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Die Stunde der Politiker

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Und dann, mit einem Schlag, kam das Chinesische Neujahrsfest, das Fest der Feste überhaupt! – Über eine Milliarde Chinesen fuhren und flogen von überall her, durch das ganze Land, um weltweit von ihren Arbeitsstätten Hunderte und Tausende Kilometer nach Hause zu gelangen. Alle schlossen für ein paar Tage ihre Fabriken, Baustellen, Geschäfte und Restaurants, um mit ihren Familien mit viel Essen und Feuerwerk das neue Jahr zu feiern. Aber die Regierung hatte kurz davor etwas getan, was zuvor für niemanden auch nur im Entferntesten in Friedenszeiten vorstellbar gewesen wäre. Sie hatten alle Feiern im ganzen Land nicht nur abgesagt, sondern sogar verboten. Alle Arten von Ansammlungen wurden untersagt. Die ganze Provinz Hubei, immerhin ein Land mit sechzig Millionen Einwohnern, wurde abgeriegelt; die Schulen landesweit über die Feiertage hinaus auf unbegrenzte Zeit geschlossen und je nach Gebiet mehr oder weniger strenge Ausgehsperren verhängt. Dieses große Land mit seiner enormen Vitalität, mit seinem lauten emsigen Treiben, wurde für über eine Milliarde Menschen einfach per Gesetz stillgelegt.

Im Westen wurden jetzt natürlich immer mehr Nachrichten und Zahlen veröffentlicht. Bilder von menschenleeren Straßen und Plätzen in Peking und Schanghai wurden in den Nachrichten gezeigt. Peters Kunden riefen jetzt völlig aufgeregt täglich fünfmal an und wollten von ihm genaueste Informationen über die Auswirkungen auf die laufende Produktion in den chinesischen Werken. Aufstellungen über Lagerbestände versus den wöchentlichen Bedarfszahlen; was noch auf welchem Frachter unterwegs war; wie viel in Europa wo noch auf Lager war. Peter bekam natürlich nichts aus China. Die meisten Kollegen saßen zu Hause. Sie tippten sich dort zwar die Finger wund auf ihren PCs und Handys, aber keiner wusste etwas Genaues, und schon gar nicht, wann es wie weitergeht.

Dazu erschien dann auch genau am Montag nach „Chinese New Year“ der erste Infizierte in Deutschland in den Schlagzeilen der Zeitung. Wie hätte es auch anders sein können? Gerade letzte Woche vor dem Neujahrsfest aus China war er von der Arbeit heimgereist! Noch dazu passend kam er aus der Automobilindustrie. Peter kannte den Mann nicht, aber er konnte sich das alles sehr gut vorstellen. Genauso gut hätte auch er das sein können. Aber Gott sei Dank waren seine Fabriken und Kunden weit weg von Wuhan und Hubei.

Der deutsche Ingenieur jedoch erfreute sich trotz des Virus bei relativ guter Gesundheit. Es war eben irgendein neues Grippevirus, das uns hier in Deutschland, wo wir an alljährliche Grippeepidemien seit Jahrhunderten gewöhnt waren, nicht sonderlich zusetzen würde. Das Gesundheitsministerium stufte die Gefahr, die von diesem Virus für uns ausgehen würde, als äußerst gering ein. Paris und Hallstatt waren voll mit chinesischen Touristen, der DAX war mit über dreizehntausend Punkten im Allzeithoch. Das Impeachment gegen Trump lief planmäßig gegen die Wand, selbst wenn die Trump feindliche Presse in Deutschland die Hoffnung für ein Ausscheren einzelner Republikaner nährte. Eine der zentralen Fragen in Deutschland war, ob sich Hansi Flick und Lucien Favre als Trainer von Bayern München und Borussia Dortmund halten könnten, ob Liverpool es als erste Mannschaft schaffen könnte, eine ganze Saison als Meister zu beenden, ohne ein Spiel zu verlieren, und ob der Tuchel das mit diesen Diven von Neymar und Mbappe schaffen würde Dortmund zu schlagen, um endlich die Champions League gewinnen und sich so in Paris halten zu können.

