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Ein neuer Freund

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Sein Talent zum Malen entdeckte Watahulu durch Zufall. Eines Nachts, als schon alle im Bett waren und er als Einziger nicht schlafen konnte, schlich er sich im Dunkeln in das Atelier meines Vaters. Dort blieb er vor der halb mit Farben bedeckten Leinwand stehen, tunkte dann seinen Rüssel in die Farbpalette und trug etwas Rot und Blau auf. Das Ergebnis gefiel ihm so gut, dass er gleich darauf noch einen gelben Kreis und ein grünes Quadrat dazu malte. Schließlich vergaß er die Zeit und all seine Sorgen und malte die ganze Nacht wie im Rausch. Erst als die frühe Morgensonne ihre ersten Strahlen ins Atelier warf, legte Watahulu gähnend den Pinsel beiseite und torkelte hundemüde und in seiner vollen Größe in den Kleiderschrank, wo er noch im Stehen einschlief. Am nächsten Vormittag, als ausnahmsweise alle ordentlich am Frühstückstisch saßen, sogar Alberts Hülle, kam mein Vater wutschnaubend in die Küche. Unterm Arm trug er ein fertiges Ölbild, das leuchtete, als wäre ein Stern auf die Erde gefallen und hätte dort alles in Licht getaucht. „Wer von euch war das?“, rief er wütend. Cangoo warf einen kurzen Blick auf das Werk, widmete sich dann aber wieder konzentriert seinem elften Brötchen, das er dick mit Himbeermarmelade bestrichen hatte. „Wer von euch war das?“, wiederholte mein Vater noch einmal drohend. Watahulu, der nach dieser anstrengenden Nacht immer noch sehr müde war, sich aber extra den Wecker gestellt hatte, damit niemand ihm auf die Schliche kam, zog kleinlaut seinen Rüssel ein und hielt den Atem an. Ich sah mir das fertige Bild genauer an und legte mein Brötchen auf den Teller zurück. „Das sind sehr schöne Farben.“ Verdutzt musterte nun auch mein Vater das Bild genauer. „Du hast Recht“, stimmte er mir schließlich bei. „Es ist wirklich gelungen.“ Wohlwollend sah er in die Runde und fragte mit viel sanfterer Stimme als vorher: „Also, wer von euch hat das gemacht?“

„Watahulu zum Beispiel“, rief Cangoo kauend. „Der hat die ganze Nacht rumtrompetet und total genervt.“ Alberts Hülle hüpfte bestätigend auf und ab. „Ist das wahr?“, fragte mein Vater und sah Watahulu forschend an. Dieser hob kleinlaut den Rüssel und gab ein leises Quietschen von sich. Mein Vater klopfte ihm anerkennend auf den Rücken. „Du hast Talent, mein Junge. Eine Menge Talent.“

„Wenn hier jemand Talent hat“, rief Cangoo dazwischen, „dann ja wohl zum Beispiel ich.“ Mein Vater sah ihn tadelnd an und wandte sich wieder an Watahulu, der sein Glück immer noch nicht fassen konnte. Eine Woche später wurde das Bild, das mein Vater inzwischen gerahmt hatte, teuer an den Chef einer großen Autofirma verkauft. In den nächsten Wochen bekam mein Vater einen Auftrag nach dem anderen. Inzwischen malte Watahulu alle Bilder, und mein Vater kümmerte sich darum, dass immer genügend große Leinwände im Haus waren. Denn Watahulu brauchte viel Platz, wenn er seinen Rüssel in die Farben tauchte und diese dann auf die Leinwand klatschte. Sobald wieder ein Bild fertig war, rahmte mein Vater es und kümmerte sich um den Verkauf. Fast jede Nacht saßen die beiden zusammen im Atelier. Mitte April hatte mein Vater schon zwanzig Bilder verkauft und überlegte, ob wir uns nicht eine größere Bleibe suchen sollten. Eines Tages las er in der Zeitung, dass die alte Villa am Seerosenteich abgerissen werden sollte, da sich immer noch kein Mieter dafür gefunden hatte. Ich wurde ganz aufgeregt. „Wenn wir die kaufen und renovieren, wäre doch Platz genug für uns alle dort.“ Mein Vater nickte. „Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.“ Da Watahulu immer mehr Zeit im Atelier verbrachte, wenn er nicht gerade badete oder im Internet Noten lernte, denn er wollte unbedingt mit seinem Rüssel Trompete spielen lernen, langweilte Cangoo sich von Tag zu Tag mehr. Er überlegte, wo er auf die Schnelle einen neuen Freund herkriegen konnte. Einen richtigen Freund. Nicht so einen, der die ganze Zeit nur las oder Bilder malte. Einen Freund nur für sich allein, den er nicht mit den anderen teilen musste und den ihm keiner wegnehmen konnte. Am besten wäre jemand, der so hässlich ist, überlegte er, dass niemand etwas mit ihm zu tun haben will. Oder jemand, vor dem alle Angst hatten, weil er so gefährlich ist. Vielleicht ein wilder Löwe, ein weißer Hai, eine bissige Hyäne oder eine Giftschlange? Plötzlich hatte er einen Geistesblitz: Ein Krokodil musste her! Das war’s. Noch am selben Abend wartete Cangoo ab, bis Watahulu und mein Vater im Atelier verschwunden und alle anderen schlafen gegangen waren. Dann tappte er auf leisen Pfoten ins Arbeitszimmer, schaltete den Computer ein und suchte sich im Internet das hässlichste Krokodil heraus, das er finden konnte. „Total verrückt“, murmelte er vor sich hin. „Du bist zum Beispiel so unansehnlich, dass alle vor Schreck die Flucht ergreifen, wenn sie dich zu Gesicht bekommen.“ Keine fünf Minuten später hatte er das Krokodil aus dem Internet befreit. Ihm war selbst etwas mulmig zumute, als er es jetzt plötzlich vor sich auf dem Boden entlangrobben sah. Dann entschloss er sich, seine Angst über Bord zu werfen, kramte einen Zollstock heraus und maß das Krokodil der Länge nach ab. „Vier und ein halber Meter“, stellte er zufrieden fest. „Wetten, dass alle vor Angst schlottern, wenn sie dich morgen früh sehen?“ Das Krokodil, das noch kein Deutsch konnte, sah ihn völlig durcheinander an und riss sein Maul auf. Eine Unmenge spitzer Zähne, die in mehreren Reihen nebeneinander standen, war zu sehen. „Du hast wohl Hunger?“, fragte Cangoo, zog, weil er selbst nicht gefressen werden wollte, schnell fünfzehn rohe Fische aus seinem Beutel und warf sie dem Krokodil ins Maul. Das Krokodil schluckte sie herunter ohne ein einziges Mal zu kauen. Dann sah es Cangoo so an, als warte es auf Nachschub. „Total verrückt“, murmelte Cangoo wieder. „Mehr kriegst du aber erst, wenn wir Freunde sind.“ Mit diesen Worten überließ er das Krokodil einfach sich selbst und hüpfte ins Nebenzimmer auf seinen Himbeerbonbon, wo er auf der Stelle einschlief. Als er aufwachte, war es schon zwölf Uhr mittags. Nachdem er noch einmal herzhaft gegähnt hatte, traute er kaum seinen Augen. Alle, sogar Alberts Hülle, standen um das Krokodil herum und tätschelten ihm den gepanzerten Rücken. „Es ist traurig“, erklärte Watahulu bedauernd. „Wer ist zum Beispiel traurig?“, fragte Cangoo und hüpfte mit einem Satz mitten in die Runde. Ich deutete auf das Krokodil. „Da. Es weint.“

