Читать книгу Mit Herz und Recht - Natalie Weckwarth - Страница 6

§ 2

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Kaum habe ich die Tür meines Büros hinter mir geschlossen, spüre ich, wie sich meine Kehle so feste zuschnürt, dass ich beinahe keine Luft mehr bekomme. Normalerweise kann ich mich sehr gut beherrschen. Ich bin kein Mensch, der schnell weint. Heute kostet es mich viel Kraft, nicht die Kontrolle zu verlieren. Krampfhaft bemühe ich mich, die Tränen zu zügeln, und komme mir an meinem Arbeitsplatz so verloren vor wie nie zuvor.

Ein Klopfen an der Tür lässt mich schließlich zusammenfahren, nachdem ich minutenlang bewegungslos aus dem Fenster in den Regen gestarrt habe. Benommen drehe ich mich um. Es ist Richter. Wer sonst? Ungefragt tritt er ein. Ich nehme all meine Kraft zusammen und schlucke den gewaltigen Kloß in meinem Hals herunter.

„Ja?“, frage ich. Meine Stimme hört sich hohl an, aber wenigstens zittert sie nicht. Ganz gleich, was er mir zu sagen hat, ich muss in jedem Fall Haltung bewahren.

„Frau Herz, dürfte ich erfahren, was Ihr Auftritt gerade eben zu bedeuten hatte?“

Das fragt er noch? Hat er vielleicht geglaubt, ich würde ihm vor Dankbarkeit, dass er sich gegen mich entschieden hat, um den Hals fallen?

„Tja, Ihre … Neuerungen kamen für mich etwas überraschend“, antworte ich sarkastisch.

Seine Augenbrauen schieben sich nach oben. „Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass ich es gleich nach den Ferien offiziell machen würde.“

„Da wusste ich auch noch nicht, dass Sie Ihren nie erwähnten Neffen aus dem Hut zaubern würden!“ Erschrocken beiße ich mir auf die Lippen. Seinen Vorgesetzten anzubrüllen fällt ganz sicher nicht unter „Haltung bewahren“.

„Es bestand bisher auch keine Notwendigkeit, ihn zu erwähnen“, erwidert er, keineswegs zornig, sondern mit diesem sanft-beruhigenden Unterton, den im Film die Polizisten anschlagen, wenn sie zu einem Gangster sagen: „Nehmen Sie die Waffe herunter!“ Auf mich wirkt er alles andere als beruhigend.

„Könnten Sie mir dann bitte mal erklären, was unsere Gespräch vor den Ferien zu bedeuten hatte? Warum Sie mich gefragt haben, ob auf mich Verlass sei?“, presse ich wütend hervor.

„Ich wollte einfach sichergehen, dass Sie uns noch eine Weile erhalten bleiben.“

„Warum sollte ich Ihnen nicht erhalten bleiben?!“

„Nun ja … Sie haben jetzt einige Jahre bei uns gearbeitet, da wäre es nicht verwunderlich, wenn Sie vorhätten, sich umzuorientieren. Außerdem sind Sie im besten Alter für die Familienplanung, und ich …“

„Sie wissen ganz genau, dass das für mich nicht zur Debatte steht!“, falle ich ihm ungehalten ins Wort. Oft genug habe ich mehr oder weniger auffällig verlauten lassen, wie ich zu Ehe und Kindern stehe. Er war sich vollkommen bewusst darüber, welchen Stellenwert für mich die Arbeit hat.

„Ansichten können sich ändern.“

„Selbst wenn. Worauf wollten Sie denn hinaus? Wozu wollten Sie wissen, ob ich Ihnen erhalten bleibe, wenn Sie am Ende doch Ihren Neffen zum Partner ernennen?“ Schwere Steine scheinen auf meiner Brust zu liegen, so schwer fällt mir das Atmen, und in meine Stimme hat sich nun doch ein bedrohliches Zittern eingeschlichen.

Verdutzt lacht Richter auf. „Ja, wenn hätte ich denn sonst …“ Er unterbricht sich, als er mein Gesicht sieht, das wahrscheinlich von all der Anstrengung, nicht in Tränen auszubrechen, bereits blau angelaufen ist. „Sie dachten, ich würde Sie …?“ Ich muss nichts sagen. Meine Reaktion ist Antwort genug. „Ach herrje. Da habe ich mich wohl etwas missverständlich ausgedrückt.“

„Kann man so sagen!“, stoße ich verbittert aus.

