Читать книгу Bildung und Glück - Micha Brumlik - Страница 14

II.Skizze einer Theorie des Lasters

Оглавление

In systematischer Hinsicht bedarf eine Theorie der Tugenden, soll sie denn vollständig sein und auch in moraltheoretischer Hinsicht mit Kantianismus und Utilitarismus konkurrieren können, einer Begrifflichkeit, die eine wertende Auseinandersetzung mit unerwünschten Verhaltensweisen bzw. Charakterzügen ermöglicht.1 Dafür gibt die Tradition zwei Begriffe vor, nämlich den Begriff der „Sünde“ und den Begriff des „Lasters“. Der Begriff der Sünde ist in der jüdisch-christlichen Tradition wesentlich auf den moralischen Willen Gottes bzw. die Differenz zwischen dem allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gott hier und dem sich entweder de facto oder notwendigerweise in seinen Handlungen, seinem Menschen- und Gottesbezug verfehlenden Menschen dort bezogen. Im mittelalterlichen Kanon der „Sieben Todsünden“2, des Stolzes (superbia), der Trägheit (acedia), der Begehrlichkeit (luxuria), des Zorns (ira), der Genußsucht (gula), des Neides (invidia) und des Geizes (avaritia), haben die Neigungen, gegen Gottes Willen zu verstoßen, konkrete Gestalt angenommen und stellen das direkte Negativ der Tugenden dar. Die zwischen Judentum, Katholizismus und Protestantismus wesentlichen Differenzen im Verständnis der „Sünde“, die auch dort, wo sie – etwa im Begriff der „Todsünde“ – an Konkretion gewinnen, ohne theologischen Bezug leer bleiben, spielen in einem anderen, einer Theorie der Tugenden angemesseneren Begriff keine Rolle mehr. Die auch noch in der christlichen Philosophie des Mittelalters weiterwirkende Tradition der klassischen Philosophie Platons und Aristoteles’ kennt allerdings noch keinen Begriff der Sünde, sondern „nur“ einen Begriff der kontingenten Verfehlung und menschlicher Mangelhaftigkeit. In dem Ausmaß, in dem das Gegenüber eines transzendenten Gottes nicht mehr als Kriterium für das Gelingen oder Verfehlen menschlichen Handelns fungierte, gewann ein Begriff an neuer Bedeutung, der bereits in den antiken Ethiken eine wesentliche Rolle spielte, der Begriff des „Lasters“.3

Die formale Deontologie Immanuel Kants, der zwischen ethischen und rechtlichen Pflichten ebenso unterscheidet wie zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, versteht unter „Lastern“ grundsätzliche, zum Vorsatz gewordene Übertretungen von ethischen, unvollkommenen Pflichten. Als Beispiele für derartige Laster dienen ihm Lüge, Geiz und falsche Demut. Die Lüge gilt ihm als „Wegwerfung und gleichzeitig Vernichtung eigener Menschenwürde“.4 Im Lügen, so Kant, instrumentalisiert der Mensch sich selbst zu einer „Sprechmaschine“.5 Der Geiz als Laster wiederum besteht nicht nur im Entzug von Mitteln, die anderen zugute kommen könnten – sei es als Verletzung der Wohltätigkeit oder als Lieblosigkeit –, sondern vor allem darin, Pflichten gegen sich selbst zu verletzen. Die Eigentümlichkeit des Geizes liegt im Sammeln und Besitzen von Mitteln mit dem Vorbehalt, „keines derselben für sich brauchen zu wollen und sich so des angenehmen Lebensgenusses zu berauben: welches der Pflicht gegen sich selbst in Ansehung des Zwecks gerade entgegengesetzt ist.“6

