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Kapitel 2Ein unangenehmer Fund

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Li-Mian war nicht besonders wählerisch, was seine Besatzung betraf. Er hatte Chinesen, Malaien, Philippinos und ein paar Javaner an Bord. Der chinesische Kapitän nahm fast jeden Mann, der gesund und kräftig sowie ein guter Seemann und rücksichtsloser Mörder war. Bei einer derartigen Zusammensetzung waren Streitigkeiten an Bord nicht selten, doch Li-Mian und seine Offiziere setzen die Disziplin rücksichtslos und mit drakonischen Strafen durch.

Der Kapitän achtete darauf, dass seine Männer keine Familien an Land besaßen. Männer wurden geschwätzig, wenn sie das Bett mit ihrer Frau teilten und prahlten gerne mit ihren Taten, um ihre Männlichkeit zu betonen. Solche Informationen konnten zu leicht an die falschen Ohren gelangen. Daher durfte seine Mannschaft auch nur in wenigen Häfen an Land gehen. Dort, wo es die „verschwiegenen Häuser“ gab. Häuser, in denen Frauen ihre Dienste anboten, denen man jedoch, zum Garant ihrer Verschwiegenheit, die Zunge entfernt hatte.

Li-Mian war nun Ende der Fünfzig, hatte viele Schiffe überfallen und noch mehr Menschen töten lassen oder selber umgebracht. Dabei wirkte er wie ein gütiger Patriarch und pflegte die Umgangsformen eines gebildeten Mannes. Er mordete nicht aus Leidenschaft, auch wenn ihm ein erfolgreicher Überfall stets ein Gefühl der Zufriedenheit vermittelte, sondern sah dies als Notwendigkeit seines Berufs als Pirat. Er war schon viele Jahre auf den Meeren unterwegs, doch in den letzten beiden war manches anders geworden. Er und seine Männer waren nun nicht mehr nur Piraten, die auf Beute aus waren, sondern kämpften zugleich für ein höheres Ziel. Nun, wenigstens galt dies für ihn selbst und seine Offiziere. Dem Rest der Mannschaft war es gleich, wofür oder für wen sie mordeten, solange die Beute stimmte.

Fang, sein erster Offizier, klopfte an die Tür der Kajüte. „Es ist soweit, Kapitän.“

Li-Mian nickte seinem Freund und Vertrauten zu. „Ich komme.“

Der Chinese sah sich in seiner Kajüte um, die einen guten Teil des Heckbereiches einnahm.

Fragil wirkende und reichverzierte Möbel standen hier, ein dicker Seidenteppich bedeckte den Boden. An den Seitenwänden hingen Regale und Erinnerungsstücke. Kunstvolle Schnitzereien waren zu sehen. Für den Geschmack eines Europäers mochte all dies ein wenig zu bunt und überladen wirken, doch für Li-Mian war es ein Stück seiner Heimat China, die er nun schon seit Jahren nicht mehr betreten hatte.

Im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute, welche die traditionell niedrigen Schreibunterlagen nutzten, bevorzugte der Kapitän die Verwendung eines hochbeinigen Schreibtisches. Er besaß ein zierlich gearbeitetes Exemplar, mit kunstvoll herausgearbeiteten Strukturen und wertvollen Einlegearbeiten, für das sein ursprünglicher Besitzer keine Verwendung mehr hatte. Die Schreibfläche war mit feinstem grünem Leder bezogen und passte hervorragend zu den drei geschnitzten Jadefiguren, die Li-Mian an die Heimat erinnerten.

Er öffnete eine Schublade des Schreibtisches und zog seinen Revolver heraus. Eine englische Waffe, mit der man mehrere Schüsse hintereinander abfeuern konnte. Alle seine Offiziere besaßen solche Revolver, die bei Unstimmigkeiten mit Besatzungsmitgliedern weit hilfreicher waren, als die alten einschüssigen Pistolen. Er schob die Waffe hinter die seidene Schärpe seines langen Gewandes und vergewisserte sich, dass der Dolch in der Nackenscheide saß. Dann erhob er sich und nahm das breite gekrümmte Schwert aus dem Gestell neben der Tür, bevor er diese öffnete und hinaus aufs Deck trat.

Li-Mian war stolz auf sein Schiff.

Die Hâi-Niâo trug ihren Namen „Seevogel“ zu Recht. Sie war schnell, sehr schnell, obwohl sie für das Auge eines Europäers keine Eleganz zeigte. Die Dschunke besaß nicht die schlanke Form eines modernen Schiffes, mit dessen schnittigen spitzen Bug, sondern einen flachen Boden und eine kantige Grundform. Ihre Bordwände schienen senkrecht aus dem Wasser empor zu wachsen. Während das Heck weit hochgezogen war, erschien der breite Bug, selbst für eine Dschunke, ungewöhnlich niedrig. Hier stand eine flache Hütte, hinter deren Wänden sich die beiden schweren Kanonen verbargen, welche die Hauptwaffen der Seevogel waren.