Immerhin hat er den Anstand, einen zerknirschten Gesichtsausdruck aufzulegen. „Es war nicht meine Absicht, falsche Erwartungen bei Ihnen zu wecken.“

„Genauso wenig, wie es Ihre Absicht war, mir die Stelle zu geben? Haben Sie mich überhaupt je in Erwägung gezogen?“

„Tja ...“ Er weicht meinem Blick aus, streicht sich mit der Hand über die weißgrauen Haare und versenkt sie dann in der Hosentasche. „Natürlich habe ich darüber nachgedacht, aber aus dieser Kanzlei kam niemand ernsthaft infrage.“

Mir entfährt ein fassungsloses Schnauben. Das heißt, ich habe jahrelang auf etwas hingearbeitet, das ich nie hätte erreichen können.

„Sehen Sie, Frau Herz, Sie sind engagiert und ehrgeizig. Wie ich Ihnen schon sagte, ich schätze Sie sehr. Aber Sie sind einfach noch nicht soweit. Sie haben keine sechs Jahre Berufserfahren. Sie haben nicht einmal Ihre Fachanwaltschaft. Sie in Ihrer jetzigen Position zur Partnerin zu erklären wäre unverantwortlich gewesen.“

Bisher hatte ich meinen Chef eigentlich ganz gern. Jetzt empfinde ich bloß noch tiefe Abneigung für diesen Mann, der mir soeben kaltherzig mitgeteilt hat, dass alles, woran ich die letzten Jahre geglaubt habe, eine Illusion war. Ich habe keine Worte mehr. Mit bebendem Atem stehe ich vor ihm und frage mich, wie mich meine Menschenkenntnis so täuschen konnte.

„Ich sage ja nicht, dass Sie kein Potential haben“, versucht er sich einzuschmeicheln. „In zwei, drei Jahren können wir gerne noch einmal darüber sprechen. Wenn ich in Rente bin, könnten Sie eventuell mit Felix zusammen …“ Schnell unterbricht er sich wieder. „Aber das wird sich dann zeigen. Sehen Sie Ihre neue Herausforderung einfach darin, eine gute Mentorin für Frau Weidemann zu werden.“ Er besitzt tatsächlich die Frechheit, mich aufmunternd anzulächeln. Wie ein Kind, das man mit einem Lutscher abspeist, obwohl es viel lieber einen neuen Teddybären gehabt hätte.

Ich will keine blöde Referendarin ausbilden, die wahrscheinlich mehr Lippenstifte besitzt als sich Paragraphen im Grundgesetz befinden, sondern meinen Namen auf dem Türschild sehen, verdammt noch mal! Das sage ich nicht. Aber ich glaube, man kann es in meinem Gesicht ablesen. Zumindest verrutscht sein Lächeln ein wenig.

„Das ist jetzt wahrscheinlich eher ein schwacher Trost. Versuchen Sie bitte trotzdem das Beste daraus zu machen, ja?“, sagt er und fügt in ungewohnt strengem Ton hinzu: „Ich verlasse mich auf Sie, Frau Herz.“ Dann wendet er sich, ohne auf eine Antwort zu warten, zum Gehen.

Noch immer wortlos schaue ich ihm durch die Tür nach, bis er in seinem eigenen Büro verschwunden ist. Diesmal hat er sich so unmissverständlich ausgedrückt, dass sogar ich es verstanden habe: Machen Sie Ihre Aufgabe anständig, sonst habe ich Sie schneller ersetzt, als Sie gucken können. Ich schlucke schwer. Ein frohes, neues Jahr, Stella.

