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Eingeschneit in Westberlin

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Dezember 1978/Januar 1979

Mit 12 Jahren habe ich von unserem Planeten noch sehr wenig gesehen. Zusammen mit Mama lebe ich in meiner eigenen kleinen, beschaulichen Welt – und die spielt sich seit drei Jahren in einer Zweizimmerwohnung im Frankfurter Nordend ab. Von hier erreiche ich in sieben Minuten zu Fuß die Schule im Westend. Jeden Freitag geht es zum Reiten nach Hofheim am Taunus, ansonsten komme ich aber nur selten raus. Das stört mich überhaupt nicht. In Deutschland kenne ich nur ein paar Orte. Immerhin war ich schon am Wattenmeer auf der Nordseeinsel Wangerooge und ganz im Süden in Garmisch-Partenkirchen. Hinzu kommen ein paar Städte in unseren unmittelbaren Nachbarländern, die ich leicht an einer Hand abzählen kann.

Weit weg in die Ferne zu reisen, ist für mich nie ein Kinderwunsch gewesen und bisher noch nicht zum Jugendtraum geworden. Stattdessen will ich mir die Welt tausendmal lieber in Gestalt von Tieren nach Hause holen. Kein Film über Tiere entgeht mir. Als Kind habe ich mir über Jahre bei jedem Besuch im Opel-Zoo das Flusspferd Schorschi von ganzer Seele in die heimische Badewanne gewünscht. Er hat mit seinem korpulenten Körper, dem riesigen Maul, den steilen gelben Zähnen und den schwarzen Glubschaugen mein Kinderherz berührt. Bald darauf wollte ich dann unbedingt noch ein Pony haben, am liebsten in meinem Zimmer. Am Ende hat es nur für ein Meerschweinchen in der Küche gereicht, für das ich mit zunehmendem Alter immer weniger Zeit finde. Die Wände in meinem Zimmer hängen voller Tierposter. Und beim Öffnen der vollen Schränke springen mir jede Menge Tierfiguren, darunter immer mehr Pferde, entgegen. Ich fühle mich wohl in meinem kleinen Reich, in dem es mir an nichts mangelt.

Das Einzige, was mir fehlt, ist ein guter Papa. Er ist schon so lange weg, dass ich gar nicht mehr weiß, wann genau er eigentlich gegangen ist. Ich war ziemlich klein und noch nicht in der Schule. Mittlerweile verblassen die Erinnerungen an ihn. Das letzte Mal habe ich ihn für ein paar Stunden gesehen, als ich zehn Jahre alt war – das ist bald drei Jahre her. Sein mangelndes Interesse macht mich traurig. Wenn er mir zum Geburtstag, zu Ostern und Weihnachten Briefe schreibt, bedrücken mich die wenigen lieblosen Zeilen, aber vor allem die Fragen zu meinen schulischen Leistungen – als ob es in meinem Leben nichts anderes gäbe. Mein Vater ist mir fremd, denn er ist nie für mich da.

Einen Tag vor Silvester fährt meine Mutter mit mir im Nachtzug durch die DDR nach Westberlin. Von der eingeschlossenen Stadt mit einer meterhohen dicken Mauer drum herum habe ich viel gehört, aber in meinem kleinen Kopf kann ich mir sie nur schwer vorstellen. So weit im Osten bin ich noch nie gewesen. Nur nach Eisfeld in Thüringen, die Heimat meiner Mama, hat es uns ein paarmal verschlagen. Die Fahrt nach Westberlin ist für mich – wie so vieles in diesem Alter – ein erstes Mal.

Nach der Grenzkontrolle, die so lange dauert, als ob dabei der komplette Zug auseinandergenommen und wieder zusammengebaut würde, erzählt Mama mir eine persönliche Gutenachtgeschichte. Mit einem Lächeln in ihrer warmen Stimme setzt sie an:

»Als du noch klein warst, sind wir wieder mal nach Eisfeld gefahren und wurden hier an der Grenze kontrolliert. Der Grenzbeamte hat jede Ecke des Zuges genau unter die Lupe genommen. Er ist sogar unter die Sitze gekrochen. Und du, du bist einfach zu ihm gekrabbelt.«

»Warum das denn?«, unterbreche ich sie ungläubig. Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern.

»Du warst wohl neugierig, was er da sucht, und wolltest ganz genau wissen, ob er auch was findet.«

»Hast du mich denn nicht festgehalten, damit ich sitzen bleibe?«

»Nein, wieso denn? Ich hätte platzen können vor Lachen und musste mich sehr zu einer ernsten Miene zwingen«, sagt sie schmunzelnd.

»Hat der Grenzbeamte auch über mich gelacht?«, will ich neugierig wissen.

