Читать книгу Kira und das Känguru - Miriam Frankovic - Страница 4

Albert

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Ich nutzte die Zeit in den Winterferien, um Cangoo unsere kleine Stadt am Meer zu zeigen. Als erstes lernte er die Nachbarin links von uns kennen, eine ältere, streng aussehende Dame mit schwarzen, zu einem Dutt aufgetürmten Haaren und einer Brille, die sie an einer Kette um den Hals trug. „Das ist Frau Steinhaus“, erklärte ich ihm. „Ihr gehört die Konditorei nebenan.“ Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, lief Cangoo schon wieder das Wasser im Mund zusammen. Ich knuffte ihn in die Seite. „Reiß dich zusammen. Und wehe, du klaust Kuchen!“ Frau Steinhaus wunderte sich zwar etwas über unseren neuen Mitbewohner, sagte aber nichts und verschwand wieder in ihrem Laden. Ich zeigte auf den Gitterzaun, der das kleine, ziemlich schief stehende Haus, in dem unsere Dachwohnung war, von dem modernen Gebäude aus Glas nebenan trennte. „Und hier gibt es im Sommer die saftigsten Brombeeren, die du dir vorstellen kannst. Sie wachsen hier durch, genau zwischen den Zaunlöchern.“ Ich lief ein paar Schritte weiter und zeigte ihm ein rotes Backsteinhaus, das rechts von unserem stand. „Ganz oben wohnt meine Lieblingsnachbarin, Frau Meyer. Manchmal, wenn mein Vater oder ich keine Lust zum Kochen haben, esse ich bei ihr. Sie ist achtzig, groß und kräftig und kocht den besten Haferflockenbrei mit Zimt, den es gibt. Und ihre Weihnachtsplätzchen sind genial.“ Cangoo fuhr sich mit der Zunge über die Schnauze, was ein Zeichen dafür war, dass er Frau Meyers Plätzchen für sein Leben gern mal probiert hätte. „Jetzt will ich das Meer sehen!“, rief er entschlossen, zog seine Wollmütze tiefer ins Gesicht und hoppelte neben mir auf der Straße her. Ein eisiger Wind fegte uns ins Gesicht, als wir die schmale Straße Richtung Wald entlangliefen, die zum Meer führte. Auf dem Weg zur Promenade zeigte ich Cangoo, wo ich zur Schule ging, in welcher Imbissbude die Pommes Frites am leckersten schmeckten und wo man im Sommer das cremigste Eis bekam. Schließlich kamen wir an einem grauen Haus mit Gardinen vor den Fenstern vorbei. Der Vorgarten des Hauses war mit Stacheldraht eingezäunt. Ein Cockerspaniel, der im Garten hin und her raste, bellte aus Leibeskräften, als wir näher kamen. „Das ist Rocko“, erklärte ich. „Er bellt jedes Mal, wenn jemand vorbeigeht.“ Cangoo sah den Hund teilnahmsvoll an. „Kein Wunder. Eingesperrt zu sein, macht zum Beispiel keinen Spaß.“ Bisher hatte ich eigentlich immer gedacht, dass Rocko es nicht gern hatte, wenn ihm jemand zu nahe kam. Aber vielleicht würde Rocko wirklich aufhören zu bellen, wenn er frei herumlaufen könnte. Wir bogen in den Waldweg ein, kamen auf eine große Wiese zu, und ich zeigte Cangoo meinen Lieblingsplatz. „Hier stand letztes Jahr noch eine Trauerweide. Aber dann hat ein Orkan sie entwurzelt.“ Nachdem ich ihm noch den Froschteich, den Leuchtturm, die Fähre und schließlich das Meer gezeigt hatte, machten wir noch einen kleinen Umweg zu meinem Lieblingsplatz, dem Seerosenteich, mit der einsamen, halb verfallenen Villa, die sich am Rand des zugefrorenen Teichs erhob. „Vor ungefähr 200 Jahren hat der Herzog von Aurelien hier gelebt. Aber seit er gestorben ist, steht das Haus leer“, erklärte ich Cangoo. „Warum zum Beispiel?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Es wäre viel zu teuer, die Villa wieder instand zu setzen. Und die reichen Leute kaufen sich lieber ein modernes Haus. Außerdem wird sie wahrscheinlich sowieso bald abgerissen.“ Grüblerisch betrachtete Cangoo das alte Haus mit den halb blinden Fenstern. „Können wir zum Beispiel nicht da einziehen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Mein Vater ist ja schon froh, wenn er das Geld für die Wohnungsmiete jeden Monat zusammenbekommt.“ Ziemlich durchgefroren machten wir uns wieder auf den Nachhauseweg. Ich hatte das Gefühl, dass unsere kleine Stadt am Meer Cangoo gefiel. Und das machte mich froh. Als ich mich am nächsten Morgen an einem verregneten, grauen Tag aus dem Bett quälte, saß Cangoo wie angewurzelt auf einem unserer Wohnzimmersessel und starrte gebannt den Stuhl an, der am anderen Tischende stand. Er war so versunken, dass er sogar vergaß, den Zimt-Pfannkuchen, den er sich gerade ins Maul gestopft hatte, zu Ende zu kauen. „Siehst du Gespenster?“, murmelte ich verschlafen. „Bloß eins“, antwortete er sehr ernsthaft, ohne seinen Blick abzuwenden. „Es heißt Albert.“ Mein Vater sah von seiner Zeitung auf, tippte sich dreimal mit dem Finger auf die Stirn und ging in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. „Er ist 873 Jahre alt“, sagte Cangoo, den es überhaupt nicht störte, dass mein Vater ihm nicht glaubte. „Und unsterblich ist er auch.“