Für Peter waren die ersten Februarwochen ein einziger Horror gewesen, weil er aus China kaum noch irgendwelche Informationen über Produktions-, Liefer- oder Lagerdaten erhielt. Seine Kunden bedrängten ihn jeden Tag mehr mit bohrenden Fragen, wann, wo, was produziert und geliefert würde, und wo sich in welchem Lager wie viel Stück befänden. Gott sei Dank wagte es keiner mehr nach China zu fliegen, und die chinesischen Kollegen verweigerten aufgrund von Arbeits- und Ausgehsperren seit dem Chinesischen Neujahr alle Auslandsflüge. Mitte Februar kehrten viele von Peters Kollegen wieder an ihre Arbeitsplätze zurück. Peter hatte das Glück, dass seine Fabriken ziemlich im Südosten lagen – da war nicht viel los gewesen mit Infizierten und Erkrankten. Er gab natürlich den Druck, den er von seinen Kunden bekam, an die Kollegen in China weiter und schoss aus allen Rohren, um sie zur Produktion der Komponenten für die E-Antriebe für seine Kunden zu drängen. Er war sich sehr wohl bewusst, dass sie bei allen Kunden wahrscheinlich im Rückstand waren, weshalb nur der, der am lautesten schrie, wohl am ehesten seine Teile bekam. Auch seine Kollegen hier in Deutschland, vornehmlich die aus der Logistik, rotierten, um genügend Verpackungsmaterial, Sondertransporte und Beschleunigungen in die Lieferabwicklung hinzubekommen.

In den ersten Märztagen füllte sich die Pipeline der Lieferkette. Die Produktion meldete eine Rekordzahl nach der anderen. Die Kunden waren nicht beruhigt, aber doch zumindest soweit zufrieden, als sie sahen, dass wirklich viel unternommen wurde. Außerdem waren anscheinend andere Lieferanten noch mehr im Rückstand, weswegen für Peter fast so etwas wie Normalität einkehrte. Außer dass er nicht nach China fliegen konnte wie alle anderen, wie umgekehrt auch die chinesischen Kollegen nicht nach Europa fliegen wollten.

Auch sonst lief alles mehr oder weniger normal. Man freute sich auf den Genfer Automobilsalon. Der Siegeszug der Elektroautos schien kaum noch aufzuhalten zu sein. Alle Firmen und Institutionen versuchten mit den Klimaaktivisten zu dealen, um ihre Nachhaltigkeitsfeigenblätterprogramme bestmöglich in der Öffentlichkeit verkaufen zu können. Bayern München war endlich wieder an der Tabellenspitze. In der Zeitung fanden sich die täglichen Meldungen, wo wieder wie viel neue Coronainfizierte registriert wurden, und wie sich die Zahlen in Hubei und Wuhan weiterentwickelten. Am zehnten März fand das Championsleague Achtelfinalrückspiel von Atlanta Bergamo bei FC Valencia statt. Nachdem das Hinspiel Ende Februar aufgrund des großen Zuschauerinteresses von Bergamo nach Mailand ins San-Siro-Stadion verlegt worden war, in dem die italienische „Dorfmannschaft“ die Millionentruppe von Valencia grandios mit vier zu eins besiegt hatte, war das Zuschauerinteresse für das Spiel in Valencia bei den Italienern entsprechend groß. Und wirklich, die Lombarden besiegten die Spanier auch im Rückspiel und zogen sensationell ins Viertelfinale ein. Die gefürchteten Ausschreitungen der Fans beider Lager blieben nicht nur Gott sei Dank aus, sondern ganz im Gegenteil: In den U-Bahnen, Bars und Straßen feierten alle Fans friedlich und eng verbunden miteinander.