»Nein, er hat nicht mal gelächelt. Der blieb todernst! An der DDR-Grenze habe ich noch nie einen Beamten lächeln sehen. Sie sind immer so ernst, dass mir ganz unbehaglich zumute wird. Ich komme mir dann vor, als hätte ich etwas Schlimmes verbrochen.«

»Dürfen sie nicht lächeln?«, frage ich mit großen Augen.

»Hm, das weiß ich nicht«, sagt Mama und schüttelt nachdenklich den Kopf.

»Werden sie bestraft, wenn sie lächeln?«, bohre ich neugierig weiter.

»Wundern würde es mich nicht.«

Ich dagegen lächle über diese Episode aus meinem frühen Leben. Die Menschen in der DDR tun mir leid, weil sie nicht einfach so reisen dürfen wie wir. Die Schulkameradin meiner Mama in Eisfeld darf uns nicht einmal besuchen kommen.

Glücklich, dass ich meine Mama habe und mit ihr zusammen ohne Probleme überallhin reisen kann, schlafe ich sofort ein.

In Westberlin werden wir am Morgen am Bahnhof Zoo abgeholt. Dorte, die ehemalige Kollegin meiner Mama, entdeckt uns schnell in der Menschenmenge. Die beiden haben früher gemeinsam im Chor des Hessischen Rundfunks gesungen. Mutters Freundin mit den lebhaften braunen Augen und der glasklaren Sopranstimme ist trotz ihrer hoch auf dem Kopf aufgetürmten braunen Haare etwas kleiner als Mama und ich. Sie gehört für mich so gut wie zur Familie, denn sie kannte mich schon als Baby. Der Kleinste von uns vieren ist ihr sechsjähriger Sohn Folkert. Ihm begegne ich heute zum ersten Mal. Ich habe mir immer einen älteren Bruder gewünscht. Jetzt habe ich für die nächsten Tage ein kleines Brüderchen, das mich nun aus wachen hellblauen Augen neugierig mustert. Genauso wie ich ist er Einzelkind einer alleinerziehenden Mutter – da haben wir schon mal etwas gemeinsam.

Unsere Spielfreude kennt keine Grenzen. Begeistert toben Folkert und ich am Silvesterabend wie zwei Wilde durch die Wohnung. Draußen hat es schon vor Stunden begonnen zu schneien. Ich weiß nicht, wie wir das Kunststück schaffen, aber im Eifer des Gefechts stoßen wir plötzlich die große Glasvase von der Fensterbank. Wir hätten nicht besser zielen können: Ihr Inhalt schwappt in hohem Bogen über den Farbfernseher. Plötzlich ist es mucksmäuschenstill. Wohin ich auch mit gesenktem Kopf durch meine Brille nach oben schiele, sehe ich entsetzte Gesichter. Wie peinlich! Hättest du nicht besser aufpassen können, schimpfe ich in Gedanken mit mir selbst. Jetzt hilft nur noch die Kraft eines besonders saugfähigen Lappens, der, schnell herbeigeholt, hoffentlich das Schlimmste verhindern wird. Warten wir’s ab. Kurz vor Mitternacht schalten wir den Fernseher an – und was sind wir doch für Glückskinder! Er hat seinen Geist nicht aufgegeben und lässt uns rechtzeitig wissen: Jetzt haben wir das Jahr 1979. Draußen fallen weiter dicke Schneeflocken.

Am Neujahrsmorgen liegt der Balkon unter einer dicken Schneedecke. Wir Kinder stürmen natürlich sofort aus dem Wohnzimmer, um uns im Schnee zu wälzen und mit Schneebällen zu bewerfen. Dorte und Mama bekommen regelrecht Angst, dass der Balkon unter der Schneelast und unserem Gewusel abfallen könnte. Später gehen wir nach draußen. Vom Hindenburgdamm laufen wir über eine geschlossene Schneedecke in den Park mit dem Otto-Lilienthal-Denkmal. Gegenseitig spannen wir Kinder uns abwechselnd vor den Schlitten. Die Muttis lassen wir auch mal ziehen, doch sie geben ziemlich schnell wieder auf.

Die wenigen Tage in Westberlin sind für mich wie im Flug vergangen. An einem Tag standen wir sogar vor der meterhohen Betonmauer, die zusätzlich von Stacheldraht umhüllt ist. Dieses graue Ungetüm, das sich schier endlos durch die Stadt schlängelt, hat mich völlig sprachlos gemacht. Ich glaube, sie war mein allererster Kulturschock. Wie kommen erwachsene Menschen auf die Idee, eine solch hässliche Mauer mitten durch Berlin zu bauen? Ich will es nicht verstehen, und von Politik habe ich in meinem Alter sowieso noch keine Ahnung.

