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Watahulu und die Dichterlesung

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Seinen ersten richtigen Freund, einen Elefanten, fand Cangoo, als er eines Abends Anfang März durchs Internet kurvte. Er war auf der Suche nach tropischen Früchten und landete dabei in Südafrika. Watahulu erzählte Cangoo, dass er unbedingt eine klimatische Veränderung bräuchte. Als die beiden auf meiner Homepage ankamen, die ich inzwischen eingerichtet hatte, verkleinerte Albert ihn und Cangoo mit einem Zauberspruch, sodass beide ganz leicht aus dem Bildschirm herauskriechen konnten. „Vergrößere mich wieder“, bat Watahulu ihn, als er in Miniaturformat auf meinem Schreibtisch herumspazierte. „Mich auch!“, rief Cangoo. „Kehrt schnell zurück in eure Gestalt. Nach dem langen Gewirr im Kabelwald“, rief Alberts dünnes Stimmchen und zauberte beide wieder auf ihre normale Größe zurück. Obwohl mein Vater Elefanten mag, war er am Anfang dagegen, Watahulu bei uns aufzunehmen. Aber Cangoo drängelte so sehr, dass er sich erweichen ließ. Bedrückt überlegte mein Vater, dass wir Watahulu unmöglich zumuten konnten, in unserem winzig kleinen Haus zu übernachten. Außerdem fragte er sich besorgt, ob der Boden nicht durchbrechen würde bei den 600 Kilo, die er ungefähr wog. „Kein Problem“, beruhigte Cangoo ihn, als hätte er seine Gedanken erraten. „Albert kann ihn ja ab und zu verkleinern. Und im Garten ist auch Platz.“

„Und was soll er fressen?“ Soviel ich wusste, fraßen afrikanische Elefanten mindestens hundert Kilo am Tag. Und mein Vater dachte mit Schrecken an unsere Wasserrechnung, falls Watahulu mal keine Lust hatte, Wasser aus dem Internet zu trinken. „Am liebsten mag er Traubenzuckerbonbons“, sagte Cangoo versonnen. „Und Bananen.“ Bald zeigte sich, dass Watahulu nicht nur Bananen mochte, sondern auch klassische Musik. Jedes Mal, wenn mein Vater ein Geigen- oder Klavierkonzert auflegte, spitzte er seine großen Ohren und hob seinen Rüssel anerkennend ein Stück hoch. Wenn er gut gelaunt war, trompetete er zum Leidwesen von Cangoo alle Melodien mit, denn er hatte ein phänomenales Gedächtnis und erinnerte sich an jede Note, die er gehört hatte. Aber er war ziemlich schüchtern, und es musste schon viel passieren, bis er mal einen Satz zusammenbrachte. Wir nahmen ihn bei unseren Spaziergängen immer mit zum See. Für Watahulu gab es kein größeres Vergnügen, als sich in die Fluten zu stürzen und fröhlich schnaubend eine Weile im Wasser zu plantschen. Als er ein wenig Vertrauen zu uns gefasst hatte, erzählte er uns, dass er südlich der Sahara aufgewachsen war. Landwildjäger hatten seine Eltern wegen ihrer Stoßzähne getötet. Jedes Mal, wenn er daran dachte, dass Teile seiner Eltern zu Schmuckstücken und Elfenbeinschnitzereien verarbeitet worden waren, schauderte es ihn und Krokodilstränen flossen aus seinen Augen. Dann hatten wir die größte Mühe, ihn wieder aufzumuntern. Nur der Gedanke an ein echtes Schlammbad versetzte ihn in bessere Laune.

