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3.Hegelsche Allgemeinbildung

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Hegels politische Theorie mit ihrer Präferenz einer konstitutionellen Monarchie und einer beinahe ständisch aufgebauten Gesellschaft, entspricht den tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklungen in keiner Weise – in Frage steht, ob seine Grundintention, dass „allgemeine Bildung“ all das enthalten müsse, was erstens die Individuen zu Individuen bildet und sie damit zweitens dazu in die Lage versetzt, als Individuen an einer politischen Ordnung der Freiheit nicht nur zu partizipieren, sondern sie durch ihr Handeln gleichsam kontinuierlich aufrecht zu erhalten, rekonstruierbar ist. Das ist dann der Fall, wenn man einsieht, dass „Allgemeinbildung“ sich nicht an der Fülle dessen orientieren kann, was derzeit von den Natur- über die Bio- und Neurowissenschaften bis hin zu reflexiven Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, von den Künsten ganz zu schweigen, erforscht wurde und gewusst werden kann. „Allgemeinbildung“ erschöpft sich aber auch nicht in dem, was eine managerial orientierte Pädagogik, die sich gerne an der Erwachsenenbildung sowie an Programmen beruflicher Weiterbildung bzw. am Konzept des „lebenslangen Lernens“ orientiert, darunter verstanden wissen will: eher formale Kompetenzen, gelegentlich auch „Schlüsselqualifikationen“ genannt, wie „Lernen des Lernens“, „Teamfähigkeit“ oder „Kompetenzen digitaler Kommunikation“, „Rhetorik“ o.ä. Das heißt: Eine zeitgemäße Allgemeinbildung wird sich auf bestimmte thematische Felder beschränken und zwar auf genau jene, die die Bereiche von Gesellschaft, Geschichte und Politik ausmachen, die es den Individuen also ermöglichen, ein Leben in Freiheit zu führen: Dazu müssen sie

1.wissen, welcher Art die Gesellschaft ist, in der sie leben; welche Optionen und Restriktionen, welche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sie enthält, wie sie funktioniert, welchen Gefährdungen sie ausgesetzt ist – national und global. Soweit naturwissenschaftliche Erkenntnisse, etwa ökologischer, genetischer oder informationstechnischer Art für diese Fragen – aber auch nur für diese Fragen – relevant sind, gehören auch sie zur allgemeinen Bildung.

2.Als situierte Individuen in einer situierten Nation, Kultur oder auch konfessionellen Gemeinschaft können sie sich in ihrer Gewordenheit bzw. die Eigenart anderer jedoch auch nur verstehen, wenn sie die Geschichte nicht nur ihres eigenen Gemeinwesens, sondern auch der für ihre Gesellschaft bedeutsamen anderen Gemeinwesen wenigstens ansatzweise kennen und verstanden haben. Historische Kenntnisse vermitteln zudem eine gewisse Einsicht in die Geschichtlichkeit auch von für absolut gehaltenen Wertsetzungen, eine Einsicht, die keineswegs zum Relativismus führt, jedoch vor naivem, unreflektiertem Bejahen der je eigenen Lebensform schützen kann.

3.Wirkliche Freiheit, also individuelle Freiheit, die ihren Namen verdient, aber besteht – zumindest nach Hegel – in einer rechtlich institutionalisierten Demokratie, in der die Individuen ihren Interessen in möglichst moralisch aufgeklärter Weise nachgehen können. Daher gehört zu einer allgemeinen Bildung nicht nur die je altersgerecht präsentierte Kenntnis dessen, was Recht und was eine Demokratie ist, sondern auch das Einüben moralischer Sichtweisen durch moralische Argumentation, wie sie etwa Lawrence Kohlberg18 vorgeschlagen hat, ohne dabei zu verkennen, dass eine nur sprachlich geübte moralische Argumentation ohne die Möglichkeit, im Blick auf zu verantwortende Folgen zu urteilen, lediglich sophistische Wortverdreherei, nicht aber moralische Einsichten fördert. Am Ende eines solchen allgemein bildenden Prozesses sollten bei den Individuen Strukturen und Kompetenzen mindestens einer konventionellen Moral, die das in westlichen Demokratien bestehende Rechts- und Normensystem stützt, verankert sein, wenn nicht sogar Elemente einer postkonventionellen Moral, die jenseits von gesetztem und positiviertem Recht autonome Prinzipien der Moral wie etwa Kants kategorischen Imperativ einsichtig erworben hat.

Die empirische Jugendforschung belehrt uns seit Jahren darüber, dass derzeit nicht nur die Jugend der unteren Schichten, sondern zusehends mehr auch die Jugend der Mittelschichten westlicher Gesellschaften, bedrängt sowohl von sozialen Abstiegsängsten als auch des anfangs genannten, an den Universitäten durchgesetzten Leistungsdrucks, jene Kenntnisse und Kompetenzen, die es zu einem Leben in institutionalisierter Freiheit bedarf, preisgeben. Derzeit zeichnet sich eine neue Unmündigkeit, eine willenlose Bereitschaft, Systemanforderungen zu willfahren, ab; eine Unmündigkeit, die mit dem Begriff des „Autoritarismus“ und des „autoritären Charakters“ falsch charakterisiert wäre. Vielmehr passt auf diese, neuerdings zu beobachtenden Phänomene ein soziologisches Konstrukt, das erstmals in den 1950er Jahren zur Analyse der US-amerikanischen Gesellschaft entwickelt wurde. David Riesmans in seinem Buch „Die einsame Masse“19 entwickelte Begrifflichkeit von „außen“-bzw. „innengeleitetem“ Mensch trifft die Situation genauer und wird nicht zuletzt den Dispositionen im Zeitalter einer radikal veränderten, digitalisierten Öffentlichkeit20 thematisch.

Ein im hegelschen Sinn politisch verstandenes Konzept von Allgemeinbildung könnte dazu beitragen, Individuen dabei zu helfen, Systemimperativen angstfrei und im Wissen um eine vernünftig gestaltete gesellschaftliche Wirklichkeit zu widerstehen. Wo, so werden Sie sich nun fragen, bleibt aber bei alledem der Begriff der Anerkennung? Auf jeden Fall: Für Hegel galt unbedingt: „Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung.“ Im Paragraphen 387 der „Enzyklopädie“ hebt Hegel noch einmal hervor, dass jenes, das den Begriff „Geist“ zu Recht verdient, sich seinem Begriffe nach als „bildend und erziehend“ betrachtet.21

Bildung und Glück

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