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8 Das Totenhaus

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Ich zögerte einen Augenblick, denn ich kannte diesen Geruch und das Grauen, das damit einherging.

»Mir wird schon nichts fehlen«, sagte ich und schlug den angebotenen Arm aus, als wir eintraten.

Es war ein großer Raum mit niedriger Decke, nachlässig geweißt und von flackernden Glühstrümpfen an fensterlosen Wänden erhellt. In der Mitte waren ein Dutzend schmale Tische aus Kiefernholz aufgereiht, bedeckt jeweils mit einem fleckigen weißen Laken, die Formen darunter unverwechselbar, die Gerüche mir allzu vertraut – frisch geöffnete Leichen, verwesendes Fleisch und die in den Augen brennende, lungenverätzende Schärfe von Karbolsäure.

Der Leichnam eines jungen Mannes lag in der gegenüberliegenden Ecke. Das Laken war von seinem Oberkörper geglitten. Offenbar war er in ein Feuer geraten. Seine Haut war mit Blasen bedeckt und sein Haar verbrannt. Doch es war sein Gesicht, das mich entsetzte. Es war fast bis auf den Knochen verkohlt. Ich sah mich nach einem Halt um, doch es gab keinen. Ich war auf mich allein gestellt.

Wir blieben an einem der Tische in der Mitte stehen.

»Da wären wir.« Parker schlug das Laken zurück, und das gequälte Gesicht einer zahnlosen alten Frau kam zum Vorschein. »Hoppla, Verzeihung. Das ist Mrs Ashton. Ist von einem Leichenwagen überfahren worden.« Wir traten an den nächsten Tisch. »Da sind wir.«

Parker hatte merklich an Schwung eingebüßt, denn er hob nun vorsichtig das Laken, um ein Gesicht zu enthüllen. Auf den ersten Blick schien Sarah Ashby zu schlafen. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Miene friedlich. Das blasse Antlitz umgab ein Glorienschein langen goldblonden Haars, die Lippen waren leicht geöffnet wie zu einem zufriedenen Lächeln. Sie hätte einen schönen Traum haben können, hätte sie an einem anderen Ort gelegen und wäre da nicht dieser Schnitt in ihrer linken Wange gewesen von der Wurzel ihrer kleinen Nase bis fast zum Ohr, der so tief klaffte, dass ihre Backenzähne grässlich durch ein zweites Paar Lippen in den durchtrennten Muskeln grinsten.

Sidney Grice trat näher und zog das Laken ganz zurück. Sarah Ashby war nackt, unwirklich weißhäutig und mit dunklem Blut bespritzt, und zahlreiche schwarze Scharten durchlöcherten ihren Hals und Leib. Er stieß einen lautlosen Pfiff aus.

»Hübsches Ding gewesen, nicht wahr?«

»Schön gründlich geschlitzt«, sagte Parker genüsslich.

»O du armes Ding«, sagte ich.

»Wo sind ihre Kleider?«, fragte Sidney Grice.

»Längst im Verbrennungsofen«, gab Parker zurück, und Sidney Grice fasste ihn scharf in den Blick.

»Was? Alles?«

»Na sicher. Die haben für niemand mehr getaugt in dem Zustand, völlig zerfetzt und blutig.«

Sidney Grice schloss kurz die Augen. »Was für ein Schwachkopf«, sagte er ohne jedes Bemühen, die Stimme zu senken.

»Aber Mr Grice …«

»Haben Sie ihr die Kleider selbst ausgezogen?«

»Natürlich.«

»Was trug sie?«

»Ein graues Kleid mit Fischbeinknöpfen im Rücken.«

»Noch zugeknöpft?«

»Ja.«

»Hochgeschlossen oder tief ausgeschnitten?«

»Hochgeschlossen. Warum?«

Auf dem uneben gefliesten Fußboden hatten sich schmierige Pfützen gebildet, und ich sah, dass Parker vulkanisierte Überschuhe trug.

»War irgendetwas in ihren Taschen?«

Eine langbeinige Spinne lief über Sarah Ashbys Arm und glitt an ihrem Faden zu Boden.

»Nichts von Wert.«

»Was denn?«

»Keine Ahnung. Ein Taschentuch. Ein Stück Lakritze. Hab ich gegessen. Sie hat’s nicht gebraucht, und ich hab’s vorher abgewischt.«

»Haben Sie schon mal von Bazillen gehört?«, fragte ich, und Parker grinste.

»Ja, und von Feen auch, bin aber noch keinem begegnet, der eine gesehen hätte.«

»Trug sie Unterwäsche?«, fragte mein Vormund.