„Niemand ist unsterblich“, belehrte ich ihn.

„Albert schon. Hat er mir jedenfalls erzählt.“

„Wenn er reden kann, wieso sagt er dann nichts?“, fragte ich. „Weil er zum Beispiel seit ein paar hundert Jahren nicht mehr geredet hat und sich erst einmal wieder dran gewöhnen muss.“ Ich hockte mich neben Cangoo und starrte nun ebenfalls den leeren Stuhl an. „Ich sehe keinen Albert.“

„Du musst genau hingucken.“ Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und machte Stielaugen. Kein Albert weit und breit. Cangoo wedelte ungeduldig mit seinem buschigen Schwanz und beförderte eine Obstschale vom Tisch. Apfelsinen und Äpfel rollten auf den Boden. „Siehst du nicht, wie er leuchtet?“ Ich kniff meine Augen zusammen und sah plötzlich eine Art rosa Hülle in der Größe einer mittelgroßen Dschungelpflanze vor mir. Aber das konnte ich mir auch genauso gut nur einbilden. „Du meinst, Albert steckt unter dieser Hülle?“

„Er kann verschiedene Gestalten annehmen“, erklärte mir Cangoo. „Im Moment ist er unsichtbar. Dich kennt er noch nicht. Logisch, dass er sich da erst einmal bedeckt hält.“

„Und seit wann kennst du ihn?“

„Seit heute Morgen um zehn vor fünf. Da wollte er im Internet zwei Kabel zusammenlöten. Die Dinger sind in Flammen aufgegangen. Und auf der Feuerwolke ist er aus dem Computer in dein Zimmer geschleudert worden.“

„Warum bitten wir ihn nicht, mit uns zusammen zu frühstücken? Albert hat doch sicher Hunger.“ Cangoo schüttelte den Kopf. „Albert ernährt sich zum Beispiel nur von geistigen Dingen. Von Literatur.“

„Albert liest?“ Cangoo nickte nachdenklich. „Meistens philo... philo...“ Der Rest ging in einem unverständlichen Kauderwelsch unter. Mein Vater, der wieder reinkam und den Anfang des Gesprächs mitbekommen hatte, sagte: „Du meinst, er liest philosophische Bücher?“ Cangoos' Gesicht erhellte sich. „Genau.“

„Und was soll das sein?“, fragte ich stirnrunzelnd.

„Irgendetwas ziemlich Kompliziertes. Frag ihn am besten selbst“, meinte Cangoo.

„Warum heißt der Mensch Mensch?“, erklang plötzlich ein dünnes Stimmchen von dem leeren Stuhl.

„Keine Ahnung“, gab ich zurück. „Weil ihn irgendjemand mal so genannt hat.“

„Wann ist ein Tier ein Tier? Wieso haben wir ein Gehirn zum Nachdenken? Wieso denken wir manchmal so einen Blödsinn? Und warum kann ein Känguru hüpfen?“, fragte die Stimme wieder. „Das sind ziemlich schwierige Fragen“, erwiderte mein Vater und stellte seine Kaffeetasse, meinen Tee und einen Eimer heißen Kakao für Cangoo auf den Tisch. „Nein. Das ist Philosophie“, antwortete das Stimmchen.