*

Der Rest des Tages zieht wie im Nebel an mir vorüber: Yildiz' neugierige Fragen, was denn bei der Besprechung mit mir los gewesen sei, die ich nur ausweichend beantworte. Die kurze Kanzleiführung und Arbeitseinweisung für Tina Weidemann, die genauso oberflächlich zu sein scheint, wie ich es auf den ersten Blick vermutet hatte. Und die Unterhaltung mit Carsten, der sich von unserem Chef ebenso verraten fühlt wie ich und vorschlägt, wir sollten uns gegen den Neuen verbünden und ihn systematisch boykottieren. Den ich im Übrigen bis zum Feierabend nicht mehr zu Gesicht bekomme. Zusammen mit seinem Onkel hat er sich in dessen Büro verbarrikadiert, wo sie vermutlich dem Partnerschaftsvertrag den letzten Schliff verpassen. Oder ordentlich über mich herziehen, jetzt, wo Richter über meine gescheiterten Ambitionen Bescheid weiß.

In den verbleibenden Stunden bearbeite ich mechanisch meine Fälle und verbiete mir jeden Gedanken, der auch nur im Entferntesten mit der Partnerschaft zu tun hat. Solange ich abgelenkt bin, riskiere ich wenigstens nicht, komplett durchzudrehen, und das ist im Moment das Wichtigste. Ich bleibe sogar freiwillig etwas länger, denn insgeheim habe ich Angst davor, in die Stille meiner Wohnung zurückzukehren, in der die Erinnerungen an die morgendlichen Vorfälle ungehindert auf mich einprasseln werden. Doch irgendwann finde ich keinen Grund mehr, den Feierabend länger hinauszuzögern und schalte meinen Computer ab. Alle anderen sind bereits gegangen. Nur aus Richters Zimmer sehe ich noch Licht scheinen. Unschlüssig bleibe ich am unbesetzten Empfangstresen stehen. Normalerweise gehe ich nie, ohne mich von meinem Chef zu verabschieden. Heute erscheint mir die Vorstellung, mich heimlich aus dem Staub zu machen, sehr verlockend. Falls er Beschwerde einlegt, könnte ich behaupten, ich hätte nicht stören wollen. Ich meine, es wäre doch sehr unhöflich, einfach in eine wichtige Besprechung unter Partnern zu platzen! Dieses unschlagbare Argument beruhigt auch mein Gewissen – ich entscheide mich für die unbemerkte Flucht. Leider genau eine Sekunde zu spät. Gerade, als ich mich in Bewegung setze, öffnet sich die Tür von Richters Büro, und niemand Geringerer als der neue Partner höchstpersönlich tritt heraus. Ich sollte vielleicht entschlussfreudiger werden.

„Zu Ihnen wollte ich gerade“, schwindele ich. „Ich bin dann jetzt weg.“ Kurz hebe ich die Hand zum Abschiedsgruß und steure dann hastig auf den Ausgang zu.

„Warten Sie mal!“

Na klar! Wäre ja auch zu schön gewesen. Widerwillig drehe ich mich um.

„Hätten Sie noch eine Minute?“

Nicht mal dreißig Sekunden.

„Um was geht es denn?“, frage ich ungeduldig und wühle demonstrativ in meiner Tasche nach dem Autoschlüssel. Mr. Armani kommt ein paar Schritte auf mich zu. Seine Lederschuhe klackern dabei leise auf dem Mahagoniparkett. Ich tippe auf italienische Einzelanfertigung.

„Wie ich hörte, war das heute Morgen für Sie ein etwas unglücklicher Start“, sagt er.

„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, erwidere ich barsch. Er ist sicher der Letzte, mit dem ich über diesen „unglücklichen Start“ reden will. Zumal er Verursacher desselben ist.

„Mein Onkel hat mir erzählt, dass es da zwischen Ihnen beiden wohl ein kleines Missverständnis gegeben hat.“

„Das hat sich geklärt.“

„Wie auch immer, ich wollte Ihnen nur noch einmal sagen: Ich hoffe, unserer Zusammenarbeit steht deswegen nichts im Weg.“

Meine Güte, was redet er nur ständig von Zusammenarbeit? Gibt es neuerdings so etwas wie eine Doppelvertretung von Mandanten? Ziehen wir demnächst Hand in Hand vor Gericht? Werden Plädoyers von nun an in Co-Produktion geschrieben? Lächerlich.

„Ich wusste bisher nicht, das Teamwork in unserer Branche einen besonders hohen Stellenwert hat“, entgegne ich und ziehe den Schlüssel aus der Tasche.

