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Die Tugendethik

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Genau an diesem Punkt knüpft die dritte oben erwähnte Konzeption des Ethischen an. Diese dritte Position, die so genannte eudaimonistische Ethik, oder Tugendethik, ist eigentlich erst in den letzten 30 bis 40 Jahren wirklich entwickelt worden. Sie knüpft an die große Diskussion zum Thema der eudaimonia in der Antike an. Eudaimonia ist der Zentralbegriff in der Ethik von Aristoteles und heißt dort so etwas wie geglücktes Leben, gelungenes Leben oder sinnvolle Existenz.

Im Jahre 2007 ist ein ganz ausgezeichnetes Buch von Richard Kraut erschienen mit dem Titel: ‚What Is Good and Why?’, also ‚Was ist gut und warum?’ Kraut ist der Ansicht, dass wir, wenn wir die Ethik verstehen wollen, zunächst den Menschen verstehen müssen. Er stellt also Kant auf den Kopf, denn Kant war ja der Auffassung, wir müssen die Ethik verstehen, das Unbedingte sollen, den Anspruch der Vernunft an den Menschen, wenn wir fragen, wie wir als Menschen leben sollen. Kraut fragt nicht, wie wir Menschen leben sollen, sondern er fragt, wie wir Menschen vernünftigerweise eigentlich Leben wollen, welche Vorstellungen des gelungenen, geglückten, sinnvollen Lebens wir als Menschen haben. Und alle Ethik, all das, was wir tun sollen, ergibt sich dann aus einer Antwort auf diese, für Kraut so zentrale, Frage. Wie wollen wir leben? Was für eine Art von Mensch wollen wir sein? Kraut leugnet nicht, dass wir weiterhin sagen können, bestimmte Handlungen seien moralisch, oder bestimmte Handlungen seien sittlich, aber er leugnet, dass es einen eigenen Bereich des Moralischen und Sittlichen gibt, mit eigenen Verpflichtungen, eigenen Regeln, die unabhängig von der Frage sind, was das gelungene Leben für uns Menschen ist. Lassen Sie mich an einigen Beispielen deutlich machen, worin die besondere Relevanz und Sprengkraft dieser Ethik von Kraut liegt.

Ein Beispiel ist das Folterverbot: Dass die Folter verboten sein soll, wird in der Ethik von Immanuel Kant und in der kantischen Tradition oft mit der unverfügbaren Würde des Menschen begründet. Es gibt etwas im Menschen, die Würde, was durch die Folter verletzt wird und deswegen gilt das Folterverbot absolut. Kraut, um nicht missverstanden zu werden, möchte nicht dafür argumentieren, dass wir Foltern erlauben sollten, aber er bringt folgenden Fall: Stellen sie sich vor, ein Terrorist hätte in einem Stadion eine Bombe versteckt. In einer Stunde wird sie explodieren, es bleibt zuwenig Zeit, die Bombe zu finden. Der Terrorist weiß, wo die Bombe liegt. Nun wird er von der Polizei gefangen genommen und es stellt sich die Frage: Darf die Polizei, um die Bombe zu entschärfen und das Leben der 60.000 Menschen zu retten, den Terroristen foltern oder nicht. Kraut wägt nun das Leben der 60.000 Menschen gegenüber dem Wert der Unverletzlichkeit der Person des Terroristen ab, denn natürlich verletzt man den Terroristen durch Folter und greift in seine Vorstellungen eines gelungenen, geglückten Lebens ein. Kraut kommt jedoch zu dem Schluss, dass wir, wenn wir diese beiden Dinge gegeneinander abwägen, es keinen vernünftigen Grund gibt, den Terroristen nicht zu foltern. Wichtig, um Kraut adäquat zu verstehen, ist allerdings, dass Kraut mit dieser Position nicht die Auffassung vertritt, man solle das Foltern allgemein staatlich erlauben. Folter muss weiter verboten bleiben und sie muss geächtet werden. Aber nicht, weil es unmoralisch ist, einen Menschen zu foltern um dadurch 60.000 Menschen zu retten, sondern weil es solche Fälle faktisch in unserer Realität gar nicht gibt. Empirische Studien von Gegnern der Folter haben hinlänglich gezeigt, dass durch Folter nicht das erreicht wird, was man durch Folter erreichen will. Und deswegen ist es eine unerlaubte Abstraktion von der Vielfalt des Lebens, einen Fall so darzustellen, dass man das Leben von 60.000 Menschen gegen das Folterverbot gegenüber dieser einen Person des Terroristen durchsetzen möchte. Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Lassen Sie mich noch ein zweites Beispiel geben, ein Beispiel, das mit der Forschung in den Naturwissenschaften zu tun hat. Immer dann, wenn neue Erfindungen gemacht werden, hört man vor allen Dingen im deutschsprachigen Raum die Frage, ob wir denn tun dürfen, was wir tun können. Eine schwierige Frage, die, ich gestehe, ich kaum richtig verständlich finde. Wer soll uns denn was verbieten? Wir müssen andere Arten von Fragen stellen, wir müssen uns fragen, wollen wir das, was wir können? Ist es sinnvoll in diese Richtung weiterzuforschen und hilft es uns bei dem, was wir das gelungene, sinnvolle Leben nennen können; sinnvoll und gelungen für uns und für die Gesellschaft.