Die „Kriecherei“ schließlich erscheint ihm als Steigerung der ohnehin überflüssigen, weil keiner Pflicht gemäßen Demut, die insgeheim von einem Impuls des Hochmuts getragen ist. Diese Haltung gezielt einzusetzen, anderer Gunst zu erringen, erweist sich zugleich als Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst, nämlich der Selbstachtung als eines moralischen Wesens: „Aus unsrer aufrichtigen und genauen Vergleichung mit dem moralischen Gesetz […] muß unvermeidlich wahre Demut folgen: aber daraus, daß wir einer solchen inneren Gesetzgebung fähig sind, daß der (physische) Mensch den (moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu verehren sich gedrungen fühlt, zugleich Erhebung und die höchste Selbstschätzung, als Gefühl seines inneren Werts, nach welchem er für keinen Preis feil ist, und eine unverlierbare Würde besitzt, die ihm Achtung gegen sich selbst einflößt.“7

Kants Konzept des Lasters teilt mit den religiösen Begriffen der Sünde noch die Intuition eines Vergehens gegen ein absolutes Gesetz, wenngleich dieses selbst in seiner Vorstellung zwar noch transzendent, aber nicht mehr theistisch gefaßt ist. Die Verankerung des „Lasters“ in verletzter Selbstachtung läßt sich womöglich von der Absolutheit des Sittengesetzes ablösen, wenn man feststellt, daß die Prinzipien der Moral und die ihnen entsprechenden Konzepte der Selbstachtung historisch und kulturell variieren, so daß von Laster immer dann zu sprechen wäre, wenn Menschen Charaktereigenschaften entwickeln, die systematisch und auf Dauer gegen die in ihren Gesellschaften geltenden Regeln der Selbstachtung verstoßen.

Die klassischen Tugendlehren stellten einen internen Zusammenhang zwischen Tugenden und Glück her – läßt sich eine entsprechende Symmetrie auch negativ bestätigen, so daß Laster und Unglück intern aufeinander bezogen sind? Wer tugendhaft lebt, kann ein mindestens gelungenes, wenn nicht gutes Leben führen, nicht aber führt jemand, der aufgrund unverschuldeter Umstände seinen Lebenszielen nicht nachkommen kann und daher Unglück erfährt, damit schon ein schlechtes, ein falsches Leben. Personen jedoch, die, ohne dies stets zu wollen, Maximen nachgehen, die ihnen immer wieder die Verletzung ihrer Selbstachtung auferlegen, verfehlen ihr Leben in zweierlei Hinsicht: Weder haben sie achtenswerte Ziele ausgebildet, noch setzen sie diese schon ohnehin wenig achtenswerten Ziele mit achtbaren Mitteln um. An dieser Stelle kann keine Phänomenologie des Lasters entworfen werden, das in einer sozialwissenschaftlich reflektierten Semantik eventuell mit Begriffen wie „Sucht“8 oder „Neurose“9 als Erfahrungen der Unfreiheit zu erläutern wäre. Mit dem Begriff „verächtlicher Lebensziele“ und „-strategien“ ist jedoch eine Semantik gewonnen, die einerseits am Minimum einer normativen Theorie des richtigen Lebens festhält und gleichwohl flexibel genug ist, der Unterschiedlichkeit von Gesellschaften gerecht zu werden. Denn „Achtung“ ist allemal – ganz unabhängig von ihren einzelnen Kriterien – stets an die Anerkennungsbereitschaft einer intersubjektiven Gemeinschaft gebunden. Das beinhaltet weniger als alles, was mit dem Begriff der „Sünde“ verbunden ist, und doch mehr als eine nur relativistische, skeptische Position auf akzeptierte Werthaltungen bezüglich der Lebensführung.