„Blödes Vieh“, murmelte Cangoo in sich hinein und zischte dem Krokodil leise zu. „Hab ich dir nicht extra eingebläut, dass du gefährlich gucken sollst?“ Beim Anblick des Kängurus begann das Krokodil jedoch noch heftiger zu schluchzen, bis es schließlich am ganzen Körper zitterte. Watahulu hatte keine andere Wahl, als es so lange mit seinem farbbeklecksten Rüssel zu kitzeln, bis die Tränen versiegt waren. „Weiß jemand, wer das arme Tier in diesen Zustand versetzt hat?“, fragte mein Vater. Cangoo, der sich für seine Mitternachtsaktion inzwischen doch ein bisschen schämte, schüttelte betreten den Kopf. „Vielleicht hat es Hunger“, quietschte Watahulu. „Was mögen Krokodile denn am liebsten?“

„Löwen, Zebras, Kühe und manchmal auch Kängurubraten“, sagte mein Vater mit einem Seitenblick zu Cangoo. Denn ihm war schon von Anfang an klar gewesen, dass Cangoo lange nicht so unschuldig war, wie er tat. „Totaler Quatsch“, begehrte Cangoo etwas kleinlaut auf. Denn ihm wurde die Sache jetzt doch ein bisschen unheimlich. „Der Typ frisst bestimmt nur Wurzeln und Gras.“

„Ja, solange sie aus Fleisch sind“, sagte mein Vater, ging in die Küche und kam mit einer Platte roher Steaks zurück. Dankbar schnappte das Krokodil danach und vergaß sogar seinen Kummer über diesem unerwarteten Genuss.

In den kommenden Wochen versuchten wir geduldig, dem Krokodil, das bisher nur eine Mischung aus Suaheli und Arabisch gesprochen hatte, Deutsch beizubringen. Wegen seiner Abstammung hatten wir es auf den Namen Orinoko getauft. Aber alle nannten es nur Noko. Mitte April beherrschte Noko unsere Sprache schon so gut, dass wir uns ohne Probleme unterhalten konnten. Wie sich herausstellte, war es am Nil aufgewachsen, nachdem seine Eltern wegen einer Hochwasserkatastrophe aus Indonesien ausgewandert waren. Danach hatte man sie zu Taschen und Schuhen aus Krokodilleder verarbeitet. Im Gegensatz zu Watahulu konnte Noko Wasser nicht leiden und fing schon an, am ganzen Körper zu zittern, wenn jemand nur Badewasser einlaufen ließ. Albert erklärte Cangoo und Watahulu, dass Noko wahrscheinlich traumatisiert sei. „Traumati... Was?“, fragte Cangoo stirnrunzelnd nach. „Es hat wahrscheinlich mal etwas Schlimmes im Wasser erlebt“, klärte Watahulu Cangoo auf. „Vielleicht haben seine Eltern ihn gegen seinen Willen reingeworfen, als er noch nicht schwimmen konnte.“

„Totaler Quatsch“, erwiderte Cangoo überzeugt. „Ein Krokodil, das Angst vor Wasser hat. So was gibt’s zum Beispiel überhaupt nicht.“

„Und wenn doch?“, fragte Watahulu.

„Dann muss es eben schwimmen lernen“, rief Cangoo. „Denn wovor man zum Beispiel Angst hat, das muss man extra tun. Sonst wird die Angst immer schlimmer.“

Kira und das Känguru

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