Lassen sie mich ein weiteres Beispiel geben, die Präimplantationsdiagnostik. In der aktuellen Debatte über die Frage nach der Präimplantationsdiagnostik, durch die Krankheiten und Behinderungen von Kindern schon vor der Schwangerschaft erkannt werden können, sagen die Gegner häufig, die Eltern dürften nicht durch vorhergehende Analyse bestimmen, wie das Erbgut ihrer Kinder aussehen soll. Nun kann es ja sein, dass das stimmt, nur, wie begründet man diese Auffassung? Was heißt hier, dass die Eltern das nicht dürfen? Ich glaube tatsächlich, dass der einzig fruchtbare Weg in dieser Diskussion derjenige ist, uns zu fragen: Ist es wünschenswert, dass Eltern das Erbgut ihrer Kinder bestimmen können? Falls Sie selber Eltern sind, ist diese Frage vielleicht schwieriger zu beantworten, als wenn Sie sich vorstellen, ihre eigenen Eltern hätten bestimmt, was Sie an Krankheit, Gesundheit und an Talenten mitbringen. Stellen Sie sich vor, Ihre Eltern hätten sich gewünscht, dass Sie ein musikalischer Mensch sind und hätten Ihr Genmaterial ein wenig so verändert, dass Sie am Heiligen Abend schöne Lieder vor dem Tannenbaum singen können. Oder stellen sie sich vor, Sie lebten in einer Welt, in der es Sie nur gibt, weil Ihre Eltern entschieden haben, dass die befruchtete Eizelle vor Ihnen, die zu einem Kind mit Down-Syndrom geworden wäre und sie kein Kind mit Down-Syndrom, sondern lieber ein gesundes Kind, Sie, die Welt bringen wollten. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern sähe ganz anders aus, als wir es heute kennen und die Frage ist, ob das von Vorteil ist, ob es uns erleichtert, ein gelungenes Leben zu führen und mit unserer eigenen Existenz zufrieden zu sein oder ob uns dieser naturwissenschaftliche Fortschritt das Finden der eigenen Zufriedenheit des Lebensglücks erschwert.