Heute, an unserem letzten Tag in Berlin, gehen Folkert und ich zusammen mit meiner Mama bei eisigen Temperaturen in den Zoo. Bei diesen Wetterverhältnissen muss Mutti besonders gut auf uns zwei Quatschmacher aufpassen. Um das Geländer eines Tiergeheges hat sich eine dicke Eisschicht gebildet. Ehe wir uns versehen, streckt Folkert seine Zunge heraus und versucht, daran zu lecken. Mama, plötzlich kreidebleich im Gesicht, schreit gerade noch so: »Nein! Nicht!«

Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, an dem gefrorenen Geländer zu lecken, weiß aber nicht, was daran so schlimm sein soll. Das wird mir jetzt aber ziemlich schnell klar. Ein klitzekleines Stückchen von Folkerts Zunge, die das Eis doch berührt hat, bevor er erschrocken aufgehorcht hat, ist abgerissen und klebt jetzt am Geländer. So schnell muss sie festgefroren sein. Die Zunge blutet aber nur ein kleines bisschen. Glück gehabt – und wieder eine Lektion gelernt!

Einige Schritte später – wir haben uns mittlerweile von dem Schrecken erholt – bleiben wir vor dem Becken mit den Seehunden stehen. Mir ist so kalt, dass ich zum Aufwärmen von einem zum anderen Ende der Beckenumrandung laufe. Dabei bemerke ich, wie ein einzelner Seehund meinem Gang folgt. Das entwickelt sich schnell zu einem richtigen Spiel. Er ist in seinem Element, dem Wasser, viel eleganter und schneller unterwegs als ich im Schnee zu Fuß. Neugierig lugt er immer wieder prustend aus dem Becken heraus und schaut, wo ich bin. Warum macht er das? Ob ihm langweilig ist? Spieltrieb? Jagdinstinkt? Ich finde es lustig. Egal, wo ich jetzt stehen bleibe, – er hält Ausschau nach mir und kommt in dieselbe Richtung hinterher, in der ich mich am Beckenrand bewege. Vom Rennen ist mir inzwischen ganz warm geworden. Am liebsten will ich hier gar nicht weg, aber wir gehen weiter. Schweren Herzens verabschiede ich mich von meinem neuen Spielgefährten.

Noch viel schwieriger gestaltet sich am nächsten Tag der Abschied von Westberlin. In der DDR herrscht nach dem katastrophenartigen Wintereinbruch weiterhin das totale Schneechaos. Meterhohe Schneeverwehungen haben den kompletten Eisenbahnverkehr zum Erliegen gebracht – nichts geht mehr. Damit haben wir und viele andere Menschen, die nach Hause wollen, nicht gerechnet. Länger bleiben können wir auch nicht, denn Mama muss morgen zurück ins Büro. Da ist Improvisation gefragt! Unsere abenteuerliche Situation finde ich spannend. Bis die Schule wieder beginnt, dauert es noch ein paar Tage. Zu gern würde ich noch ein wenig länger bei Dorte und Folkert in Westberlin bleiben. Aber das geht leider nicht.

Und tatsächlich finden wir eine Lösung: Dorte bringt uns zum Flughafen Berlin-Tegel. Mit viel Glück ergattern wir die letzten beiden Sitzplätze in einem Flieger nach Frankfurt am Main. Pan Am ist die einzige Fluggesellschaft, die aus Westberlin durch die Luftkorridore über der DDR andere deutsche Flughäfen anfliegen darf. Dorte leiht Mama sogar noch das Geld für die Flugtickets, weil wir damit natürlich nicht gerechnet haben. Sonst hätten wir tatsächlich bleiben müssen.

Ich habe keine Zeit, mich richtig auf den ersten Flug meines Lebens zu freuen oder gar Angst davor zu haben. Alles geht viel zu schnell. Kaum haben wir die Tickets bezahlt, müssen wir uns verabschieden und rennen auch schon mit unserem kleinen Gepäck zum Flugzeug. Als letzte Gäste lassen wir uns auf die vorderen Plätze plumpsen und schnallen uns an. Wenige Minuten später rollen wir zur Startbahn, beschleunigen, heben ab und schwingen uns mit dröhnenden Motoren in die Lüfte. Ich summe das Lied Über den Wolken von Reinhard Mey vor mich hin und schaue hinunter auf das geteilte Berlin, das aus meiner Perspektive ganz wie aus einem weißen Schneeguss gezaubert aussieht und dessen Häuser mich an weihnachtliche Lebkuchenhäuschen mit Zuckerdächern erinnern. Doch nur hier oben scheint die Freiheit hinter dem langen Zaun und der hohen breiten Mauer wohl grenzenlos zu sein.

Fernweh im Herzen

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