„Mir egal. Willst du auch ein Brötchen?“, fragte Cangoo die Hülle, die unruhig in der Luft hin- und herschwebte. Wieder ertönte die Stimme. „Ich habe keinen Hunger. Ich habe heute Morgen schon fünf Bücher gegessen und bin pappsatt.“

„Kann ich mir vorstellen“, warf mein Vater trocken ein und schlug die Zeitung wieder auf. „Wie ist es, wenn man ewig lebt?“, fragte ich Albert.

„Total langweilig“, antwortete er. „Tagaus, tagein dasselbe. Ohne Ende.“ Die Stimme klang so betrübt, dass mir vor lauter Mitgefühl fast die Tränen kamen. „Vielleicht werden Gespenster einfach nur viel älter als wir und sterben erst mit tausend oder so“, flüsterte ich Cangoo nachdenklich zu. Der blickte die Hülle fragend an. „Wann stirbst du denn so zum Beispiel?“, fragte er neugierig. „Gar nicht“, sagte das Stimmchen. „Ich bin eine Art Seele ohne Körper.“ Ich nickte. Geschichten über unsterbliche Seelen hatte ich schon in meinen Indianerbüchern gelesen, auch wenn ich nicht genau kapierte, was damit gemeint war. „Hattest du denn früher einen Körper, als du noch jung warst?“ Wieder flatterte die Hülle unruhig auf und ab. „Früher war ich Baumeister von Beruf, dann Hofnarr am Königshof, später Weber und dann Opernsängerin in Mailand. Die anderen Sachen habe ich im Lauf der Zeit vergessen.“ Cangoo, der sich nie lange auf ein Gespräch konzentrieren konnte, sprang auf, hoppelte in die Küche und kam kurz darauf mit einem Berg übereinandergestapelter und mit Erdbeermarmelade bestrichener Pfannkuchen zurück. „Ich glaube, Albert ist nicht der Freund, auf den ich gewartet habe“, wisperte er mir kauend zu. „Das kann man nie wissen“, antwortete ich. „Gib ihm eine Chance.“ Cangoo guckte gelangweilt. „Von mir aus. Aber besonders lustig wird es wahrscheinlich nicht mit ihm.“

Wie sich bald zeigte, war Albert ziemlich bescheiden und kam wirklich ohne Essen und Trinken aus. Das Sprechen hatte er wieder aufgegeben. Wir bemerkten ihn nur dadurch, dass ab und zu eine Lücke in unserem Bücherregal klaffte, die später wieder geschlossen wurde. Manchmal sah man eine rosa Hülle durch die Wohnung schweben, die sich in ihrer Größe dauernd veränderte. Aber meistens zog Albert es vor, unsichtbar und auch unhörbar zu bleiben. Ab und zu spürte ich einen Windhauch am Hals und redete mir ein, dass er ganz in der Nähe war. Aber seit ein paar Tagen gab er keinen Mucks mehr von sich. Ich fragte mich, ob Gespenster auch Gefühle hatten oder ob ihnen während ihres unwahrscheinlich langen Lebens einfach alles egal wurde. Ich hätte mich gern mit Albert darüber unterhalten und ertappte mich manchmal dabei, wie ich mit der Luft sprach, wenn ich allein war. Aber ich bekam keine Antwort mehr. Dass Albert noch da war, merkte ich nur an den Lücken im Bücherregal. Vielleicht hatte er einfach keine Lust mehr zu reden. Mein Vater war davon überzeugt, dass er schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht hatte. In den nächsten Wochen ging alles wie gewohnt weiter. Ich ging wieder zur Schule, und mein Vater malte ein Bild nach dem anderen. Mir gefielen seine Bilder. Trotzdem wollte niemand eins kaufen. Cangoo verbrachte die Tage mit Angeln in Eislöchern und nahm ab und zu an einem Kängurutreffen im Internet teil, wo es immer eine Menge zu erzählen und zu essen gab. Seine Gedanken drehten sich hauptsächlich um den Speiseplan. „Woran denkst du?“, frage mein Vater ihn eines Morgens, als er beim Frühstück sorgenvoll seine Stirn in Falten legte. „Ans Mittagessen zum Beispiel.“