Ein auf den ersten Blick schwächerer Begriff von „Laster“ würde nicht einen Verstoß gegen die Selbstachtung, sondern gegen die „Selbstsorge“ hervorheben. Eine an letzterer orientierte Tugendethik hebt die „Wichtigkeit hervor, alle Praktiken und alle Übungen zu entwickeln, durch die man Kontrolle über sich bewahren und am Ende zu einem reinen Genuß seiner selbst gelangen kann“.10 Die damit angestrebte Kunst der Existenz, die im Erringen einer „Souveränität über sich selbst“ gipfelt, kann im Laster nur noch Souveränitätsverlust erkennen, ganz gleichgültig, ob Ziele und Mittel einem Konzept der Achtung entsprechen. In grundsätzlich denkbaren Gesellschaften, die derartige Prinzipien nicht kennen, scheint es auch keine Laster zu geben. Allerdings kennen alle Gesellschaften das Gefühl der Scham.11 Sich auf Dauer Neigungen zu überlassen, die von Dritten miß- oder verachtet werden, scheint der Erklärung dessen, was als „lasterhaft“ gilt, näher zu kommen. Autonome Persönlichkeiten mögen gleichwohl Neigungen anhängen, die von anderen verachtet werden, ohne sich selbst zu verachten. Von anderen als „lasterhaft“ bezeichnet zu werden, ist jedoch nicht das gleiche wie einzusehen, daß man einer selbst nicht akzeptierten Neigung anhängt, die die Grenzen des für akzeptabel gehaltenen Verhaltens verletzt und deshalb mit spontanen, immer wieder auftretenden Schamgefühlen verbunden ist. Ein Laster ist also jene charakterlich verankerte Neigung, der Personen regelmäßig aus mindestens ihrer Meinung nach freien Stücken anhängen, für die sie von Dritten verachtet werden und derentwegen sie sich selbst schämen. Anders als im Fall der Sünde entfällt jedoch das Element der Schuld, da das lasterhafte Verhalten oder Fühlen bei aller Freiheit als unausweichlich, notwendig und gleichwohl beschämend erfahren wird. Einem Laster anzuhängen wird daher als ebenso paradox wie beschämend erfahren. An diesem Element der nicht verfügbaren, spontanen Scham brechen sich übrigens auch Versuche, eine Theorie des gelungenen Lebens nicht auf dem Begriff der Autonomie, sondern auf dem Begriff der „Souveränität“ zu konstruieren. Dabei geht es nicht nur um Terminologie.

Daß eine Theorie des gelungenen Lebens, die ihr Kriterium nicht in der Achtung, sondern in der Souveränität findet, letzten Endes scheitern muß, davon zeugt das ebenso faszinierende wie phänomenologisch präzise moralphilosophische Werk des Marquis de Sade, der in immer neuen Versuchsanordnungen die faktische und auch theoretische Belastbarkeit aller Tugendbegriffe getestet hat. Es ist nicht erst den Autoren der Dialektik der Aufklärung aufgefallen, daß zwischen dem Werk Kants und dem de Sades eine interne sachliche Beziehung herrscht.12 Kants Versuch – so Adorno und Horkheimer –, wechselseitige Achtung vernünftig zu begründen, müsse scheitern, und auch eine Überlegung, von vernünftigen Einsichten auf moralische Gefühle umzustellen, müsse bei einem normativ unterbestimmten Naturalismus enden. Allerdings scheint de Sade selbst, der die Unzulänglichkeit einer naturalistischen Begründung der Moral nachweisen wollte,13 seiner eigenen Idee des souveränen, über alle moralischen Konventionen hinweggehenden Selbstgenusses nicht zu trauen. Denn auch die „Verdorbenheit“ will geübt sein, und so erweisen sich letztlich de Sades Szenarien als unendliche pädagogische Exerzitien, in denen es um wenig anderes geht als um das Verlernen konventioneller Moralvorstellungen: „Lassen wir uns nicht gar zu sehr von diesen unseren Herzensregungen für das Wohltun oder die Nächstenliebe, die uns mehr oder weniger von der Natur in unseren Herzen eingepflanzt, hinreißen. Habe ich nicht genug mit meinen eigenen zu tun, daß ich mich noch über diejenigen fremder Leute bekümmern oder betrüben sollte? Folgen wir lieber unseren Sinnesregungen, die ausschließlich auf unsere Vergnügungen und Genüsse hinzielen, gehorchen allein dieser Stimme unseres Herzens und lassen wir alle übrigen edlen Regungen aus dem Spiel. Freilich resultiert hieraus, ich meine … eine gewisse Grausamkeit, oder von Schlechtigkeit, die jedoch auch nicht immer ohne Süßigkeit und Wonne ist.“14

