmäßig auf dem Fußboden zu verteilen. Sie gibt ihm einen ordentlichen Klaps auf die Finger, worauf er sie verdutzt anschaut und losplärrt.

Tine, die noch im Laufstall sitzt, muss natürlich aus Sympathie gleich mitmachen und schreit sich mal wieder heiß. Bloß jetzt nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken, sonst wird das ein probates Mittel für die Kleinen, denkt sich Josefine.

Sie holt eine Wanne aus der Waschküche und fängt an, die Wäsche abzunehmen, die quer durch die ganze Wohnstube aufgehängt ist. Das Strecken in die Höhe verursacht das nächste Reißen im Rücken und sie muss kurz verschnaufen.

Als schließlich alle trockene Wäsche in der Wanne liegt, ist sie außer Atem. Sie setzt sich wieder an den Küchentisch und faltet auf. Obwohl die Kinder nur wenig zum Anziehen haben, kommen doch immer wieder Berge an Stoffwindeln, Unterwäsche, Kniestrümpfe, Strumpfhosen, Röcke, Hosen und Pullover zusammen. Bei neun Personen im Haushalt läppert es sich eben.

Tine und Alois haben sich in der Zwischenzeit wie erhofft wieder beruhigt und spielen mit ihrem Holzspielzeug. Dabei haut Alois mit einem Klötzchen mehrfach fest auf den Boden und verfehlt Tines Finger nur ganz knapp.

„Lass sofort das Hauen mit dem Klötzchen sein, Alois. Du kannst Tine wehtun.“, ermahnt Josefine ihn. Er schaut nicht einmal hoch und tut weiter so, als hätte er nichts gehört. Und da ist es passiert. Tine schreit auf einmal wie am Spieß und sie muss sie aus dem Laufstall nehmen, um sie zu beruhigen. Sie setzt sie zu sich auf den Schoß. Tine nimmt das als Einladung, die gefaltete Wäsche neu zu sortieren. Entnervt gibt es erneut einen Klaps auf die Finger und das Gebrüll fängt von vorn an.

Aloys kommt aus der Werkstatt im hinteren Teil des Hauses, schüttelt den Kopf und nimmt ihr das Kind ab.

„Na Tine, was hast du jetzt wieder angestellt. Mama geht es doch nicht so gut. Kannst du denn nie mal ein bisschen Frieden geben?“

Zu Josefine sagt er, „Ich nehme die Kinder mit in die Werkstatt, dann kannst du in Ruhe das Mittagessen machen, bevor die Großen aus der Schule kommen.“

Sie fragt sich, wieviel Schuhe er wohl reparieren wird mit den zwei Kleinen in der Nähe, aber sie ist zu müde um zu protestieren.


Heute ist Mittwoch, also würde es Eintopf geben, überlegt sie. Eigentlich war es egal, welcher Wochentag es war, es gab ständig Eintopf, außer an Sonntagen, da gab es in einem guten Monat auch schon mal Rouladen mit Rotkohl.

Sie geht in den Garten und schaut nach, wie der Grünkohl steht. Einige schön gewachsene, große gefrorene Blätter lachen sie an und sie schneidet sie mit Genugtuung ab. Auch dieses Jahr ist die Ernte wieder gut. Eine ordentliche Schaufel Mist an die Pflanzen im Herbst wirkt meistens Wunder.

Kartoffeln gab es noch reichlich im Keller, sie hatten ein paar Zentner für den Winter zugekauft, und so ist die Menüfolge schnell geklärt, zuerst das Gemüse durcheinander mit einem kleinen Streifen Bauchspeck für jeden und dann ein Glas eingemachte Kirschen.

Das musste reichen für die gesamte Bagage, inklusive Schusterlehrling August, der jederzeit einen riesigen Appetit aus der Werkstatt mitbrachte und ihnen die Ohren vom Kopf essen konnte, wenn es ihm schmeckte. Und das tat es meistens.