Zehn Tage später waren in Italien mehr als doppelt so viele Menschen an diesem neuen Virus gestorben wie offiziell in ganz China. An diesem Covid 19, wie es dann überall außer in den USA genannt wurde. Trump versuchte verzweifelt, es als ''China Virus'' in die Geschichtsbücher eingehen zu lassen. Die meisten Infizierten und Toten kamen aus der Lombardei, will heißen: Aus der Region rund um Mailand und Bergamo. Seit 16. März waren in Deutschland alle Schulen und Kindergärten geschlossen. Am 13. März wollte Peter, wie seit Langem geplant, mit ein paar Kollegen zum Skifahren nach Österreich fahren. Aber sie haben nach langem Hin und Her den Urlaub abgeblasen, als am Abend davor bekannt geworden war, dass die Hotels in allen Skiorten in Österreich an diesem Wochenende schlossen und die Skisaison vorzeitig beendet würde. Peter hatte den ganzen Donnerstag Stress mit der Hotelbesitzerin gehabt, die nicht mehr ans Telefon gegangen war und nur schriftlich mit ihm verkehrte, weil sie ihn zwingen wollte, die volle Rechnungshöhe als Stornogebühr zu bezahlen, wenn er nicht käme. Aber Peter und die Jungs hatten kein gutes Gefühl mehr gehabt bei der ganzen angespannten Lage. Am Mittwoch darauf beschloss Peters Firma, wie viele andere auch, alle Niederlassungen weltweit zu schließen und die Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken, beziehungsweise aus Kostengründen gleich in Kurzarbeit. Die Kollegen in China waren mittlerweile alle wieder ins Büro und in die Fabriken zurückgekehrt. Es gab keine Neuinfektionen mehr in China. So wurde es zumindest von der dortigen Presse verkündet. In Schanghai und Peking wagten sich die Leute wieder, wenn auch vorsichtig und deutlich weniger, auf die Straßen; selbstverständlich mit Atemschutzmasken, wie meist ohnehin früher auch. Die Ausgangssperren wurden für beendet erklärt. Offiziell waren in China zwischen Dezember 2019 und Ende März 2020 über achtzigtausend Menschen infiziert, von denen knapp dreitausenddreihundert Menschen an dem Virus gestorben waren.

In Europa wurden seit Anfang März 2020 in jedem Land unterschiedliche Maßnahmen aufgrund der mehr oder weniger stark ansteigenden Zahlen an Covid 19-registrierten Infizierten und daran Verstorbenen getroffen. Innerhalb von zwei Wochen wurden aber in fast allen Ländern sämtliche Universitäten, Schulen und Kindergärten geschlossen, die meisten Flüge vom und ins Ausland gestrichen, die Staatsgrenzen außer für Warentransporte gesperrt, und außerdem alle Geschäfte mit Ausnahme von Apotheken, Drogerien und Lebensmittelläden geschlossen. In jedem Land verfügte man nach und nach Ausgehsperren in verschieden strenger Form und Kontaktverbote aller Art. Überall rief man nacheinander nationale Notstände und Katastrophenalarme aus.

Wie alle hatte auch Peter ungläubig und wie in Trance diese Tage damit verbracht, minutiös die Entwicklungen und Nachrichten zu verfolgen, Informationen über die Geschehnisse und die Hintergründe zu erfahren, um sich ein Bild über die Situation zu verschaffen, um das Ganze zu begreifen, um sich der Lage bewusst zu werden und daraus resultierend, richtig und angemessen reagieren zu können. Nachzudenken, um einen Plan zu haben, für jetzt und auch einen für morgen, für die Zukunft, um sich wieder zu orientieren, in den neuen, sich permanent verändernden Rahmenbedingungen. Wie er das aus seiner Arbeit und Lebenserfahrung gewohnt war, saugte er erst mal alle verfügbaren Informationen auf. Daten und Zahlen aus Internet, Fernsehen, privaten Kontakten, aus verschiedensten Quellen, aus allen ihm verfügbaren Ländern und Bevölkerungsschichten, um sich aus den teils widersprüchlichsten Daten und Aussagen ein möglichst spezifisches, eigenes Bild zu machen. Wie immer in solch komplexen Situationen versuchte er, sich aus diesen verfügbaren Zahlen eine Ordnung zu schaffen, indem er sie mit vergangenen, auch von anderen früheren Katastrophen und mit verfügbaren Vergleichszahlen aus verschiedenen Quellen verglich. So zog er seine Schlussfolgerungen daraus, prüfte diese immer wieder auf Gegenargumentationen und -Berechnungen und tauschte sich darüber mit Kollegen und Bekannten aus.

Je länger er das Schauspiel beobachtete, desto mehr kam er zur Erkenntnis, dass diese pandemische Katastrophe, die dieses Virus ausgelöst hatte, spätestens seit Ende März dazu geführt hatte, dass es zu einem weltweiten Shutdown gekommen war. Alle Nationalstaaten – außer China, Taiwan, Südkorea und teilweise in Afrika – hatten sich in totale Isolation im Kriegs- (gegen ein Virus?) beziehungsweise Notfallzustand begeben. Das war die Wiedergeburt der Macht der Politik – die Stunde der Politiker.

Die Stunde der Politiker

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