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An fremden Küsten

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So ist auch das Material aus den frühesten „Kolonien“ in Übersee, die nun in dichter Folge entstanden, der Spiegel einer multikulturellen Gesellschaft von Kaufleuten, die in der Fremde dem Glück nachjagten. Sich in Übersee niederzulassen, hatte gegenüber der Existenz als reisender Kaufmann handfeste Vorzüge. Nicht nur tauschte man Risiko und Mühsal der Seefahrt gegen ein geruhsameres Leben an Land ein; vor allem kam man den Rohstoffquellen des Hinterlands und potenziellen Märkten für Fertigwaren ein gutes Stück näher. Überall am Mittelmeer entstanden nun solche Pflanzstädte, die dem Fernhandel Auftrieb gaben und Händler aus dem Osten magisch anzogen. Eine kommerzielle Diaspora, die das Tor zum wirtschaftlich interessanten, vorerst aber noch fremden Hinterland aufstieß, dämmerte herauf.

Einer dieser Umschlagplätze – die Griechen sprachen von emporia – war Pithekoussai (Ischia). Die „Affeninsel“, so die wörtliche Übersetzung, war seit ca. 770 v. Chr. Anlaufpunkt für Griechen, wiederum hauptsächlich Menschen aus Euboia, sie wirkte aber auch wie ein Magnet auf Levantiner, die sich hier mitten unter den Griechen niederließen. Von Phönizien, genauer: von Tyros, ging die Initiative zur Gründung einer dichten Kette von Kolonien im westlichen Mittelmeer aus: Karthago und Utica in Nordafrika, Motye (Mozia), Panormos (Palermo) und Solunt auf Sizilien, Nora, Sulcis und Tharros auf Sardinien, Toscanos, Malaga und Gades (Cádiz) in Südspanien, Lixus in Marokko – um nur die wichtigsten zu nennen. Sie alle waren Abbilder der Mutterstädte im Osten: Lage, Urbanistik, Architektur, Sprache und Kulte waren eng an die levantinischen Metropolen Tyros und Sidon angelehnt. Mit den Phöniziern kamen aber auch andere Einwanderer, Menschen aus Nordsyrien, Zypern, Israel-Juda, Kleinasien, der Ägäis und womöglich Ägypten. Vor Ort lebten Einheimische, die sich allmählich den Neuankömmlingen annäherten, vieles von ihnen lernten und oft vermutlich ihre Töchter an sie verheirateten.

So war die koloniale Diaspora zwischen Italien und Atlantik weit davon entfernt, ein kulturell oder ethnisch einheitlicher Raum zu sein. Mit Leben erfüllt wurde er vielmehr von unzähligen Individuen, die unabhängig von ihrer Herkunft vom Wunsch nach einem besseren Leben besetzt waren. Und dieser Traum machte nicht halt vor kulturellen Schranken. Auch viele Griechen hatten gute Gründe, ihr Heil in der Fremde zu suchen. Der im 7. Jahrhundert v. Chr. schreibende Dichter Hesiod lässt sein lyrisches Ich im Lehrgedicht „Werke und Tage“ (erga kai hemera) dem Sohn den Rat mit auf den Weg geben, die Erträge der Landwirtschaft durch Seehandel aufzubessern. Entweder, so der Vater, man verschifft die Produkte des eigenen Hauses mit einem kleinen Fahrzeug in nahe Gefilde – oder man tut sich mit anderen zusammen, um mit einem großen Schiff entsprechende Profite einzufahren (643f.).