Das Schiff besaß zwei Pfahlmasten, die jedoch nicht durch Wanten stabilisiert wurden. Ihr Holz war flexibel, was den Bruch bei einem Sturm nahezu ausschloss. An ihnen zog man die typischen viereckigen Dschunkensegel auf. In ihren Stoff waren, in Querrichtung, lange Bambusstangen eingearbeitet, die den Druck und die Belastung des Windes optimal verteilten.

Hinter dem zweiten Pfahlmast, kurz vor der sogenannten „Hütte“ des Kapitäns und seiner Offiziere, ragte ein dünnes schwarzes Rohr empor. Li-Mian verließ sich in seinem riskanten Beruf nicht ausschließlich auf die Kraft des Windes. Er hatte sich auch eine moderne Dampfmaschine zugelegt, deren Antriebspropeller bei Bedarf ins Wasser abgesenkt werden konnte. Dies war jedoch ausschließlich für einen Notfall gedacht. Oft genug wurden die Piraten gerade durch die Rauchsäule eines kohlegefeuerten Dampfantriebs auf lohnende Beute aufmerksam gemacht.

Die Bemalung des Schiffes hatte unter Seegang und Wetter gelitten und man sah die Stellen, an denen sie ausgebessert worden war. Li-Mian achtete als Kapitän und Eigentümer streng darauf, dass sein Schiff keinen heruntergekommenen Eindruck vermittelte. Ebenso, wie er auf die Reinlichkeit der Besatzung achtete, denn er duldete keine Krankheiten oder sogar Seuchen an Bord. Immer wieder erwarb er auf einer der zahllosen Inseln frisches Obst und hörte sich bei der Gelegenheit nach nützlichen Informationen um.

Entlang der Reling und auf Deck waren Kisten und Ballen mit gewöhnlicher Handelsware festgezurrt. Sie dienten seinen Männern im Gefecht als Deckung, vor allem aber der Täuschung, wenn ein Panzerkreuzer der europäischen fremden Teufel eine Kontrolle der Seevogel erzwang. Waren, die sie von einem geenterten Schiff erbeuteten, verbarg man im Laderaum und bot sie geeigneten Vertrauensleuten in einem der Häfen an. Zwei große Beiboote lagen rechts und links des kleinen Schornsteins. Ihre Rümpfe schimmerten feucht, da sie kurz zuvor gewässert worden waren.

Li-Mian trat aus dem Schatten des Heckaufbaus an Deck. Hier standen die zweihundert Männer seiner Besatzung versammelt. Im Gegensatz zu ihrem Kapitän und den Offizieren trugen sie an Kleidung, was ihnen gefiel. Oft waren es Beutestücke, die sie ihren Opfern abnahmen. Die Zusammensetzung war willkürlich und dem Geschmack des jeweiligen Trägers angepasst. Die Männer wirkten wild. An ihrem erregten Geschrei war zu erkennen, dass sie sich bereits um jene Beute zu streiten begannen, die noch gar nicht verteilt worden war.

Li-Mian´s Offiziere sahen dem Treiben zu. Sie griffen auch nicht ein, als eine Messerstecherei ausbrach. Jene, welche einen solchen Kampf überlebten, hatten an Erfahrung hinzugewonnen. Ersatz für die Verlierer fand sich überall. Erst als der Kapitän ein Zeichen gab, hob einer der Offiziere seinen Revolver und gab einen Schuss in die Luft ab.

Erwartungsvolles Schweigen senkte sich über die Menge.

„Ihr kennt das Gesetz“, erinnerte Li-Mian mit lauter Stimme. „Mein Gesetz. Die Beute wird erst eine Woche nach dem Überfall verteilt.“ Er breitete die Arme in einer theatralischen Geste aus. „Und heute ist dieser Tag!“

Jubel und gierige Rufe brandeten auf. Sie alle kannten den Grund für das unumstößliche Gesetz ihres Befehlshabers. Früher hatten sie sich bereits auf einem eroberten Schiff um die Beute gestritten, hatten sich am Alkohol berauscht, um den Sieg zu feiern. Bis sie eines Tages von einem Panzerkreuzer der fremden Teufel überrascht worden waren. Viele Kameraden waren gefallen. Nur durch den Schutz der Nacht war es ihnen gelungen, sich doch noch zu retten. Seitdem entfernten sie sich stets vom Ort eines Überfalls und teilten erst, wenn sieben Tage verstrichen waren.