De Sades 1795 erschienene Philosophie im Boudoir kann als Versuch der Inversion von Rousseaus 1762 erschienenem Emile sowie den 1770 erschienenen Bekenntnissen gelten. Ebenso wie der Emile ist auch die Philosophie im Boudoir, formal gesehen, ein Erziehungsroman. Wo jedoch Rousseau auf die Beziehung eines Pädagogen und eines Zöglings setzt und diese pädagogische Beziehung als eine enterotisierte Beziehung zwischen zwei Personen männlichen Geschlechts faßt, läßt de Sade, dessen Roman vollständig Die Philosophie im Boudoir oder die lasterhaften Lehrmeister heißt, die pädagogische Beziehung zwischen einem jungen Mädchen und einer Reihe Erwachsener unterschiedlichen Geschlechts spielen. Rousseau war die Erfahrung des Lasters alles andere als fremd, in seinen Bekenntnissen berichtet er sowohl von masochistischen Neigungen15 als auch von exhibitionistischen Aktivitäten16. Die von ihm als hinderlich erlebten Neigungen führen ihn jedoch – anders als de Sade, der aus ihnen eine Pflicht machte – zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für sein Seelenleben, dessen Widersprüchlichkeit und Kontingenz er mit einer geradezu die Psychoanalyse vorwegnehmenden Genauigkeit registriert: „Wer würde zum Beispiel glauben, daß einer der kräftigsten Antriebe meiner Seele auf die gleiche Quelle zurückgeht, aus der Wollust und Sinnlichkeit in mein Blut geflossen sind.“17

Während Rousseau auf Selbst- und Fremdbeobachtung sowie ein Programm negativer Erziehung setzt, das dem Zögling zunehmende Autonomie ermöglichen soll, baut de Sade ganz und gar auf die Kraft der Verführung, auf eine ansprechbare Sinnlichkeit, die jede Tugend auslöschen würde: „Eines ist sicher“, so erklärt die Madame de Saint-Ange zu Beginn des Verführungs- und Initiationsdramas, „daß ich es an nichts fehlen lassen werde, sie zu verführen, moralisch und geistig zu verderben und in ihrem Herzen alle einfältigen und falschen Sittengrundsätze, mit denen man sie bisher verwirrt und dumm gemacht hat, zu töten. Ich will sie in zwei Tageslektionen ebenso geil und ausschweifend … ebenso gottlos … ebenso verbrecherisch machen, wie ich es selbst bin. – Benachrichtige Dolmance, setze ihn, sobald er hier ist, von allem genau in Kenntnis, damit das ganze Gift seiner perversen Anlagen und seiner Immoralität zugleich mit demjenigen, welches ich ihr einimpfen werde, in dieses junge Herz überströme und so in kurzer Zeit die gesamte Saat der Tugend, die sonst ohne uns in ihr keimen und gedeihen würde, mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde.“18

Es scheint, als ob de Sade davon ausgeht, daß die an und für sich beliebig bildbare menschliche Natur unter konventionellen Umständen ein Minimum an Tugenden ausbildet, die zu tilgen es erheblicher Anstrengungen bedarf. Während es Rousseau um eine Würde, gemeinsame Freiheiten und Tugenden ermöglichende Gefühlsbildung geht, um langwierige, die eigene Subjektivität und ihre affektive Basis reflektierende Lernprozesse, formuliert de Sade eine Pädagogik des Verlernens aller Vorurteile, die fälschlich als naturgegebene Affekte gelten. Das gilt vor allem für das Schamgefühl, das ein lächerliches, unnatürliches Vorurteil sei. Aus dem Umstand, daß Menschen, wenn sie allein sind, nicht erröten, folgert de Sade, daß der Mensch schamlos geboren werde und nur die Schamlosigkeit natürlich sei.19 Gegen Rousseau, der in der Philosophie im Boudoir eigens erwähnt wird,20 proklamiert de Sade in den „Vorschriften für die der Gesellschaft der Freunde des Verbrechens angehörenden Frauen“ eine feministisch begründete Zurückweisung der Empfindsamkeit, die lediglich zu Lasten der Frauen gehe: „Niemals soll ihr gepanzertes Herz irgendwelche Empfindsamkeit aufkommen lassen. Es wäre ihr Ruin. Eine gefühlvolle Frau muß sich jedes Unglücks vergegenwärtigen, denn da sie schwächer und empfindsamer ist als der Mann, wird alles, was diese Gefühle angreift, sie zerfleischen und dann adieu jegliche Lust.“21

