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Das Spannende am Ende ist sein Anfang


Das Spannende am Ende ist sein Anfang

So saß auch Peter da, zu Hause, an seinem Schreibtisch. An diesem Sonntag, dem 20. Dezember, kurz vor einem denkwürdigen Weihnachten 2020. Welches wahrscheinlich nicht nur er für lange Zeit nicht mehr vergessen würde. Um eben zu ergründen, warum und wie es zu all dem gekommen war, was diese Weihnacht jetzt zu einer derart außergewöhnlichen Zeit gemacht hatte; im Vergleich zu allen anderen, die er bis jetzt erlebt hatte. Peter versuchte, wie wahrscheinlich viele andere, sich daran zu erinnern, wann und wie das alles angefangen hatte – ja richtig, damals fast auf den Tag genau vor einem Jahr …

Er füllte sein Glas mit dem Champagner der halbvollen Flasche aus dem Sektkühler auf und ließ sich, schwer und ermattet von den Erinnerungen, in seinen Stuhl fallen, um sich zum Anfang zurück zu versetzen, zu den Ereignissen, die passiert waren, als alles so harmlos begonnen hatte …


Eigentlich waren sie ja schon so gut wie weg vom Fenster gewesen – also von der ersten Reihe zumindest. Ihre Bedeutung hatte in den letzten dreißig bis fünfzig Jahren Schritt für Schritt immer weiter abgenommen, genauso wie ihr Image. Natürlich waren sie noch immer permanent im Fernsehen und in den Nachrichten zu sehen und zu hören, und es wurde auch sicherlich noch vielerorts, so wie immer, von vielen Menschen über sie gesprochen. Aber es war nicht mehr so wie bis noch zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, wo alles eng verbunden war mit der existenziellen Lage des Einzelnen. Früher war es bedeutsam, ob man in Deutschland, Ungarn, Schweden oder Griechenland lebte, in welchem Nationalstaat und unter welchen politischen Führern. Heute beeinflusste das nicht einmal mehr die Entwicklung der Welt im Allgemeinen.

Es waren ja hauptsächlich die Älteren, die sich noch intensiv über sie unterhielten und ihre Veranstaltungen besuchten, sowie ein Teil der Beamten, einige Aktivisten und Arbeitslose. Oder auch Randgruppen und Minderheiten, die sich noch Hilfe von ihnen erhofften, einem letzten Strohhalm gleich. Den Berufstätigen, egal in welchem Land, fehlte dazu meist die Zeit, weil sie entweder zwei bis drei Jobs brauchten, wenn sie – warum auch immer – einfacher bewertete Tätigkeiten verrichteten. Andererseits, wenn sie das Glück hatten, zur Creme der weitaus Überbezahlten zu gehören, jetteten sie um die Welt, hetzten von Termin zu Termin. Völlig unerheblich, ob beruflich oder privat. So viel Geld wollte verwaltet, abgesichert, international zu niedrigsten Zinsen, bei höchster Wertsteigerung angelegt sein, um so luxuriös wie möglich zwischen Zermatt und den Seychellen verbraucht zu werden. Was nicht immer einfach war, denn die Politiker konnten ihnen, auch wenn sie sie noch so sehr an diesem Schauspiel beteiligten, meist nicht wirklich dabei helfen – zumindest nicht offiziell.

Und die Jungen? Na gut, die ganz Jungen, also so bis zum Ende ihrer Schulzeit, waren zum Großteil noch nie wirklich an Politik interessiert gewesen. Sie mussten sich um die Feierlichkeiten zu ihrem sechzehnten Geburtstag kümmern. Sie hatten genug Probleme mit ihrer sexuellen Entwicklung und den sich daraus ergebenden Verstrickungen. Außerdem mussten sie sich über alles für ihre Altersgruppe Wichtige permanent am Laufenden halten, um ja überall ganz vorne dabei sein zu können. Genauso wie das für alle jungen Menschen nach der Schule oberste Priorität hatte. Denn sie galten immerhin als die Gestalter ihrer Zukunft. Dabei konnten ihnen die politischen Parteien und deren Politiker schon seit Langem weder helfen noch als Vorbilder irgendwelche Führungsfunktionen erfüllen. Nicht einmal in der opportunistischen Art und Weise, die seit Jahrtausenden in allen Kulturen gang und gäbe war. Junge Menschen im Erwachsenwerden hatten sich gerade gegen ihre politischen Führer aufgelehnt, um sich im Kampf mit ihnen und ihren Ansichten zu messen. Je nachdem, in welcher Welle sie sich gerade befanden. Also: Wenn die Politik, das Establishment, die Alten zur Zurückhaltung, zum Rückzug in die biedere Häuslichkeit riefen, dann wollten die Jungen den offenen Kampf, um die Welt zu erobern. Wie auch umgekehrt, wenn die Politiker zu Aufbruch und Aktion mahnten. Denn dann forderten die Jungen erst mal detaillierte, intellektuelle Aufklärung und Besinnlichkeit beziehungsweise flüchteten sie sich verträumt in romantische Welten.