Ich glaube, dass es diese Debatte ist, die geführt werden muss. Und obwohl sie alles andere als einfach zu führen ist, müssen wir uns Gedanken darüber machen, was das gelungene, glückliche, zufriedene Leben des Menschen tatsächlich ausmacht. Wenn wir eine Vorstellung von einer gelungenen Existenz haben, dann ergibt sich daraus auch die Ethik, dann ergibt sich daraus die Antwort auf die Frage, was wir zu tun haben und was wir lassen sollten, was wir dürfen und was uns verboten ist. Aber nicht, weil diese Regeln in einem spezifischen ethischen Raum des Moralischen und Sittlichen liegen in dessen Anspruch wir stehen, sondern weil diese Regeln deswegen aufgestellt und begründet sind, weil sie das gelungene Leben des Menschen betreffen.

Mein Eindruck ist, dass manche Verkrampfung in der deutschen ethischen Debatte, insbesondere der Öffentlichkeit, sich lockern würde, dass manche Sackgassen sich öffnen könnten, wenn wir uns mehr an dieser Art der Ethik orientieren würden. Was wollen wir sinnvollerweise für ein Leben leben? Was für eine Art von Mensch wollen wir sein? Das sind die zentralen Fragen, denen auch ich in dieser Vorlesungsreihe nachgehen möchte, und alle Ethik ergibt sich daraus.

Wir sind jetzt schon einen weiten Weg gegangen. Ich hatte begonnen, mit der Anthropologie des 16. Jahrhunderts und hatte versucht zu zeigen, dass sich die Anthropologen einerseits gegenüber der Naturwissenschaft andererseits gegenüber der Metaphysik und der Theologie abgegrenzt haben, um den Menschen als Menschen zu verstehen. Ich habe ihnen dann deutlich gemacht, dass es dennoch auch in der heutigen philosophischen Diskussion Versuche gibt, den Menschen von einer anderen Wissenschaft her zu verstehen. Zum einen von der Naturwissenschaft, das war die Leib-Seele-Diskussion, zum anderen, innerhalb der Philosophie, von der Ethik her. Und ich habe versucht, Ihnen zu darzulegen, warum ich es nicht für fruchtbar halte, die Leib-Seele-Diskussion weiter zu führen und warum meine Gesprächspartner nicht die Biochemie, die Physik oder die Leib-Seele-Diskussion sein wird, aber auch warum ich der Meinung bin, dass die Frage danach, was das gelungene Leben des Menschen ausmacht, die zentrale Frage ist, wenn wir verstehen wollen, wie wir gut, richtig, sittlich oder moralisch handeln können.

Ich möchte nun dieser spezifisch anthropologischen Fragestellung noch ein bisschen weiter Nachgehen. Sie führt uns wieder zu Immanuel Kant. Immanuel Kant war der Ansicht, dass die Philosophie eigentlich vier Fragen beantworten soll: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Und 4. Was ist der Mensch? Kant sagte dabei, dass die drei ersten Fragen auf die vierte Frage zulaufen.

Umso überraschender ist es, dass Immanuel Kant eigentlich kein eigenes Buch zur Anthropologie geschrieben hat. Er hat aber außerordentlich populäre Vorlesungen zur Anthropologie gehalten und diese Vorlesungen, die er über 24 Jahre hinweg ausgearbeitet hat, erschienen schließlich im Jahre 1798 unter dem Titel ‚Anthropologie in pragmatischer Hinsicht’. Es handelt sich dabei um ein Spätwerk. Kant war damals 74 Jahre alt, sechs Jahre später sollte er sterben. Kant diskutiert in dieser Schrift Fragen, die mit uns als Menschen zusammenhängen, wie zum Beispiel Fragen zum Charakter einer Person. Er diskutiert aber auch, wie z. B. das Geschlecht den Menschen bestimmt, Untersuchungen also, die wir heute vielleicht gender studies nennen würden. Außerdem spricht er über verschiedene menschlichen Rassen, sicher etwas, was heute in einer philosophischen Anthropologie fremd wäre. Interessant aber ist, – und deswegen heißt Kants Schrift auch ‚Anthropologie in pragmatischer Hinsicht’ – dass er sich ebenfalls von Versuchen abgrenzt, den Menschen naturwissenschaftlich zu verstehen, nämlich von einem Zeitgenossen Kants, Ernst Platner. Wir finden hier also dieselbe Stoßrichtung, die wir schon bei den Anthropologen im 16. Jahrhundert kennen gelernt haben.