»Ja.«

»Oben und unten?«

Parker sah zu Boden. »Bitte, Mr Grice. Eine Dame ist anwesend.«

»Sie werden es kaum glauben«, teilte ich ihm mit, »aber mir ist durchaus bekannt, dass Frauen Unterwäsche tragen.«

Sidney Grice grunzte und fragte: »Beides?«

»Ja, beides.« Parker scharrte mit den Füßen. »Aber kein Korsett.«

»Und haben die Risse in ihren Kleidern zu den Wunden gepasst?«

»So weit ich mich erinnere, ja, aber ich …« Parker ließ den Mund offen stehen.

»Sie haben also nicht mehr Wunden als erwartet gefunden?«

»Nein, ich denke nicht.«

»Nein. Sie denken nicht«, beschied ihn Sidney Grice, um seine Aufmerksamkeit wieder auf Sarah Ashby zu richten und ihre linke Hand in seine zu nehmen.

»Was für puppenhafte Finger.« Er bog und streckte sie alle zugleich, verdrehte dann einen nach dem anderen und ruckelte daran.

Seine Nägel waren säuberlich kurz gefeilt. Er schien ganz in Gedanken. Sarah Ashbys Nägel waren schartig, aber sauber.

»Wo ist ihr Ehering?«, fragte ich.

»Sie trug keinen«, sagte Parker.

»Aber der Finger hat einen weißen Streifen.«

»Dafür kann ich nichts«, antwortete Parker. »Hätte sie irgendwelchen Schmuck getragen, hätte ich den vorschriftsmäßig abgegeben. Mr Grice kennt mich gut genug, um das zu wissen.«

»Was ist das?« Sidney Grice hob ihre rechte Hand. »Sehen Sie das?«

Der Nagel ihres rechten Zeigefingers war eingerissen, und etwas hatte sich dort verfangen.

»Sieht aus wie ein Haar«, sagte ich.

Sidney Grice klemmte sich einen Zwicker auf die Nase.

»Kein Haar.« Er legte ihre Hand ab, holte eine kleine Stahlpinzette und einen weißen Umschlag aus seinem Ranzen, nahm ihre Hand wieder hoch und zupfte etwas los. »Schauen Sie.« Er hielt es ins Licht.

»Ein gelber Faden«, sagte ich, als er ihn in den Umschlag tat, die Lasche anleckte und verschloss und einen Vermerk auf die Rückseite kritzelte.

Sidney Grice ging in die Hocke und hob Sarah Ashbys Haar, um eine hässliche Fleischwunde an ihrer Kehle zu untersuchen. Sie verlief quer unter ihrem linken Kiefer.

»Das ist jetzt sehr wichtig, Parker«, sagte er. »Ist die Leiche überhaupt gewaschen oder abgewischt worden?«

»Nein. Ist nicht meine Aufgabe, und die Frauen waschen nur die Leichen, wenn Verwandte oder andre solche Leute das wollen.«

»Sind Sie sicher?«

Parker nickte.

»Das ist eine erhebliche Wunde«, sagte Sidney Grice.

Ich stimmte zu. »Aber daran ist sie nicht gestorben.«

Sidney Grice wandte sich mir zu. »Weiter!«

»Ich hab etwas Ähnliches schon einmal gesehen, als zwei Schildwachen vor der Kaserne in Bombay über ein Mädchen in Streit gerieten. Ich half meinem Vater, die Wunde zu nähen. Für einen tödlichen Kehlschnitt müssen die dicken Muskelstränge über der Halsschlagader oder der Drosselvene durchtrennt werden. Der hier geht nicht tief genug.«

»Ganz recht«, sagte Sidney Grice. »Woran ist sie also gestorben?«

»Ich bin nicht sicher. Sie hat so viele Wunden.«

»Vierzig«, sagte Parker. »Hab sie gezählt.«

»Wundert mich, dass er’s kann«, murmelte Sidney Grice und deutete auf eine Wunde unter Sarah Ashbys linker Brust, einen ovalen Krater von rund fünf Zentimetern Durchmesser. »Das war die Ursache. Reichen Sie mir meine Tasche, Miss Middleton.«

Er packte einen dünnen, an beiden Enden abgeflachten Stahlspatel aus und führte ihn behutsam in das Loch ein. »Sehen Sie, wie weit er gleitet? Das sind gut fünfzehn Zentimeter. Die Klinge wird durch Bauchdecke und Zwerchfell gedrungen sein, geradewegs hinauf ins Herz. Sie war sofort tot. Außerdem verläuft der Stichkanal leicht nach links abgewinkelt, wir suchen also nach einem linkshändigen Mörder. Helfen Sie mir, sie umzudrehen, Parker.« Die beiden Männer wuchteten Sarah Ashby auf ihre rechte Seite. »Sie stehen mir im Licht, Miss Middleton.«

»Entschuldigung.« Ich stellte mich auf einen schmierigen Fleck am unteren Ende des Tischs, während er erneut mit den Fingern durch ihr Haar fuhr.