Zwischen seinen dunklen, symmetrisch geschwungenen Augenbrauen, bildet sich eine kleine, senkrechte Falte. „Ein gutes Betriebsklima ist doch sicher für alle Beteiligten wünschenswert, oder nicht?

„Das hier ist mein Arbeitsplatz. Nicht meine Familie“, sage ich knapp. „Sonst noch etwas? Ich habe es nämlich eilig.“

Möglich, dass ich mich eine Spur im Ton vergreife. Möglich, dass ich ein wenig überreagiere. Aber dieser Mann lebt jetzt meinen Traum! Was erwartet er denn da von mir? Dass ich ihm die Designerschuhe küsse und mich treu in seinen Dienst ergeben? Das könnte ihm so passen! Seine Stirnfalte ist noch ein bisschen tiefer geworden. Wahrscheinlich ist er es nicht gewohnt, Wiederworte von einer Frau zu bekommen. Ich wette, die meisten himmeln ihn an und sagen zu sämtlichen seiner Äußerungen Ja und Amen.

„Ja. Das war alles.“

„Gut.“ Damit lasse ich ihn stehen und steuere zielstrebig den Ausgang an.

„Schönen Feierabend“, ruft er mir hinterher, aber ich drehe mich nicht noch einmal um. Sonst hätte ich mich womöglich dazu hinreißen lassen, ihm zu antworten, dass er mir den gründlich versaut hat.

*

Irgendwie schaffe ich es nach Hause, ohne die Beherrschung zu verlieren. Erst als ich die Tür meiner Wohnung hinter mir geschlossen habe, ist der Kloß in meinem Hals wieder da. Diesmal gelingt es mir nicht, ihn herunterzuschlucken. Trostlos stehe ich im Flur vor dem Garderobenspiegel und sehe dabei zu, wie stumme Tränen meine Wange herunterrollen und auf meine nagelneuen Schuhe tropfen. Ich biete einen jämmerlichen Anblick in meinem Rock, der von neun Stunden im Bürostuhl vollkommen zerknittert ist, und der Bluse, auf der ich am Ärmel einen kleinen Kaffeefleck entdecke. Das Telefonklingeln reißt mich von meinem unansehnlichen Spiegelbild los. Ich gehe zum Hörer und sehe auf dem Display, dass Luna die Anruferin ist. Kurz zögere ich. Will ich jetzt mit ihr sprechen? Bin ich schon bereit, meine Niederlage einzugestehen? Was soll's? Lieber früher als später.

„Hey.“

„Hallo! Spreche ich da mit der neuen Partnerin von Richter und Herz?“, zwitschert sie in den Hörer.

Warum musste ich ihr auch erzählen, dass ich die Stelle gleich nach Neujahr antreten werde? Wenn ich gesagt hätte, irgendwann im nächsten Jahr, hätte sie es vielleicht im Laufe der Zeit vergessen. Na gut … vielleicht auch nicht. Es wäre mir trotzdem lieber gewesen, sie hätte keinen Anlass gehabt, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen.

Ich räuspere mich, um halbwegs klar sprechen zu können. „Nein.“

„Wie, nein? Heißt es Herz und Richter?“

Mein Hals schnürt sich schon wieder zu. „Luna …“

Spätestens jetzt spürt sie, dass etwas nicht in Ordnung ist. Das Lächeln verschwindet aus ihrer Stimme. „Was ist los?“

„Es … es hat nicht geklappt mit der Partnerschaft.“ Stockend, ständig darum bemüht, nicht loszuschluchzen, berichte ich ihr von den neuesten Entwicklungen in der Kanzlei und dem niederschmetternden Gespräch mit meinem Chef.

„So ein Arsch!“, empört sie sich, nachdem ich geendet habe.

„Harmlos ausgedrückt, ja.“

„Mensch, Stella, das tut mir so leid für dich!“

Im Hintergrund höre ich Matthias fragen: „Was ist passiert?“

„Sie hat den Job nicht bekommen“, murmelt sie ihm zu.

„Scheiße!“

„Matthias tut es auch leid“, übersetzt sie.

„Danke.“

Eine Weile schweigen wir betreten.