Oder aber, wie seit der Erfindung mobiler Telefone und der massenhaften Darstellung jeglicher Geschehnisse auf allen Arten von Bildschirmen, lebten und agierten sie seither hauptsächlich in all ihren Bildern und Stories. Auf ihren Displays, die sie mittlerweile überallhin, von morgens aufstehen, zum Pinkeln in die Toilette, den ganzen Tag über auch beim Essen, beim Geschlechtsverkehr und beim Arbeiten, bis mit zum Einschlafen – begleiteten. Ohne Pause, außer vielleicht während des Duschens oder zum täglichen kurzen Aufladen. Sie wurden wie Zombies magisch von ihnen geführt, und von den „Messages“, die diese elektronischen Wundergeräte ihnen pausenlos sandten. Sie glaubten immer stärker an diese neuen Führer, die ihnen ja zweifelsohne durch die millionenhafte Bestätigung von „Likes“ ganz klare Botschaften in einfacher, einprägsamer Form von maximal zweihundert Zeichen schickten. Für die ganze Wahrheit gabs ja dann die uneingeschränkte Möglichkeit, den auch noch so größten Schwachsinn, je nach Intellekt, selbst für den größten Vollidioten aufzubereiten. Um das in abenteuerlichsten Videobotschaften aller Art auf YouTube ungehindert in die immer „aufgeweichteren“ Gehirne, der immer größeren Schar der „Displaygeschädigten“ einzutrichtern.

Und die Politiker? Ja, die spielten schon mit in diesem Theater, aber eben mehr so auf der Stufe von Promis aller Art und Couleur. Genauso wurden sie auch in den Medien dargestellt. OK, vielleicht nicht so sehr in den Nachrichtensendungen der gesetzlichen Sender, doch wer guckte die in normalen Zeiten schon, außer den braven Oberspießern. Selbst die schalteten danach nur allzu gerne auch mal auf die „Privaten“ um. Sodass sich nach einiger Zeit dann die Botschaften vom braven Olaf oder dem neuen Outfit von „der Mutti“, auf einer Ebene mit den knackigen Ansagen vom Dieter, dem knappen Auftritt von der Daniela und den hochintellektuellen Texten vom Alpenhansi mischten. Wie auch in den Zeitungen die neueste Schlagzeile: „Pocher schlägt Wendler“ doppelt so dick und viel weiter vorne war als: „Spahn schlägt Erhöhungen für rezeptpflichtige Arzneimittel vor“.

Für die Comedians und Kabarettisten dienten sie natürlich teilweise als Vorgaben für die zu pointierenden Figuren in ihren Parodien. Selbst diese Art der Vorstellung nahm aber an Anzahl und Prestige, wie ebenso an Sendezeit, immer weiter ab. Auch hier waren ausufernde Sendungen mit ständig wachsender Zahl von C-Promis (das sind Leute, die wirklich gar nichts können und sich damit profilneurotisch überall permanent zur Schau stellen) fast schon omnipräsent. Nun gut, vielleicht bot das Fernsehen einmal pro Woche auf einem weniger populären Sender oder im Zweiten, irgendwann nach zweiundzwanzig Uhr, mal für eine Stunde gesellschaftspolitisches Cabaret an, in dem auch die Politiker eine gewisse Rolle spielten. Das musste aber wirklich genügen. Letzteres kam aber natürlich nicht einmal annähernd an die Quoten der täglichen TV-Highlights heran; täglich mindestens drei Stunden zur besten Sendezeit, irgendwelchen C-Promis beim Kakerlakenmampfen beizuwohnen, oder eine halb nackte Blondine bei ihrer aufsehenerregenden Auswahl nach dem perfekten Männerarsch, per Online-Voting zu unterstützen.

