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Durchhängen?
Nur in der Hängematte!

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Oktober 1992

Mit 26 Jahren habe ich einen tollen Arbeitsplatz in Frankfurt in der Reklamationsabteilung eines Kreditkartenunternehmens. Unter den lieben Kolleginnen fühle ich mich wohl. Manchmal kann ich gar nicht fassen, wie viel Spaß mir die Arbeit macht. Die angenehme Atmosphäre ist das Gegenteil von dem, was ich von der zweieinhalbjährigen Ausbildung zur Bürokauffrau im Einzelhandel in Wiesbaden kenne. Ihre Sinnlosigkeit geht mir noch bis heute so nah, als wäre ich diesem Abschnitt meines Lebens erst gestern mit der bestandenen Abschlussprüfung entronnen.

Als Auszubildende wurde ich ständig für Botengänge benutzt. Ich musste Tausende Mark in bar in einem Plastikbeutel zur Nassauischen Sparkasse um die Ecke bringen, Kontoauszüge von der Wiesbadener Volksbank abholen und für die Angestellten beim Supermarkt gegenüber Lebensmittel einkaufen. Nicht zuletzt holte ich unserer Chefin fast jeden Nachmittag ein teures Tortenstück beim Café Blum auf der Wilhelmstraße. Obwohl diese Aufgaben nicht viel mit meiner Ausbildung zu tun hatten, war ich froh um jede Minute außerhalb des Büros, in dem von morgens bis abends eine angespannte Atmosphäre herrschte. Mit unserer Chefin regierte dort ein ungeduldiges Wesen, in dem die cholerische Wut tobte, – und die ließ sie leider viel zu oft an uns Auszubildenden aus. Kein Wunder also, dass mir die Arbeit in dem tristen Büro keinen Spaß machte. Die Aufgaben, die ich abgesehen von den Botengängen erledigen musste, halfen da auch nicht unbedingt: Telex-Bestellungen von Teppichböden, Tapetenrollen, Gardinen etc. verschicken, Schecks tippen, Überweisungen und Postanweisungen ausfüllen, die Mehrwertsteuer berechnen und stundenlang, bis die Zahlen und Buchstaben vor meinen Augen verschwammen, Ablage machen … Wie langweilig! Nach wenigen Monaten war mir klar: Mehr wirst du hier nicht lernen. Eine frustrierende Erkenntnis für eine wissbegierige junge Frau. Doch da musste ich nun durch.

Von der Arbeit unterfordert suchte ich mir, statt durchzuhängen, in meiner freien Zeit einen positiven Ausgleich zu meinem bedrückenden Alltag. Die Abende verbrachte ich in diversen Sprachkursen an der Wiesbadener Volkshochschule. Hier erwachte ich zu neuem Leben. Endlich wurde ich mit Respekt wie ein erwachsener Mensch behandelt! Kleine Erfolgserlebnisse gaben mir mehr Zuversicht. Längst kommunizierte ich mit fremdsprachigen Freunden vergnügt in Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und verfügte dazu über Grundkenntnisse in Arabisch, Neugriechisch und Portugiesisch.

Kaum hatte ich die Ausbildung beendet und mich bei ein paar anderen Firmen beworben, bekam ich wegen meiner Sprachkenntnisse schnell zwei Zusagen. Na also, da hatte ich doch etwas richtig gemacht! Keine vier Wochen nach der mündlichen Prüfung war ich weg aus dem verhassten Büro und kehrte Wiesbaden den Rücken. Zurück nach Frankfurt, auf in ein neues, unbekanntes Leben!

Nun arbeite ich schon über vier Jahre hier – und bin seit anderthalb Jahren mit dem attraktiven Spanier Antonio verheiratet. An einem regnerischen Tag im April vor über drei Jahren haben wir uns völlig unromantisch im Kopierraum kennengelernt.

Ich war gerade dabei, einen Stapel Unterlagen zu kopieren, als er den Raum betrat und mich mit seiner tiefen, warmen Stimme auf Englisch fragte: »Weißt du, wie man hier beidseitig kopieren kann?« Sein spanischer Akzent war unüberhörbar.

Ich lachte, denn ich war mir sicher, dass ich von Technik noch weniger Ahnung hatte als er. Aber wenigstens konnte ich ihm seine Frage auf Spanisch beantworten: »Tut mir leid. Ich weiß leider auch nicht, wie der neue Kopierer funktioniert.«

Antonio hob seine rechte Augenbraue und antwortete erstaunt: »Du sprichst gut Spanisch!«

»Ich lerne die Sprache seit ein paar Jahren. Mir macht es viel Spaß!«

Darüber freute er sich sichtlich. »Ich bin erst vor ein paar Wochen nach Frankfurt gekommen und möchte einen Deutschkurs machen.«

Ich schlug ihm ein paar Sprachschulen vor, entschuldigte mich erneut für mein Unwissen, was das Kopiergerät betraf, und verabschiedete mich von ihm, weil ich zurück an meinen Schreibtisch musste. Noch ein paarmal wanderten meine Gedanken an diesem Tag zu dieser Begegnung zurück. Mit seinen glänzenden schwarzen Haaren, den irgendwie traurig dreinblickenden braunen Augen und seiner schlanken, sportlichen Figur war Antonio mir auf Anhieb sympathisch gewesen. Hoffentlich würden wir uns noch öfter über den Weg laufen!