„Und von diesem Neffen hast du überhaupt nichts gewusst?“

„Kein Stück! Er hat ja nie von ihm gesprochen. Weißt du, das ist so unfair“, beklage ich mich. „Natürlich habe ich noch nicht viel Berufserfahrung, und ja, ich bin keine Fachanwältin, aber dafür kenne ich die Kanzlei seit Jahren. Ich bin mit allem vertraut, vertrete unser Konzept, kann uns nach außen hin repräsentieren. Ich hatte die allerbesten Voraussetzungen, und dann nimmt er irgendeinen dahergelaufenen Scheidungsanwalt, der die Kanzlei nur vom Hörensagen kennt, bloß weil er mit ihm verwandt ist! Diese Vetternwirtschaft sollte endlich verboten werden!!“

„Meinst du wirklich, er hat ihn nur eingestellt, weil …“

„Ja, was denkst du denn?“, unterbreche ich sie aufgebracht. „Der ist doch kaum älter als ich. Wie viel mehr Erfahrung kann er da schon haben? Vitamin B ist der einzige Grund, warum er jetzt den zweiten Chefsessel besetzt!“ Inzwischen habe ich mich richtig in Rage geredet. „Du hättest ihn sehen müssen. Was der schon anhatte!“

„Was denn?“

„So einen Anzug mit Weste, stellt dir das mal vor! Womöglich maßgeschneidert. Genau wie seine Lederschuhe. Er sah aus wie das wandelnde Klischee eines stinkreichen, verwöhnten Anwaltssöhnchens. Wahrscheinlich hat er sein Leben lang keinen Finger krummgemacht, sondern immer alles schön von seinen Eltern in den Arsch geschoben bekommen!“ Je länger ich darüber nachdenke, desto wütender werde ich. Mir hat niemand auf dem Weg nach oben die Steine aus dem Weg geräumt, indem er ein paar Scheinchen gezückt hat. Meine Mutter hat mir zwar immer den Rücken gestärkt, aber für die Finanzierung meines Studiums war ich selbst verantwortlich. Meinen Job verdanke ich allein meinem Können und nicht der Tatsache, dass ich Familie in der Branche habe, die mich irgendwie durchgeschleust hat!

„Jetzt warte erst mal ab“, versucht meine Schwester mich zu besänftigen. „Vielleicht ist er ja sogar ganz nett.“

„Och, Luna!“, stöhne ich, entsetzt über ihre Naivität. „Solche Typen sind nie nett, glaub mir. Denen bin ich an der Uni zuhauf begegnet. Denen geht es nur darum, Kohle zu scheffeln. Die Mandanten sind ihnen scheißegal. Und was meinst du, warum er Scheidungsanwalt geworden ist? Bestimmt nicht, weil ihm die Menschen am Herzen liegen und er für Gerechtigkeit sorgen will, sondern weil er aus dem Leid anderer Leute Profit schlagen will!“

„Das kannst du gar nicht wissen.“

„So was spüre ich! Mama hat schon recht. Männern kann man einfach nicht trauen!“

„Ach, das ist doch blödes Emanzen-Gequatsche“, erwidert Luna unwirsch, die mit dem Leitspruch unserer Mutter nie besonders viel anfangen konnte. „Nicht alle Männer sind schlecht. Auch wenn du das gerne glauben möchtest.“

„Vielleicht. Aber bei ihm habe ich kein gutes Gefühl.“ Dass auf mein Gefühl möglicherweise nicht mehr allzu viel Verlass ist, nachdem es mich bei Richter so fatal im Stich gelassen hat, verschweige ich ihr an dieser Stelle lieber.

„Wie auch immer, lass den Kopf nicht hängen, Süße! Ich hab dich trotzdem lieb. Auch wenn du keine Partnerin bist.“

Zum ersten Mal an diesem Tag muss ich ein bisschen lachen. „Sehr tröstlich.“

„Das sollte es auch sein. Außerdem arbeitest du sowieso zu viel. Du solltest das Positive an dem Ganzen sehen: Jetzt hast du immer noch Zeit für deine Familie.“

„So gesehen“, entgegne ich ich, obwohl ich mir sicher bin, dass es noch sehr lange dauern wird, bis ich in der Lage sein werde, an dieser Sache etwas Positives zu finden. Um mich aufzuheitern, erzählt Luna mir noch ein wenig aus ihrem chaotischen Alltag mit einem Säugling, und nachdem ich ihr auf ihre scherzhafte Frage hin versichere, nicht akut selbstmordgefährdet zu sein, legen wir auf. Kaum habe ich den Hörer zurückgestellt, meldet mein Handy den Eingang einer Mitteilung. Mit einer Vorahnung, von wem sie sein könnte, öffne ich die Nachricht und sehe meinen Verdacht bestätigt.