Ja, es war schon wirklich hart für den „Fern-Seher“ sich zu entscheiden, ob man den Bauern bei seiner Auswahl der richtigen Frau beobachten sollte. Ein gesellschaftlich äußerst wichtiges Thema, wenn man sich morgens im Büro mit den Kollegen über Allgemeines unterhalten wollte; oder ob man bei der bösen Heidi mitfiebern durfte, welche der dürren Kleiderstangenzicken am Ende von fünf Stunden nervtötenden Schwachsinns heute kein Foto von der weltwichtigsten Kreischhexe bekam. Dagegen war das einzige, noch einigermaßen präsentable Format für gewisse Politiker, also die bekannten, medientauglichen eben, denn die SPD Vorsitzenden mit Doppelnamen erfüllten beide Kriterien nicht, die Talkshows. Wo sie von wirklich wichtigen, äußerst bekannten Starmoderatoren hin und wieder gezielt eingeladen wurden, um zu aktuellen Themen möglichst respektlos befragt beziehungsweise vorgeführt zu werden. So zum Beispiel: „Ist die Sozialdemokratie noch gesellschaftsfähig?“ Oder: „Ist die Politik noch Herr der Lage?“ etc.

Aber was hätten sie auch tun können, die Herren und Damen Politiker? In Zeiten der weltumspannenden Globalisierung, der Globalisierung von Geld und Wirtschaft; der fortschreitenden Globalisierung von Mode, Verhalten, Handeln, Festen? Zum Beispiel, feierten immer mehr Deutsche Thanksgiving. Warum? Die meisten wussten noch nicht einmal, weshalb dieser amerikanische Feiertag gefeiert wurde. Nur eben, dass man dabei alle Arten von amerikanischen Accessoires zur Schau stellte und Truthähne verspeiste. Immer mehr Asiaten feierten Weihnachten, obwohl sie keine Christen waren und damit auch nichts am Hut hatten! Ja nicht einmal die ursprünglichsten Bräuche blieben einem Land und seiner Bevölkerung manchmal noch erhalten, oder alleine und ursprünglich vorbehalten. Denn, worüber verfügten der Staat und seine Politiker noch? Außer wie seit Ewigem und wie in jedem Staat immer das Gleiche: Natürlich viel zu viel Geld durch viel zu hohe Steuern, für viel zu wenig Leistung! Grund und Boden? Kaufte man sich auf dem Immobilienmarkt und bei den Banken! Züge, Straßen, Post, Strom, etc.? Alles entweder schon privatisiert oder kurz davor! War es wichtig, ob man in diesem oder jenem Land wohnte? Sah man sich nicht längst sehnsüchtig den Globus an und überlegte, wohin man in ein paar Jahren in der Rente auswandern sollte? War man als Student überhaupt noch vermittelbar, wenn man nicht zumindest ein Auslandssemester absolviert hatte? Verdiente man als Arzt oder Ingenieur nicht gerade in diesem oder jenem Land so viel mehr, dass man dahin einfach auswandern sollte wie so viele? Hatte nicht sogar der Minister gesagt, man dürfe sich nicht mehr nur auf den Staat und seine gesetzliche Rente verlassen? War nicht die Entwicklung der Aktienkurse der internationalen Börsenkonzerne wichtiger für den persönlichen Wohlstand als das Bruttosozialprodukt des eigenen Staates? Inwieweit war BMW noch ein deutsches Unternehmen? Oder hing auch GM nicht schon weit mehr vom chinesischen Markt ab als vom Amerikanischen?

Ja, die Grenzen waren fast grenzenlos und weltumspannend offen für Waren und Menschen jeglicher Art. Verbunden einzig und allein durch das neue Hauptprodukt Informationen. Diese bestimmten, unfassbar von jeglichen Politikern oder Institutionen, digital von Google aufbereitet, mittels Microsoft auf den Geräten von Apple und Samsung implementiert, Form und Takt des Geschehens aller Menschen weltweit. Siemens wollte nicht länger Kühlschränke und Kaffeemaschinen bauen. Mit Stahlverarbeitung verdiente man schon lange kein Geld mehr. Die nationalen Währungen, die vertrauten Münzen und Scheine des klassischen Geldes, standen auch schon kurz vor dem Aus. Die letzten arbeitenden Menschen sollten von Industrie 4.0 abgelöst werden. Und die Intelligenz stand gar vor dem unbegrenzten Durchbruch zur Künstlichkeit. Wofür konnte man, sollte man bei diesem gigantischen Schauspiel irgendwelche Staaten oder Politiker brauchen?!

Aber dann kam „Das Virus“ und mit ihm die Stunde der Politiker.

Das hatte aber auch Peter, der eigentlich über eine sehr scharfe Beobachtungsgabe verfügte, erst viel später begriffen …

Die Stunde der Politiker

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