Ernst Platner hat eine physiologische Anthropologie entworfen und damit genau den Versuch gemacht, das, was der Mensch ist, von der Naturwissenschaft her zu verstehen. Das Wort pragmatisch im Titel von Kants Schrift bedeutet nun, dass seine Anthropologie gerade keine physiologische ist. Pragmatisch hat aber auch noch eine andere Bedeutung: Kant fragt nämlich, wie der Mensch, dessen Freiheit in der Ethik und der Metaphysik nachgewiesen worden ist, nun in das konkrete Handeln im Alltag umsetzen soll, wie sich diese Freiheit in seinen Handlungen zeig. Kant geht es dabei um Welterkenntnis; das ist das entscheidende Stichwort. Welterkenntnis bedeutet, auf eine bestimmte Art und Weise Reflexionen anzustellen, die zeigen, wie der Mensch in den konkreten Gegebenheiten der Welt richtig handeln und sich Bewegen soll. Dies sind Erkenntnisse, die viel mit Erfahrung zu tun haben, die nicht so klar sind, sondern etwas vager, als das, was in der Philosophie in einer harten Logik oder einer harten Deduktion gezeigt werden kann. Reflektiertes Erfahrungswissen ist das, was für Kant entscheidend ist. Kants ‚Anthropologie in pragmatischer Hinsicht’ ist gleichsam der erste große Gipfel der philosophischen Anthropologie. Hundt und Casmann waren eher Vorgänger, die zu Kant hingeführt haben.

Nun gibt es noch einen zweiten Gipfel der philosophischen Anthropologie, der genau 30 Jahre gedauert hat, nämlich von den Jahren 1928 bis 1958 und dieser zweite Gipfel war ebenfalls deutschsprachig. Insofern ist es auch kein Wunder, dass Sie das Fach philosophische Anthropologie als eigene Disziplin eigentlich ausschließlich im deutschsprachigen Raum oder in den Sprachräumen finden, die stark durch die deutschsprachige Philosophie geprägt worden sind. Wenn sie beispielsweise im Englischen von anthropology, also von Anthropologie sprechen hören, ist damit nie philosophische Anthropologie, sondern so etwas wie Ethnologie oder Kultursoziologie gemeint.

Aber zurück zu dem zweiten deutschen Gipfel der philosophischen Anthropologie. Drei Namen sind damit verbunden: Zum einen Max Scheler, zum zweiten Arnold Gehlen und zum dritten Helmuth Plessner. Im Jahr 1928 erschien Schelers philosophisches Hauptwerk, ‚Die Stellung des Menschen im Kosmos’, und Helmuth Plessners Hauptwerk ‚Die Stufen des Organischen und der Mensch’. Damit beginnt der zweite Gipfel der Anthropologie. Er endet 30 Jahre später mit einem berühmten Artikel von Jürgen Habermas. Dieser schreibt dort, dass das eigentliche philosophische Thema nicht der Mensch, sondern die Gesellschaft sei; und weil Habermas schon damals ein außerordentlich einflussreicher Philosoph war, hat sich diese Debatte tatsächlich sehr schnell gewendet. Wenn Sie sich anschauen würden, welche Bücher in der philosophischen Anthropologie in den letzten Jahrzehnten erschienen sind, würden Sie feststellen, dass zwischen 1958 und dem Beginn des dritten Jahrtausends nur sehr wenig in der philosophischen Anthropologie veröffentlicht wurde. Erst langsam, mit etwas Mühe und oft unter Rückgriff auf Aristoteles etabliert sich das Fach philosophische Anthropologie heute wieder im Wissenschaftsspektrum.

Philosophische Anthropologie

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