Bist du schon zu Hause, mein Herz? Dann komme ich vorbei, und wir feiern deine Beförderung! :-)

Unschlüssig, was ich tun soll, zwirbele ich eine Haarsträhne, die sich aus dem Dutt gelöst hat, um meinen Finger. Natürlich würde ich Ben gerne sehen, aber ich weiß nicht, ob ich es über mich bringe, ihm von meinem grandiosen Scheitern zu berichten. Nach kurzem Abwägen meiner Optionen tippe ich:

Ja, aber ich bin ziemlich kaputt. Vielleicht ein anderes Mal?

Keine Minute später erscheint auf dem Handybildschirm:

Zu spät, stehe schon vor deiner Tür. :-P

Beinahe zeitgleich ertönt die Klingel. Erschrocken fahre ich zusammen. So ein Mist! Was denkt er sich nur? Er müsste mich doch lange genug kennen, um über meine Abneigung gegen Überraschungen Bescheid zu wissen. Ganz besonders gegen solche, die mit unangekündigten Besuchen zu tun haben. Ich könnte schließlich gerade in Jogginghose herumlaufen. Oder in einem zerknitterten, kaffeebefleckten Bürodress, so wie jetzt! Es schellt ein zweites Mal. Seufzend drücke ich ihm auf und höre gleich darauf seine Schritte durch den Hausflur hallen. Angespannt warte ich, bis er die letzte Treppenstufe erreicht hat, dann öffne ich die Tür.

„Ich weiß, man stößt eigentlich mit Champagner an“, begrüßt er mich. „Aber das hier ist ein ganz edler Tropfen. Der tut's sicher auch.“

Und als ich ihn dort so vor mir stehen sehe, freudestrahlend eine Flasche Wein in die Höhe haltend, bricht all der Kummer, den ich bis jetzt halbwegs in Schach halten konnte, aus mir heraus. Ich breche haltlos in Tränen aus.

„Jetzt sag nicht, du magst keinen Merlot“, sagt Ben und lässt den Wein sinken. Ich schluchze bitterlich auf. „Hey, was ist denn los?“

„Ich … ich … hab's nicht geschafft. Die Beförderung … Richter … Er hat seinen Neffen zum Partner gemacht!“, stammele ich weinend.

„Shhh“, macht Ben und zieht mich in seinen Arm. An seiner Brust lasse ich meinen Tränen freien Lauf. „Davon geht doch die Welt nicht unter, mein Herz.“

„Meine schon!“, wimmere ich.

Er lacht leise an meinem Ohr. „Komm, wir setzen uns mal. Und dann erzählst du mir, was passiert ist, okay?“

Schniefend nicke ich. Er bugsiert mich aufs Sofa. Dort erzähle ich ihm – immer wieder unterbrochen von akuten Weinanfällen – von meinem blamablen Auftritt bei der Teamsitzung, von Richters versteckter Androhung, ich solle mich anstandslos der neuen Ordnung in der Kanzlei fügen, und natürlich von meinem zukünftigen Konkurrenten, seiner geschniegelten Aufmachung und seinem scheinheiligen Gerede von guter Zusammenarbeit.

„Ich komme mir vor wie die letzte Idiotin“, ende ich niedergeschlagen. „Ich habe wirklich geglaubt, ich hätte eine Chance auf den Job. Dabei hat Richter mich nicht einmal in Betracht gezogen.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, versucht Ben mich zu beruhigen.

„Er hat es mir doch selbst gesagt!“

„Wahrscheinlich, weil er nicht dazu stehen wollte, dass er dir so in den Rücken gefallen ist.“

Auch wenn ich seine Trostversuche zu schätzen weiß, so recht daran glauben mag ich nicht. Dazu hat mein Chef zu verblüfft gewirkt, als ihm klarwurde, mit welchen Erwartungen ich heute in die Kanzlei gekommen bin.