Oft war es schwer, alle satt zu kriegen, wenn mal wieder ein paar Kunden ihre Reparaturen oder neuen Schuhe nicht sofort bezahlen konnten und Aloys großzügig Stundung gab. Wie sollte sie dann Milch kaufen und Brot, das in rauen Mengen vertilgt wurde? Mindestens zwei Laibe pro Tag und alles wurde stetig teurer.

Aloys war ein guter Schuster, aber ein schlechter Geschäftsmann. Er hatte nach dem Krieg seine Meisterprüfung gemacht und voller Stolz seinen Meisterbrief vorn in seinem kleinen Laden aufgehängt. Nun könnte er mehrere Lehrlinge einstellen und sein Geschäft ordentlich ausbauen, so dachten sie.

Aber der Aufschwung nach dem verlorenen Krieg ließ noch immer auf sich warten und viele Familien hatten kaum genug zu essen. Neue Schuhe waren da eine große Anschaffung, die ein dickes Loch in die Haushaltskasse reißen konnte.

Aloys ließ sich zu häufig darauf ein, wenn die Kunden anschreiben wollten, weil der Lohn noch nicht ausgezahlt oder aus sonstigen Gründen die Kasse leer war. Sie hatte ihm schon tausendmal gesagt, dass das nicht ginge, weil er selber einen Stall voller Kinder zu versorgen hätte, aber er sagte dann stets,

„Finchen, sei nicht so hart. Die Leute werden schon das Geld bringen, wenn sie können und der Herrgott hat uns noch nie im Stich gelassen. Bisher hat hier noch keiner wirklich Hunger leiden müssen. Denk an die armen Soldaten im Krieg damals. Die hatten richtig Hunger!“

Aber von solchen Sprüchen ist auch noch keiner satt geworden, denkt sie bitter.

Sie merkt, wie die Wut langsam in ihr hochkriecht. Das passiert oft, wenn sie über ihre ständigen Geldsorgen nachdenkt oder mit Aloys darüber streitet. Aber momentan mochte sie nicht weiter in diese Richtung sinnieren.


Das Stehen am Herd macht ihr erneut zu schaffen und sie muss sich zwischendurch setzen. Man bekam zwar mehr Erfahrung im Kinderkriegen, aber leichter wurde es dadurch auch nicht. Sie wünschte, es wäre schon vorbei.

Die Tage nach der Geburt waren eigentlich die schönsten, wenn sie für sieben Tage im Bett bleiben durfte und sich nur um das Kleine kümmern musste. Weil Tante Trücken vor zwei Jahren einfach morgens tot im Bett gelegen hatte, musste dieses Mal eine Nachbarin kommen, um sich um den Haushalt zu kümmern, während sie im Wochenbett lag. Hoffentlich würde das gut gehen und die Kinder sich benehmen. Manch einer oder eine – sie dachte da besonders an Klara - hatte ja die Tendenz, sich ein paar Freiheiten herauszunehmen, wenn sie nicht aufpasste. Sie hatte sich fest vorgenommen, dieses Mal einfach wegzuhören, wenn es Probleme gab, und sich wirklich zu erholen, bevor der Alltag sie wieder auffraß.


Da fliegt die Küchentür auf und der fünfjährige Heinz stürmt herein. Er kommt gerade aus dem Kindergarten und erzählt ihr, ohne Luft zu holen, was für tolle Türme sie aus den vielen Holzklötzchen gebaut hatten und wie der böse Egon Terhardt sie einfach ohne Grund umgeschmissen hatte. Der hatte sich dann aber eine dicke Ohrfeige von Schwester Bernhardis eingefangen und musste eine halbe Stunde lang in der Ecke stehen. Das war ihm recht geschehen.

„Geh zu Papa in die Werkstatt und sag ihm, dass das Essen in einer Viertelstunde fertig ist. Wir essen pünktlich um zwölf Uhr.“, weist Josefine ihren Sohn an, der daraufhin aus der Tür rennt.

Wie waren sie doch beide so froh gewesen, als nach vier Mädchen endlich ein Stammhalter geboren wurde und der erwies sich nun auch noch als starker, intelligenter Junge mit einem sanften Kern. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, musste sie schon zugeben, dass er einen besonderen Platz in ihrem Herzen hatte, auch wenn sie das niemandem gegenüber zugegeben hätte.