»Ganz wie ich dachte«, sagte er. »Eine leichte, dellenförmige Fraktur des Hinterkopfes, aber keine Rückenverletzungen.« Sie brachten sie wieder in Rückenlage. »Was haben wir also? Eine Wunde im Gesicht, eine im Hals und achtunddreißig Wunden in Brust und Bauch, eine davon tödlich. Fällt Ihnen etwas auf, Miss Middleton?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Es sind zwei deutlich verschiedene Typen.« Er wies mit dem Spatel auf die Leiche. »Lange Schnitt- und kleinere Stichwunden. Die Einstiche sind ungewöhnlich. Wird in Haut geschnitten, pflegt sie sich ja erst zu verziehen und dann wieder zurückzuschnellen, doch hier haben wir eher wellige Konturen. Sie können das recht gut an der Schulter sehen, wo das Gewebe fester ist. Beinahe s-förmig.«

Sidney Grice trat zu den Füßen der Leiche.

»Das ist sonderbar.« Er bückte sich. »Ihr großer Zeh ist gequetscht. Hat sie Stiefel getragen, Parker?«

»Keine Stiefel oder Strümpfe«, sagte Parker.

»Sind Sie sicher?«

»So sicher wie Eier keine Kartoffeln sind. Was tun Sie da?«

Sidney Grice zerrte Sarah Ashbys Knie auseinander. Er beugte sich vor.

»Haben Sie denn gar keine Ehrfurcht?« Parker wand sich angewidert, während sich Sidney Grice leicht seitwärts verlagerte.

»Keinerlei Anzeichen einer Vergewaltigung«, bemerkte er.

»Um Gottes willen.« Parker hielt sich seine schmutzige Rechte vor den Mund und wich einen Schritt zurück.

»Wissen Sie, was ich denke?«, fragte Sidney Grice und richtete sich auf.

»Nein«, sagte ich.

»Ich denke, es ist Zeit zu gehen.«

»Soll mir sehr recht sein«, sagte Parker und wischte sich die speckigen Handflächen an seiner noch speckigeren Jacke ab.

»Zur Mangle Street?«, fragte ich.

»Nach Hause.« Mein Vormund zog ein Stück Seife und ein kleines Handtuch aus seinem Ranzen. »Es ist zu spät, um noch nach Whitechapel zu fahren. Im Dunkeln würden wir Spuren übersehen oder gar vernichten. Nein, Miss Middleton, ich dachte an eine schöne Tasse Tee. Außerdem sehen Sie so aus, als könnten Sie einen Bissen vertragen.« Er ging zum Wasserhahn an der Wand hinüber.

»Hätte selber nichts dagegen«, warf Parker ein.

»Dann will ich Sie nicht länger aufhalten«, sagte Sidney Grice, während er sich die Hände abtrocknete und seine Sachen einpackte.

»Nein, ich meinte …«

»Ich bin mir wohl bewusst, was Sie meinten.« Sidney Grice legte ein paar Münzen in Parkers Hand.

»Besten Dank auch, Mr Grice.«

»Und sollte sich dieser Hochstapler Cochran zeigen, lassen Sie ihn ja nicht in ihre Nähe.« Sidney Grice wandte sich mir zu. »Vergangenen Monat erst hat er sich meinen geköpften Architekten unter den Nagel gerissen und im Evening Standard zwei Seiten für einen Fall bekommen, den selbst Sie hätten lösen können.«

»Dann muss es blödsinnig leicht gewesen sein«, sagte ich.

Mein Vormund breitete das Laken über Sarah Ashby, hielt aber vor ihrem Kopf kurz inne.

»Ein Engelsgesicht.« Er ließ das Laken fallen.

»Haben wir die Inspektion bestanden?«, fragte Parker, als er uns zur Tür brachte.

Draußen schwand schon das Licht, und ich war froh, dass es kalt war. Mein Zittern konnte als Frösteln durchgehen.

Mord in der Mangle Street

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