Bei unseren täglichen Parkspaziergängen zogen wir es vor, ihm eine Tarnkappe aufzusetzen, die Albert erfunden und ihm geschenkt hatte. Denn er fraß mit Vorliebe Wiesen kahl und zerkleinerte alle Äste, an die er herankam. Sogar unser Gemüse und Brot mussten wir vor ihm in Sicherheit bringen, weil er beides fast noch lieber mochte als Traubenzuckerbonbons und nicht mehr zu halten war, wenn er ein Stück Spargel oder eine Sellerieknolle entdeckte. Eines Tages bat er Albert, ihm etwas aus seinen philosophischen Büchern vorzulesen und hörte ganz versunken zu. Denn er hatte in seinen jungen Jahren schon vieles erlebt und war froh, dass er nun einiges davon verstand. Cangoo ärgerte diese Zuneigung zwischen den beiden. Eifersüchtig versteckte er eines Tages die Tarnkappe, sodass Watahulu auf seinen täglichen Parkspaziergang verzichten und sich stattdessen Wälder im Internet heraussuchen musste, in denen er spazierengehen konnte. Ein Känguru ging ja gerade noch so. Aber ein Känguru und ein Elefant ... Wahrscheinlich hätten uns die meisten Leute ziemlich blöd angesehen, wenn sie uns mit beiden zusammen im Park gesehen hätten. Jedenfalls fühlte Watahulu sich von Tag zu Tag wohler bei uns. Um ihn wieder auf seine Seite zu ziehen, brachte Cangoo ihm eines Morgens im April zehn rohe Fische aus dem Internet mit. Weil er nicht undankbar erscheinen wollte, verkleinerte Watahulu sie und würgte sie herunter. Aber eigentlich war er Vegetarier und aß aus Prinzip nichts, was ein Gesicht hatte. Obwohl wir ihm einen großen Traubenzuckerbonbon zum Schlafen besorgt hatten, übernachtete er lieber im Kleiderschrank. Zwischen all den Hemden, Kleidern und Pullovern fühlte er sich pudelwohl und nahm dafür sogar in Kauf, dass Albert ihn nachts verkleinerte. Eines Morgens vergaß Albert vor lauter Zerstreutheit die Zauberformel, mit der er Watahulu wieder vergrößern konnte. So kam es, dass Watahulu die Welt einen ganzen Tag lang aus einer anderen Perspektive erlebte. Zum Glück fiel Albert die Zauberformel später wieder ein und er beamte Watahulu, der schon ungeduldig wurde, eilig auf seine ursprüngliche Größe zurück. Streit und Diskussionen mochte Albert nämlich überhaupt nicht. Im Gegensatz zu Cangoo der immer auf der Jagd nach etwas Essbarem war, war Albert schon zufrieden, wenn er ruhig am Fenster entlangschweben und dabei ungestört ein Buch lesen konnte. Eines Nachmittags im März, als Albert und Watahulu sich gerade wieder über die Frage unterhielten, warum man auf der Welt ist, warf Cangoo wütend einen Atlas an die Wand. „Wieso redet ihr immer so einen totalen Quatsch, der niemanden interessiert?“, stieß er wütend zwischen zwei Bissen Forelle hervor. Watahulu, der solche Ausbrüche von Cangoo nicht gewohnt war, zog eingeschüchtert seinen Schwanz ein, während Albert sich auf der Stelle unsichtbar machte, sodass nicht mal mehr seine Hülle zu sehen war. Angriffslustig funkelte Cangoo Watahulu an und boxte mit den Vorderpfoten. „Sag schon. Was soll der Blödsinn?“ Ein langes Schweigen entstand. Dann klapperte Watahulu mit den Ohren. „Wir denken, also sind wir“, erwiderte er leise, aber mit Nachdruck. „Totaler Quatsch!“, schrie Cangoo. „Wer denkt? Wer ist? Was soll das? Habt ihr nichts Besseres zu tun?“ Da Cangoo immer wütender wurde, mischte mein Vater sich ein. „Jedem das seine“, versuchte er, Cangoo zu beruhigen. „Wenn Watahulu und Albert denken wollen, dann lass sie denken.“