„Selbst wenn“, sage ich traurig und lasse meinen Kopf auf seine Schulter sinken. „Es ändert nichts mehr. Ich kann nur so weitermachen wie bisher und hoffen, dass ich nicht auch noch meinen Job verliere, weil Richter keine Verwendung für zwei Scheidungsanwälte in der Kanzlei hat.“

Ben rückt ein Stück von mir ab und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Soll das heißen, du willst aufgeben?“

„Was meinst du damit?“

„Ich meine, du kannst diesem Schönling mit den Italo-Latschen natürlich einfach kampflos das Feld überlassen.“

„Oder?“

„Du beweist deinem Chef, dass er einen Fehler gemacht hat.“

Nun bin ich es, die fragend die Stirn krauszieht.

„Er wird seine Entscheidung wahrscheinlich nicht rückgängig machen“, erklärt Ben weiter. „Vielleicht bereut er sie stattdessen wenigstens, wenn du dich ein bisschen ins Zeug legst.“

„Ich soll ihm also zeigen …“

„Dass du die bessere Partnerin gewesen wärst, genau.“

Nachdenklich richte ich mich auf. Wieso eigentlich nicht? Es ist überhaupt nicht meine Art, bereitwillig etwas hinzunehmen, das mir nicht passt. Meine Mutter hat mich nicht dazu erzogen, mich stillschweigend meinem Schicksal zu ergeben. Sie hat mir beigebracht, Männern die Stirn zu bieten.

„Du hast recht“, sage ich, plötzlich sehr entschlossen. „Ich lasse mich doch nicht von so einem Schnösel aus gutem Haus unterbuttern. Ich habe noch nicht genug Verhandlungen geführt, um Fachanwältin zu sein, aber ich gewinne immerhin achtzig Prozent meiner Fälle. Ich wette, so eine gute Quote hat der nicht!“

Ben grinst. „Das klingt schon wieder sehr viel mehr nach meiner Stella.“

Neue Zuversicht wächst in mir. „Richter wird sich in den A... in den Hintern beißen, dass er mich nicht genommen hat.“

„Richtig!“

„Und sein ach so toller Neffe wird sich noch umgucken, wenn ich ihm reihenweise die Mandanten vor der Nase wegschnappe!“

„Das nenne ich eine positive Einstellung.“

Ermutigt von meinem Vorhaben wische ich mir die feuchten Wangen mit den Händen trocken und lächele Ben an. „Danke.“

„Wofür?“

„Für die aufbauenden Worte natürlich!“

„Gern geschehen“, sagt er ernst. Dann grinst er. „Wie wäre es mit einem Kuss als Dankeschön?“

„Vergiss es!“

„War einen Versuch wert“, lacht er und greift wieder zu der Flasche, die er auf dem Couchtisch abgestellt hat. „Wein?“

„Gern!“

Weil ein so „edler Tropfen“, wie Ben ihn bezeichnet hat, erst zusammen mit einem guten Essen seinen vollen Geschmack entfaltet und ich bis auf ein belegtes Brötchen in der Mittagspause heute nichts Anständiges in den Magen bekommen habe, macht Ben sich in der Küche zu schaffen und zaubert aus den spärlichen Resten in meinem Kühlschrank ein wunderbares, kleines Menü für uns zwei. In der Zwischenzeit schäle ich mich aus meinem Kostüm und schlüpfe in bequemere Sachen. Mit den dampfenden Tellern und gefüllten Weingläsern machen wir es uns anschließend vor dem Fernseher gemütlich, sehen uns eine seichte Liebeskomödie an und machen uns über dir gruselige schauspielerische Leistung der Protagonisten lustig. So wird es trotz des Schocks am Morgen doch noch ein richtig schöner Abend. Und nachdem ich mich von Ben verabschiedet habe, nicht ohne mich noch einmal ausreichend zu bedanken, gehe ich mit dem befriedigen Gedanken ins Bett, dass in Sachen Partnerschaft noch längst nicht aller Tage Abend ist.

Mit Herz und Recht

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