„Wir haben Kurs auf Tsingtau und in drei Wochen werdet ihr euch in einem der verschwiegenen Häuser als wahre Männer erweisen!“, rief der Kapitän mit breitem Grinsen. „Und nun lasst uns wissen, was wir von den Geisterhäutigen erbeutet haben.“

Aberglaube war im einfachen Volk weit verbreitet und viele Chinesen bezeichneten die Europäer, aufgrund ihrer hellen Haut, als Geister oder Geisterhäutige.

Nun trugen Männer die Kisten und Körbe aus dem Lagerraum, in dem man die Beute bislang aufbewahrt hatte. Erneut schwiegen die Männer, als Li-Mian heran kam und die Behälter, einen nach dem anderen, mit dem Schwert öffnete. Blanke Gier funkelte in manchen Augen. Hände zuckten, um den eigenen Anteil endlich ergreifen zu können. Doch keiner trat vor, denn zuerst würde sich der Kapitän seinen Anteil sichern und ein paar wertvolle Stücke an jene geben, die sich beim Kampf hervorgetan hatten.

Li-Mian ahnte, dass die Ausbeute des Überfalls nur gering war. Sie hatten an der Hörnerinsel kein reiches Handelsschiff mit kostbarer Ladung aufgebracht. Keinen Frachtsegler oder Dampfer mit vermögenden Passagieren. Nicht einmal mit Weibern, die der Lust dienen konnten, bevor man sich ihrer entledigte. Nein, es war eine kleine Brigg gewesen, die er nur angreifen ließ, weil sie die Hörnerinsel erreicht hatte. Niemand außerhalb der Bruderschaft durfte die Insel kennen oder ihre Entdeckung überleben.

Er stieß ein missmutiges Knurren aus, als er mit der Schwertspitze in den Kisten und Körben wühlte. Kein wertvoller Schmuck… Ein paar Taschenuhren… Persönliche Habe der Seeleute, ohne besonderen Wert. Eine geschnitzte Tabaksdose. Offensichtlich aus polierten Walknochen. Immerhin etwas, wenn auch von geringem Wert. Seeleute fertigten so etwas in ihrer kargen Freizeit an und dies hier war eine wirklich schöne Arbeit. Doch ansonsten… Ein paar billige Halsketten und Ringe. Nautische Instrumente, wie die Geisterhäutigen sie benutzten. Kaum genug, um die Kosten der Fahrt aufzuwiegen.

Li-Mian runzelte die Stirn, als er auf eine kleine Schatulle stieß. Als er sie öffnete, fand er ein Päckchen, das in feines Leder eingebunden war. Er beugte sich vor und hob das Kästchen aus der Truhe. Dies schien etwas von unerwarteter Bedeutung zu sein.

„Fang, übernimm du das verteilen der Beute!“, rief er seinem Ersten Offizier zu. „Danach komm zu mir.“

„Zu deinem Willen, Kapitän“, bestätigte dieser.

Der Chinese ging zurück in seine Kabine und stellte die offene Schatulle auf den Schreibtisch. Fast andächtig nahm er das Päckchen heraus, öffnete die Verschnürung und faltete das feine Leder auseinander. Neugierig sah er auf die mit Siegeln versehenen Dokumente, die nun sichtbar wurden. Das waren keine der üblichen Papiere, die man im Besitz eines Kapitäns erwartete. Keine Urkunden, die im Zusammenhang mit dem versenkten Schiff standen. Nein, Li-Mian hatte Prägungen, wie sie hier auf dem Papier zu erkennen waren, auch schon an anderer Stelle gesehen. Dies waren offizielle englische Dokumente. Was hatten sie an Bord einer einfachen Brigg verloren? War die englische Brigg ein heimliches Kurierfahrzeug in diplomatischem Auftrag gewesen? Nein, wohl kaum. Nicht so weit abseits der üblichen Routen und bekannten Ziele. Somit mussten es persönliche Papiere sein. Dokumente eines Mannes von Bedeutung für die englischen Behörden.

Düstere Vorahnungen betrübten Li-Mian, als er die Dokumente entfaltete und dann sorgfältig las. Er hatte die Missionarsschule in Hongkong besucht und konnte die primitiven Zeichen der Engländer lesen und, wenn es denn sein musste, auch schreiben. Doch in der Schreibsprache der Fremden lag keine Harmonie. Sie war ebenso primitiv und ohne Kultur, wie das Wesen ihrer Nutzer. Nachdem er die Papiere gelesen hatte, glättete er sie sorgfältig und legte sie neben die Schatulle auf den Tisch. Von den Geräuschen an Deck nahm er nichts war. Der Kapitän hing seinen eigenen Gedanken nach. Sehr unerfreulichen Gedanken.