Aloys und August kommen lachend aus der Werkstatt in die Küche, jeder ein Kind auf bzw. unter dem Arm. Alois Junior strampelt, um sich zu befreien, bekommt aber erst einmal ein paar freundliche Schläge auf den Po, bevor August ihn auf den Boden stellt.

„Na, habt ihr auch Hunger?“, fragt Josefine ihre Kinder und alle nicken heftig mit dem Kopf.

„Dann wascht euch schnell die Hände und setzt euch an den Tisch. Ich gebe euch schon mal auf.“

Die Kinder sausen zum Spülstein und sind in Windeseile wieder da. Sie verzichtet auf die Handkontrolle. Heute ist ihr irgendwie alles zu viel. Sie sind noch nicht mit dem Essen fertig, als nach und nach die Großen aus der Schule kommen.

Luise ist in einem Stadium, wo sie noch Kind, aber auch schon angehende junge Frau ist. Erste weibliche Formen sind zu sehen und seit ein paar Monaten ist ihr das Aussehen extrem wichtig geworden. Jeden Morgen steht sie erst vorm Spiegel im Flur, bevor sie das Haus verlässt. Nur noch drei Jahre, dann kommt sie schon aus der Volksschule und muss sich eine Arbeit suchen. Endlich wird dann zusätzliches Geld ins Haus kommen.

Klara ist erst zehn Jahre alt, aber bereits äußerst selbstbewusst. Ihr macht keiner ein X für ein U vor. Im Haushalt zu helfen ist nicht ihre Lieblingsbeschäftigung. Sie tut es eher unwillig und manchmal auch nicht ohne vorher eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Aber das lässt Josefine nicht zu. In ihrem Haus haben die Kinder zu tun, was ihnen die Eltern sagen. Im Leben gibt es immer Pflichten, es wird einem nirgendwo etwas geschenkt. Je früher die Kinder das lernen, umso besser.

Mariechen ist da ganz anders. Ihr macht die Hausarbeit Spaß. Schon jetzt mit ihren acht Jahren will sie ständig der Mutter beim Putzen und Waschen helfen. Mit viel Akribie faltet sie dann die Wäsche, der Herd ist spiegelblank, wenn sie ihn geschrubbt hat, und auch im Garten geht sie ihr gern zur Hand. Am liebsten allerdings beschäftigt sie sich mit Tine und spielt stundenlang mit ihr auf dem Boden. Sie freut sich riesig auf ein neues Geschwisterchen und sieht sich schon im Geiste mit dem Kleinen auf dem Arm beim Füttern und Wickeln. Sie wird sicher einmal eine sehr gute Hausfrau und Mutter, allerdings wahrscheinlich nicht unbedingt mit der nötigen Härte in der Erziehung.

Else ist die Stille in der Familie und man kann sie leicht übersehen. Sie ist im letzten Jahr eingeschult worden und verhält sich möglichst unauffällig. Sie gibt nie Widerworte und erledigt die ihr aufgetragenen Pflichten ohne Murren, aber auch ohne besonderen Ehrgeiz. Trotzdem ist sie nicht scheu und hat guten Anschluss bei den Nachbarskindern. Beim täglichen Durchzählen der Kinderschar zum Abendessen muss Josefine sich öfters selber an Else erinnern, wenn diese aus irgendwelchen Gründen die Uhrzeit vergessen hat und noch nicht am Tisch sitzt.


Im Nullkommanichts ist der Gemüsetopf geleert, der zum Warmhalten weiter auf dem Kohlenherd gestanden hatte, die eingemachten Kirschen sind vertilgt und Josefine beordert die Mädchen zum Abwasch.

Währenddessen legt sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer, um für kurze Zeit die Augen zu schließen. Gleich stand noch die wöchentliche Reinigung der Schlafzimmer an, und sie sah der Anstrengung, mit Besen, Eimer und Schrubber den Holzdielen zu Leibe zu rücken, mit Unbehagen entgegen. Bücken war jetzt nicht gerade ihre Lieblingshaltung.