Oft werden es wohlhabende Männer, gleichsam Aristokraten in statu nascendi, gewesen sein, die andere Abenteurer um sich scharten, um der kargen Existenz zu entrinnen, die Griechenland dem Landwirt bot. Der Historiker Herodot berichtet von dem sagenhaften Reichtum, der dem Samier Kalaios in den Schoß fiel, als er mit Schiff und Besatzung von einem Sturm an die spanische Küste geworfen wurde. Da es ihn als Ersten in den fernen Westen verschlug, kehrte er mit ungeheuren Schätzen nach Samos zurück (IV. 152). Solche Erfolge werden Teilzeithändler wie Kalaios dazu inspiriert haben, gleich ganz den Sprung in die Fremde zu wagen. Seit dem späten 8. Jahrhundert wuchs die Bevölkerung des griechischen Mutterlands so sprunghaft an, dass ein demographischer Aderlass unausweichlich wurde: Das Prekariat nach Übersee zu exportieren, schien ein probater Ausweg. Flucht vor Land- und Hungersnot in der Heimat und die Hoffnung auf Wohlstand, der in der Ferne lockte, gingen Hand in Hand und halfen, allfällige Bedenken zu zerstreuen. Auch hier galt: Die Auswanderer scharten sich um einflussreiche Einzelpersönlichkeiten, die dem Projekt die Richtung vorgaben; die Herkunft des Einzelnen war zweitrangig.

Am Ende stand Platons Froschteich: Um 600 v. Chr. war fast jeder Flecken entlang der mediterranen Küsten, einschließlich des Schwarzmeerrands, entweder von Phöniziern oder Griechen – oder den jeweils in ihrem Kielwasser fahrenden Individuen anderer Herkunft – in Besitz genommen worden. Durchzogen war diese Welt von vielfältigen Verbindungslinien: Kontakte zwischen Tochter- und Mutterstädten, Gastfreundschaften, Gesandtschaften zu Orakeln und wichtigen Kultstädten, religiöse Feste und panhellenische Wettkämpfe, die Scharen von Athleten und Besuchern anzogen. Pilger, Söldner und natürlich seefahrende Händler – alle waren sie ständig in Bewegung.

Zumindest am Anfang war die Scheidewand zwischen griechischer und phönizischer Hälfte des Mittelmeers keineswegs so trennscharf und hermetisch, wie uns manche Quelle glauben machen möchte. Wenn das Buch Ezechiel des Alten Testaments den Fernhandel von Tyros einmalig plastisch ausmalt, dann muss man sich hüten, dahinter ein „staatliches“, gar ein „nationales“ Projekt zu vermuten:

„Im Herzen der Meere liegt dein Gebiet. Vollendet schön schufen dich deine Erbauer. Aus Zypressenholz vom Berg Hermon bauten sie all deine Planken, eine Zeder vom Libanon nahmen sie, um auf dir den Mast zu errichten. Deine Ruder machten sie aus Eichen aus Baschan [im heutigen Jordanien], dein Deck aus Elfenbein und Eschenholz von den Inseln der Kittim [Kition auf Zypern]. Dein Segel war bunt gewebtes ägyptisches Leinen. (…) Deine Ruderer stammten aus Sidon und Arados. Erfahrene Männer, Tyros, gab es bei dir. Sie waren deine Matrosen. Die Ältesten von Gubla [Byblos] und seine erfahrensten Männer kamen zu dir, um mit dir Handel zu treiben. (…) Die Söhne von Arados und deine Mannschaft standen ringsum auf deinen Mauern und die Wächter auf deinen Türmen. Ihre Schilde hängten sie rings an deinen Mauern auf. Sie machten deine Schönheit vollkommen. Tarschisch [Südspanien] kaufte bei dir wegen der Fülle deiner Güter; Silber, Eisen, Zinn und Blei gaben sie für deine Waren. (…) Viele Inseln standen als Kaufleute in deinen Diensten; als Abgaben brachten sie dir Elfenbein und Ebenholz.“6

Was hier in eindringlichen Allegorien porträtiert wird, war nicht eigentlich eine Stadt, sondern eine Klasse von Fernhändlern, die in Tyros politisch das Sagen hatte, aber längst großräumig verflochten war. Jene „Kaufleute, die wie Fürsten auftraten“7 waren Männer, die Verbindungen mit allen Teilen der mediterranen Welt unterhielten, eine merkantile Oligarchie, die Multikulturalität bereits mit der Muttermilch aufgesogen hatte.

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