„Kapitän?“

Li-Mian hob den Kopf und deutete auf einen der verzierten Stühle. „Setz dich, Fang. Sind die Männer zufrieden?“

Fang zuckte mit den Schultern. „Eine magere Ausbeute, wenn man bedenkt, dass die Männer die halbe Nacht gerudert sind, um den Fremden unbemerkt zu erreichen. Die einzige wirkliche Beute ist es wohl, dass diese Engländer nicht mehr von der Hörnerinsel berichten können.“ Er lächelte schwach. „Immerhin war es eine gute Übung für die Mannschaft und die Kerle hatten ihren Spaß.“

„Ich fürchte nur, damit ist es nicht getan.“ Der Kapitän schob seinem Ersten Offizier das Bündel hinüber.

Fang ergriff es und sah auf Schrift und Siegel. „Es sind die Zeichen der Englischmänner. Du weißt, dass ich sie nicht deuten kann.“

„Aber du kennst das Siegel, nicht wahr?“

Fang runzelte die Stirn und nickte zögernd. „Es ähnelt dem Siegel ihres Gouverneurs in Hongkong.“

„Es ist das Siegel der Bank von England.“ Li-Mian seufzte. „Es ist ein Schreiben, in dem die Identität des englischen Lords Fenshaw beschrieben und bestätigt wird.“ Er bemerkte, dass Fang noch nicht ahnte, was dies zu bedeuten hatte. „Ein englischer Lord, du verstehst? Er war auf dem Schiff.“

„Auf der englischen Brigg?“

„Auf eben dieser.“ Li-Mian war enttäuscht von seinem Freund und Stellvertreter. Er hätte gehofft, dass dieser die Konsequenzen schneller begreifen würde. „Das verändert unsere Situation, mein Freund. Der in diesem Papier beschriebene Engländer befand sich nicht an Bord des Schiffes, als deine Männer es aufbrachten. Er ist also auch nicht mit ihm untergegangen.“

Fang stieß einen leisen Fluch aus. „Er hat sich vor unserem Angriff auf die Insel gerettet!“

„Das steht zu befürchten.“ Li-Mian legte die Fingerspitzern aneinander. „Schaden kann er wohl schwerlich anrichten, dennoch ist seine Person eine Gefahr für uns. Ein Lord ist ein bedeutender Mann in England, mein Freund. Die Geisterhäutigen werden sein Verschwinden nicht so einfach hinnehmen.“

„Sie werden nach ihm suchen.“ Fang atmete tief durch. „Gut, dann fahren wir zurück, töten ihn und niemand wird ihn mehr finden.“

„Sei kein Narr“, rügte der Kapitän. „Der Mensch Fenshaw ist keine Gefahr für uns. Er wird nur über wenige Mittel verfügen und hat kein Schiff. Aber seine gesellschaftliche Stellung ist eine Gefahr. Wir müssen verhindern, dass man nach ihm forscht. Wir müssen die Engländer täuschen.“

Fang nickte. „Sie glauben machen, dass er längst tot ist und dass sich die Suche nach ihm nicht lohnt?“

Li-Mian lächelte sanft. „So ist es. Das ist der einzige Weg, um zu verhindern, dass die englischen Schiffe über die See schwärmen und uns, bei unserer eigenen Suche, in die Quere kommen. Wir sind auf der Spur des eisernen Fisches, Fang. Wir sind ganz dicht dran, das spüre ich. Aber solange der eiserne Fisch nicht in unserer Hand ist, dürfen wir keinerlei Risiko eingehen.“ Der Kapitän nahm die Papiere und legte sie in das Kästchen zurück. „Wir ändern den Kurs und fahren nicht nach Tsingtau.“

„Das wird den Männern nicht gefallen.“

„Mir gefällt es ebenso wenig. Aber die Männer werden sich fügen, so wie ich mich dem Schicksal fügen muss. Die Besatzung weiß nur wenig von unserer Mission, doch du und ich, wir kennen ihre wahre Bedeutung. Uns bleibt keine Wahl, Fang. Wir müssen den Großkapitän der patriotischen Fäuste verständigen und die Täuschung der Engländer veranlassen. Das Einfangen des eisernen Fisches wird über die Zukunft unseres chinesischen Kaiserreichs entscheiden, Fang. Nichts darf unsere Mission gefährden.“

Fang erhob sich und verneigte sich. „Ich werde sofort die erforderlichen Befehle geben. Zu deinem Willen, Kapitän.“

Das Kanonenboot

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