Sie ist nur kurz weggenickt, als sie auf einmal bemerkt, wie es zwischen ihren Beinen warm und nass wird. Schnell springt sie auf, um das Sofa nicht zu ruinieren, und da läuft auch schon ein großer Bach unter ihrem Rock hervor.

„Aloys, komm schnell!“, ruft sie ohne sich weiter zu bewegen, aber er ist in die Werkstatt gegangen und kann sie nicht hören. Die einzige, die in der Küche noch die Spüle wienert, ist Mariechen, und die kommt jetzt zu ihr geeilt und schaut ihre Mutter mit Entsetzen an.

„Lauf, hol Papa!“, weist Josefine ihre Tochter an. Die rennt wie ein geölter Blitz aus dem Zimmer.

Kurze Zeit später kommt Aloys mit dem verängstigten Mariechen hereingeeilt.

„Das heißt jetzt wohl, dass es losgeht, nehme ich an. Kannst du mit mir nach oben gehen? Mariechen, hol den Wischlappen und mach den Boden wieder trocken. Das Kleine kommt.“

Aloys stützt seine Frau, die langsam mit ihm die Treppe hinaufgeht zur Upkamer, wo sie sich die nächste Woche fast ausschließlich aufhalten wird.

Dann geht alles ganz schnell. Aloys nimmt das Fahrrad und fährt zu Frau Niebuhr, die Hebamme am Ort, die Gott sei Dank zuhause ist und gleich mit ihm mitkommt. Sie übernimmt das Regiment in der Upkamer, aus der in regelmäßigen Abständen Josefines angestrengtes Stöhnen zu hören ist. Die jüngsten drei Kinder werden zur Nachbarin Teriete gebracht, die sich ihrer für die nächsten Tage annehmen wird, während die Schulkinder überwiegend von Aloys versorgt werden. Momentan sind aber glücklicherweise alle in der Nachbarschaft unterwegs beim Spielen und bekommen von den Geschehnissen zuhause erst einmal nichts mit.


Die Geburt ist keine leichte, verläuft aber ohne Komplikationen. Josefine ist jedes Mal ein wenig mehr erschöpft, wenn es schließlich vollbracht ist.

Es ist nach zehn Uhr abends, als sie endlich ihre sechste Tochter in die Arme schließt. Sie ist, wie die meisten Geschwister vor ihr, ein hübsches Kind, voll ausgebildet und mit leichtem Flaum auf dem Kopf. Sie schreit aus voller Lunge, was von allen Beteiligten als gutes Zeichen gewertet wird.

Aloys kommentiert, „Der Herrgott hat gesehen, dass du zu viel arbeitest und dir ein weiteres Hausmädchen geschenkt, das dir helfen kann, wenn die Älteren aus dem Haus sind. Die kriegen wir auch noch groß. Und noch ist ja nicht aller Tage Abend.“

Aber davon will Josefine in diesem Moment wirklich nichts hören und dreht sich um, um endlich ihren wohl verdienten Schlaf zu finden.

„Wie soll denn die Kleine heißen?“, fragt Aloys am nächsten Morgen, als er seiner Frau einen Milchkaffee und ein Butterbrot ans Bett bringt.

„Ich dachte, wir hätten beschlossen, dass dein Bruder Franz der Patenonkel wird. Und dein zweiter Name ist ja auch Franz. Also muss es eine Franziska sein. Und in Gedenken an meinen Onkel Ferdinand, der ja in meinem zweiten Namen auch schon verewigt ist, hängen wir eine Ferdinande an“, meint Josefine.

„Einverstanden“, sagt Aloys, „und wegen unserer örtlichen Schutzheiligen sollten wir auch noch eine Gudula anhängen. Also taufen wir sie auf den Namen: Franziska Ferdinande Gudula, geboren am 13. Januar 1926. Sternzeichen Steinbock, na wenn das mal nicht ein gutes Omen ist. Die stehen doch angeblich mit beiden Beinen fest auf der Erde und haben immer alles im Griff.“

Franziska

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