De Sades Unterweisungen gleichen dem Versuch, eine einmal eingeübte und erworbene moralische Semantik abzuwerfen; indem er alle Mittel der Aufklärung und der Ideologiekritik aufbietet, um die Semantik der Moral ihrer Kontingenz zu überführen, setzt er auf eine Subjektivität, die der anderen nicht mehr bedarf, es sei denn zur Befriedigung ihrer Lust. Nichts anderes heißt „Souveränität“: „Die Ausdrücke Tugend und Laster geben uns ja doch nur“, so läßt de Sade seinen Helden Dolmance sagen, „ganz vage, abstrakte lokale Spezialbegriffe. Es gibt absolut keine Tat oder Handlung, sei sie noch so absonderlich, so schlecht, so verworfen, die wahrhaft verbrecherisch und lasterhaft wäre. […] Denn es gibt ja überhaupt kein Laster, kein Verbrechen, das sich nicht von irgendeinem Gesichtspunkte aus rechtfertigen ließe. […] Aus diesen rein geographisch unterschiedlichen Begriffen von Tugend und Laster ergibt sich, daß wir ebenso die Ehre und Achtung wie die Verachtung, die wir uns etwa bei unseren Mitmenschen zuziehen, nicht so sehr auf die Waagschale legen oder uns zu Herzen nehmen sollen.“22

De Sades Protagonisten huldigen einem hedonistischen Kalkül, wonach die Achtung anderer zu vernachlässigen sei, wenn aus verbrecherischen und lasterhaften Handlungen auch nur ein wenig Vergnügen oder Wonne resultiert. Daß diese Haltung allen Üblichkeiten widerspricht, weiß de Sade, sonst bedürfte es der pädagogischen Arrangements nicht. Tatsächlich bemüht er sich in seinen in der Philosophie im Boudoir enthaltenen politischen Utopien noch um den Nachweis, daß eine auf derartigen menschlichen Dispositionen aufbauende gesellschaftliche Ordnung sogar als demokratische Republik widerspruchsfrei lebbar sei. In de Sades Republik ist nicht nur der Mord straffrei gestellt, werden nicht nur alle Frauen auf Zeit in Bordellen kaserniert, gilt nicht nur das Gesetz der Natur, des Stärkeren, nein hier gilt, daß Macht allemal vor Recht geht.23 „Es handelt sich nicht darum, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, da dies allen Gesetzen der Natur zuwiderläuft und nur ihre Stimme alle Handlungen unseres Lebens leiten soll; es kann lediglich davon die Rede sein, unseresgleichen zu lieben wie Brüder oder Freunde.“24