Bis wir dann zueinanderfanden, vergingen tatsächlich nur noch ein paar Monate. Seitdem verbringen Antonio und ich nicht nur unseren Alltag miteinander, sondern gehen auch zusammen auf Reisen – denn mein Mann verreist genauso gern wie ich. Im Frühjahr wie Herbst machen wir meist eine dreiwöchige Fernreise, daneben diverse Kurztrips über das Jahr verteilt. Auf eigene Faust durch die Welt zu tingeln, kenne ich bis dahin nicht. Bevor ich Antonio traf, war ich nur zu Sprachkursen im Ausland, habe den Ferienjob in Paris gemacht und bin ansonsten gemeinsam mit meiner Mutter und Freunden in fremde Länder gereist. Zusammen mit Antonio habe ich bisher zwölf Länder bereist. Insgesamt stehen 26 auf meiner Liste.

Und heute kommt ein neues hinzu! Morgens um sieben landen Antonio und ich in Caracas – hola, Venezuela! Das wohlhabende Land, das rund achtzig Prozent seiner Exporterlöse seinen Erdölvorkommen und den guten Verbindungen in die USA zu verdanken hat, zieht in den letzten Jahren immer mehr Touristen an. Wir bleiben heute nicht in der Hauptstadt, sondern fliegen ein paar Stunden später mit einem kleineren Flugzeug gleich weiter in Richtung Südosten nach Canaima im Bundesstaat Bolivar. Seit 1962 gibt es hier den gleichnamigen Nationalpark, den Parque Nacional Canaima, der an Guyana und Brasilien grenzt.

»Der Urwald sieht aus wie ein riesiger Teppich, in den ich gern reinspringen würde«, sage ich staunend zu Antonio, während ich aus dem Flugzeugfenster schaue. Ich rücke ein Stück zur Seite, damit er auch etwas sehen kann.

»Oh, schau mal, dieser dunkelbraune Fluss, das ist der Orinoco. Sieht aus wie eine Hauptschlagader, und die Zuflüsse, das sind kleine Äderchen!« Mein Mann ist offensichtlich genauso aufgeregt wie ich, endlich in Südamerika zu sein.

Nicht mehr lange und wir fliegen über eine Ansammlung flacher Berge, die aus der Gran Sabana, der »großen Savanne«, hervorragen, – und dann sind wir nach einer langen Reise endlich am Ziel. Ich atme auf. Kaum habe ich einen Fuß durch die Flugzeugtür gesetzt, schwappt mir feuchtheiße Tropenluft, geschwängert von Kerosingeruch, entgegen. Fast verschlucke ich mich.

Als ich mich von dem Schreck erholt habe und zum ersten Mal richtig umschaue, komme ich mir vor wie in eine märchenhafte Traumlandschaft versetzt. »Ist das schön!«, stoßen Antonio und ich fast gleichzeitig aus. In der Ferne sind unter dem blauen Himmel, der von weißen Wölkchen durchzogen ist, die »Häuser der Götter«, die Tepuis, zu sehen. Als solche werden die Tafelberge in der Sprache Pemón des gleichnamigen indigenen Volkes, das hier seit über zehntausend Jahren lebt, bezeichnet. Der größte unter ihnen sticht besonders hervor: der Ayuan-Tepui – das »Haus des Gottes des Bösen«. Knapp hundert solcher meist aus Sandstein bestehender Tafelberge ragen im dreißigtausend Quadratkilometer großen Parque Nacional Canaima aus der Gran Sabana über den tropischen Regenwald heraus und machen damit ganze 65 Prozent der Fläche des Nationalparks aus. Die aus Erosion entstandene Landschaft ist einfach einzigartig. Auf den Plateaus der Berge herrscht ein gemäßigtes, kühles Klima mit häufigen Gewitterregen. Mit ihren unüberwindbaren Steilwänden sind die Erhöhungen völlig vom Regenwald isoliert – ein Umstand, der eine einmalige Tier- und Pflanzenwelt hervorgebracht hat, die es so nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Die Oberflächen mancher Tepuis hat tatsächlich noch nie ein Mensch betreten.

Im Dorf Canaima an der Lagune des Flusses Carrao, wo wir uns jetzt befinden, ist alles zu Fuß zu erreichen. So auch unsere einfache, günstige Unterkunft. Die Schlafstätte ist schlicht aufgebaut: In der Mitte steht ein schlanker Pfahl, um den im Kreis weitere Pfähle gruppiert sind. Darüber spannt sich ein vom mittleren Pfahl zu allen Seiten gleichmäßig schräg abfallendes Schilfdach. An der Dachkonstruktion, den äußeren Pfählen und am mittleren Pfahl sind unsere Schlafplätze angebunden – zwanzig Hängematten! Antonio und ich schauen uns die Schlafplätze genauer an – sie scheinen fast alle besetzt zu sein, doch keiner von den Gästen ist zu sehen.