„Ich will aber nicht, dass sie die ganze Zeit denken!“, rief Cangoo, immer noch aufgebracht. „Zu viel Denken macht doof.“ „Warum setzt du dich nicht einfach zu uns und unterhältst dich mit uns über Bücher?“, fragte Watahulu, der wieder etwas Mut gefasst hatte. „Dein Beitrag könnte sehr wertvoll für uns sein.“ So kam es, dass Cangoo kurze Zeit darauf seine erste Dichterlesung im Internet plante. Um sich auf seine große Lesung vorzubereiten, aß er vier dicke Bücher. Eins davon war in Leder gebunden und ziemlich ungenießbar. Aber er dachte, was Albert kann, kann ich schon lange. Anfang März verschickte er jede Menge E-Mails an verschiedene Tierorganisationen, in denen er auf seine erste Dichterlesung aufmerksam machte. Denn er fand, es war an der Zeit, seine Gedichte nun endlich vor einem großen Publikum vorzutragen. Außer Watahulu, Albert und einigen Buschkängurus waren auch noch ein paar Pferde, Eichhörnchen, Esel, Zebras und Giraffen unter den Zuschauern. Cangoo hatte sich extra für diesen Anlass einen roten Anzug mit schwarz-weiß gepunkteter Fliege gekauft und trat nun so ans Podium in dem großen Internettheater, das er für seine Lesung gemietet hatte. Schlagartig wurde es still im Saal. Cangoo rückte seine Fliege zurecht und trat ans Mikrophon. „Ich bin Cangoo“, stellte er sich vor. Das Publikum wartete gespannt ab. Eine Giraffendame beugte sich zu ihrem Zebra-Nachbarn vor und flüsterte: „Ich bin schon sehr gespannt auf die Lesung. Wie man hört, hat Cangoo enorm viel Talent.“ Andächtig nickte das Zebra. Mit wichtigem Gesichtsausdruck schlug Cangoo ein rotes Buch aus Leder auf und rückte seine Lesebrille zurecht, die er extra gekauft hatte, obwohl er eigentlich auch ohne Brille gut sehen konnte. Im Saal herrschte atemlose Stille. Cangoo blickte auf das voll geschriebene Blatt vor sich, das Albert in Schönschrift für ihn notiert hatte. Mit einem Mal merkte er, dass er trotz der vier Bücher, die er mit Müh und Not heruntergewürgt hatte, nicht lesen konnte. Die Zuschauer sahen ihn voller Erwartung an und schwiegen andächtig. Nur ein Pferd mit langer, brauner Mähne räusperte sich und blickte dann entschuldigend um sich. Cangoo sah ins Publikum. „Ich bin Cangoo“, sagte er noch einmal bedeutungsvoll. Watahulu flatterte unruhig mit den Ohren und quietschte leise. Ein weiteres, langes Schweigen folgte. Ein braun-weiß gestreiftes Gnu flüsterte einem Eichhörnchen neben ihm zu: „Was hat das zu bedeuten?“ „Keine Ahnung“, erwiderte das Eichhörnchen, das an einer Haselnuss knabberte. „Vielleicht ist das moderne Kunst?“ Als eine weitere Viertelstunde vergangen war, ohne dass jemand ein Wort sagte, rückte Cangoo seine Fliege zurecht und verbeugte sich. „Das war’s“, verkündete er. Einen Augenblick lang war die Stille im Saal fast unheimlich. Dann folgte tosender Applaus. Die Pferde, Esel und Zebras trommelten anerkennend mit ihren Vorderpfoten auf dem Parkett und wollten gar nicht mehr aufhören. Die Eichhörnchen warfen wohlwollend Nüsse auf die Bühne, und die Tauben stimmten eine Lobeshymne an. Nur Watahulu wischte sich mit seinem Rüssel verstohlen ein paar Schweißtropfen von der Stirn, als Cangoo mit stolzgeschwellter Brust die Bühne verließ.

„Wie wär’s, wenn du in die Schule gingest und Lesen und Schreiben lerntest?“, schlug mein Vater Cangoo zwei Tage nach diesem denkwürdigen Ereignis vor. Denn die anderen hatten uns von seiner Dichterlesung erzählt. „Bücher zu essen reicht nicht, wenn man klug werden will. Außerdem sind sie schlecht bekömmlich“, sagte mein Vater. „Schule ist zum Beispiel total langweilig“, antwortete Cangoo und stopfte sich ein Schinkenbrot ins Maul. Mit Schaudern dachte er an den dicken Ledereinband, den er gegessen hatte, um schnell lesen zu lernen. Ihm war noch tagelang danach speiübel gewesen. „Aber du könntest dann bei deiner nächsten Lesung ein richtiges Gedicht vortragen. Ein etwas längeres“, mischte ich mich ein. Cangoo runzelte gedankenvoll die Stirn. Dann winkte er ab. „Ich bin doch schon weltberühmt. Meine Lesung war ein totaler Erfolg.“ Wie ein Gorilla klopfte er sich mehrere Male auf die Brust „Das war doch gar keine richtige Lesung“, wandte Watahulu etwas ängstlich ein, denn er wollte Cangoo nicht verstimmen. Cangoo stopfte sich zwei Bananen ins Maul. „Hat doch keiner gemerkt.“ Alberts Hülle schwebte tadelnd durchs Zimmer. Obwohl er nichts sagte, war er scheinbar auch der Meinung, dass Cangoo lesen lernen sollte. „Jetzt ist Schluss mit der Faulenzerei“, beendete mein Vater die Diskussion. „Ab nächsten Monat wird in die Schule gegangen.“ Seine Stimme klang so energisch, dass niemand, nicht einmal Cangoo, zu widersprechen wagte.

Kira und das Känguru

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