„Aber du frühstückst doch gerade. Und hinterher wirst du satt sein.“ Cangoo warf ihm einen Blick zu, der zeigen sollte, dass mein Vater nicht die geringste Ahnung hatte „Zum Beispiel im Augenblick leben ist gut“, erwiderte er nachdrücklich. „Aber wenn ich mir nicht jetzt schon überlegen würde, was ich später esse, müsste ich mich vielleicht mit etwas zufriedengeben, was ich nicht mag. Außerdem kann ich mich dann auf etwas freuen.“ Das, was er sagte, klang logisch. Trotzdem wollte mein Vater, der manchmal ziemlich dickköpfig sein konnte, unbedingt Recht behalten. „Aber wenn du jetzt nicht übers Mittagessen nachdenken und stattdessen etwas an die frische Luft gehen würdest, könntest du die wärmenden Sonnenstrahlen genießen.“

„Das kann ich auch, wenn ich dabei übers Mittagessen nachdenke. Dann freue ich mich nämlich doppelt“, gab er ihm prompt zur Antwort. „Und zum Beispiel hält doppelt besser.“ Er blinzelte mir fröhlich zu und verschlang zwei weitere Pfannkuchen. Meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als sich geschlagen zu geben.

Nach wenigen Wochen hatte Albert alle Bücher, die bei uns im Regal standen, verschlungen. Er las ungefähr vier Bücher am Tag, was meinen Vater, der selbst gern las, beeindruckte. Wenn er das seit 873 Jahren gemacht hatte, musste er sehr klug sein und genau wissen, was die Welt zusammenhielt, meinte er. Da er Albert mochte, bat er Cangoo, ein paar neue philosophische Bücher aus dem Internet zu holen. Denn die Frage, woher die Menschen, Tiere und Pflanzen wohl kommen, warum sie auf der Welt sind und wohin sie gehen, wenn sie die Welt wieder verlassen, schien Alberts Lieblingsgebiet zu sein. Aber immer noch hatte er seit dem Tag seines Eintreffens kein Wort mehr mit uns gesprochen.

Anfang Februar wurde Cangoo unruhig, weil er immer noch keinen richtigen Freund hatte. Mit Alberts Liebe zu Büchern konnte er nicht viel anfangen. Außerdem war Albert auch ihm gegenüber inzwischen völlig verstummt. Mein Vater glaubte, dass er in seinen früheren Leben zu viel geredet hatte, sodass ihm die Freude daran ein für alle Mal vergangen war. Nachts faltete er sich zusammen und schlief in unserer Dattelpalme auf der Fensterbank, wenn er nicht gerade wieder mit einer unsichtbaren Taschenlampe ein Buch verschlang. Viel Schlaf brauchte er anscheinend nicht. Meinem Vater kam es so vor, als wenn die Nächte in seinem Schlafzimmer seit Alberts Einzug heller geworden wären. Ganz sicher war er aber nicht. „Glaubst du, Albert liest auch nachts?“, fragte ich Cangoo. Er schüttelte den Kopf. „Er hat mir mal erzählt, dass er nachts mit seinem Engel chattet.“

„Engel? Gibt es denn welche?“

„Albert meint, Ja. Jeder hat einen Engel, manche zum Beispiel auch zwei.“ Na schön, wenn es einen lieben Gott gab, wie meine Mutter mir beigebracht hatte, bevor sie uns verlassen hatte, sprach schließlich nichts dagegen, dass es auch Engel gab. „Und Menschen? Haben die auch einen Engel?“ Cangoo sah fragend die Hülle an, die gerade oben am Fenster entlangschwebte. „Jetzt sag doch endlich mal wieder etwas“, murrte er. „Nur die, die ihn haben möchten“, erklang Alberts dünnes Stimmchen plötzlich wieder, denn das Thema schien ihn zu interessieren. „Aber nur diejenigen, die an Engel glauben, können sie auch sehen.“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich schon einmal einen gesehen hatte. Aber geträumt hatte ich bereits von einem. „Manchmal nehmen sie auch Menschengestalt an, wenn es nötig ist“, fuhr Albert fort. „Aber jeder, der ihr Gesicht als Mensch gesehen hat, vergisst es sofort wieder. Das muss so sein.“

„Warum?“, fragte ich neugierig.

„Die Menschen dürfen das wahre Gesicht des Engels nicht sehen“, antwortete Albert. „Wenn sie es erblicken, müssen sie sterben.“

„Mir egal. Ich geh jetzt Schlittschuh laufen. Aber vorher brauche ich noch eine Stärkung“, sagte Cangoo und hoppelte mit zwei großen Sprüngen in die Küche. Kurz darauf duftete es in der ganzen Wohnung nach geschmolzener Butter.

Kira und das Känguru

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