Spätestens hier scheitert jedoch das Projekt einer partikularistischen Herrenmoral in der Theorie. Erstens muß de Sade seinen Gedanken der Souveränität aufgeben, wenn er doch eine vermeintliche Einsicht in die Notwendigkeit, eine Unterordnung des Handelns unter die Gesetze der Natur fordert. Zweitens kann er nicht mehr erklären, warum er dann dazu auffordert, ebenso natürlich entstehende altruistische Regungen auszumerzen und rein selbstbezogene Impulse zu kultivieren. Stichhaltige Gründe dafür, altruistischen Impulsen auf keinen Fall zu folgen, kann er nicht mehr aufbieten, außer jenem, daß damit sexueller Lustverzicht einhergeht und daß dieser Lustverzicht Ausdruck von Unfreiheit ist. De Sades Programm, vermeintlich Ausdruck ungezügelter Begierden, erweist sich schließlich als Philosophie der Freiheit als Willkür, der es vor allem darauf ankommt, sich von jedem natürlichen Altruismus zu lösen, der ihm letztlich als Ausdruck verhängter Unfreiheit gilt. Die Einleitung zum Roman Justine oder die Leiden der Tugend nennt das Programm der von ihm vertretenen Philosophie: „die Mittel und Wege zu erforschen, derer sich das Schicksal zur Erreichung seiner Ziele bedient. Daraus müßte sie dann Verhaltungsmaßregeln für den armseligen Zweifüßler, Mensch genannt, herleiten, daß er auf seinem dornenvollen Pfade nicht immer abhängig sei von den bizarren Launen jener dunklen Macht, die man nacheinander Bestimmung, Gott, Vorsehung, Zufall getauft hat.“25

Aufklärerisch ist diese Philosophie, weil sie sich nachzuweisen bemüht, daß beinahe alles, was als Natur bezeichnet wird, lediglich Konvention ist; als „natürlich“ im Sinne der ersten Natur gelten de Sade lediglich selbstsüchtige Bestrebungen: „Denn unmöglich kann eine von der Natur angeregte Tätigkeit unrecht sein.“26 Entweder Unterordnung des Willens unter eine noch wohlwollende Natur oder seine bewußte Kultivation zum Bösen als Ausdruck von Freiheit – das eine widerspricht dem anderen, beides zugleich ist nicht möglich. Am Ende erweist sich, daß de Sade, ohne es zu bemerken, zwei Anthropologien folgt, die er nicht mehr aufeinander abstimmen kann. Damit erweist sich seine Philosophie aber als mindestens so brüchig wie die von ihm – so die Autoren der Dialektik der Aufklärung – kritisierten Gedanken einer auf Vernunft oder „guter“ Natur basierenden Moral. So sehr eine Theorie des Lasters das Komplement einer umfassenden, auch moralisch anspruchsvollen Theorie der Tugend ist, so wenig läßt sich eine Theorie lasterhaften Lebens widerspruchsfrei konstruieren. Rousseau hingegen war – realistischer als de Sade – in der Lage, die Widersprüchlichkeit des Seelenlebens als Realität und nicht nur als aufzuhebenden Schein wahrzunehmen: „Indem ich so zu den ersten Eindrücken meines Gefühlslebens zurückgehe, finde ich Elemente, die manchmal dem Scheine nach unvereinbar, sich doch so verbunden haben, um gewaltsam eine einheitliche und einfache Wirkung hervorzubringen, und wieder andre finde ich, die, scheinbar die gleichen, durch das Zusammentreffen bestimmter Umstände so verschiedene Verbindungen herbeigeführt haben, daß man nie auf die Vermutung kommen könnte, unter ihnen bestehe ein Zusammenhang.“27

Daran gemessen erweist sich de Sades Kritik an Rousseau als eine theoretische Regression – sein dualistisches und reduktionistisches Weltbild konnte realen Bildungsprozessen ebensowenig gerecht werden wie den zwanghaften, Unfreiheit verlängernden Zügen des Lasters. Auf Rousseaus Basis einer komplexen und in sich widersprüchlichen seelischen Entwicklung hingegen ließ sich eine Selbst- und Nächstenliebe integrierende Gefühlsbildung anstreben, die in der Neubestimmung der Tugenden als zweiter Natur gipfeln sollte.

Wenn eine derartige Theorie ethischer Bildung in Form einer „éducation sentimentale“, wie sie Rousseau und Kant nahelegten, zeitgemäß reformuliert werden soll, kommt es zunächst darauf an, die moralische Bedeutung der Gefühle zu entfalten.

Bildung und Glück

Подняться наверх