Da taucht aus dem Nichts plötzlich ein kleiner nackter Junge mit hellbraunen Haaren auf. Er muss etwa drei Jahre alt sein und bleibt auf dem Betonboden am äußeren Rand der Hängemattenkonstruktion stehen. Neugierig mustert er uns, holt gedankenverloren mit seiner kleinen Hand etwas aus der gelben Plastiktasse, die er mit sich herumträgt, und schiebt es in seinen Mund. Freudestrahlend kommt er dann etwas Unverständliches brabbelnd auf uns zu. Antonio und ich lächeln ihm ebenfalls zu, und ich setze zu einem »Hola« an, aber kaum ist der Junge bei uns, rennt er auch schon wieder weg und versucht, sich hinter einem der dünnen Pfähle am Rand der Hütte zu verstecken, hinter dem der Großteil seines Körpers natürlich hervorschaut. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen, und einen Moment später ist das Spektakel auch schon wieder vorbei und der Zwerg dahin verschwunden, wo er herkam. Was für ein netter Empfang!

»Hier ist eine freie Hängematte«, rufe ich schließlich Antonio zu, der auf der anderen Seite des Hängemattenparadieses schräg gegenüber von mir steht.

»Hier ist auch noch eine!«, gibt er zurück.

Wir legen ein paar Sachen in unsere Matten, um sie als besetzt zu markieren, und lassen unser Gepäck, in dem sich nichts Wertvolles befindet, darunter stehen. Die nächsten Nächte wird die Hängematte unser ungewohntes wie ungewöhnliches Zuhause zwischen Wald und Fluss sein.

An Ausruhen nach der stundenlangen Anreise ist jetzt nicht zu denken, also lassen wir die Hängematten erst mal Hängematten sein. Statt ein Nickerchen zu machen, sammeln wir unsere Wertsachen zusammen und schauen uns im Dorf um, das mit seinen unbefestigten Straßen aus roter Erde und den niedrigen Hütten und Gebäuden natürlich in die Landschaft eingebettet ist. Für den Nachmittag unseres Ankunftstages haben wir bereits einen kleinen Trip geplant: Etwas später werden wir in einem motorisierten Einbaum in einer kleinen Gruppe bestehend aus internationalen Individualreisenden zu den Wasserfällen gefahren, die tosend vor uns in die Lagune stürzen. Das Wasser ist voller Sedimente und hat dadurch eine teebraune Farbe. Von unserem einheimischen Begleiter erfahren wir: »Ihr könnt ruhig die Hände ins Wasser halten! Piranhas gibt es wegen der Stromschnellen, und Wasserfälle hier nicht. Und selbst wenn – normalerweise knabbern die keine Menschen an, die ihre Finger ins Wasser stecken.«

Froh um die Erfrischung stecken alle sofort ihre Hände in das kühle Nass.

In einiger Entfernung von den Wasserfällen gehen wir an Land. Während wir uns leise unterhalten, wandern wir durch ein leicht ansteigendes, bewaldetes Gebiet auf einem Trampelpfad in Richtung Salto Sapo, ein noch größerer Wasserfall, der von der Lagune aus nicht zu sehen ist.

Um uns wird der Regenwald immer dichter, und ich komme auf einen irrwitzigen Gedanken: »Obwohl wir dafür auf dem falschen Kontinent sind, kommt es mir vor, als könnten uns jeden Augenblick Mogli, Panther Baghira und Balu der Bär aus dem Dschungelbuch entgegenkommen und freundlich grüßend an uns vorbeigehen!«

»Ja, das wäre urkomisch«, lacht Antonio. »Wie wär’s mit Mafalda? Sie hätte es von Buenos Aires nicht ganz so weit hierher wie die anderen!«

»Zeichentrickfiguren mitten im Dschungel …« Ich schüttle lachend den Kopf und gehe weiter, zielstrebig dem Wasserfall entgegen.

Und dann sind wir endlich da! Da es in den letzten Tagen kaum geregnet hat, führt der sogenannte Krötenwasserfall El Sapo nicht ganz so viel Wasser. Durch eine Ausbuchtung können wir hinter ihm hindurchgehen. Der Steinboden ist schwarzbraun und glitschig nass. Wir müssen aufpassen, nicht auszurutschen und der Länge nach hinzufallen. Es ist ein herrliches Gefühl, in der sengenden Nachmittagshitze die brausenden Wassermassen – die aus dieser Perspektive wie aus dem Nichts zu kommen scheinen – vor uns herabströmen zu sehen. Ich merke kaum, wie die Gischt mich immer mehr nass sprüht. In der Luft liegt ein moderiger Geruch. »Du siehst aus wie ein begossener Pudel!«, will ich Antonio sagen, doch das Tosen des Wassers ist so laut, dass es alle Wörter übertönt, die sich in meinem Mund formen. Keine Chance, sie weiterzugeben. Sie bleiben ungehört in der feuchten Höhle hinter dem Wasserfall hängen. Das ist auch besser so. Auf diese Weise bin ich gezwungen, mal die Klappe zu halten und diesen einmaligen Augenblick tonlos, ohne Kommentar, auf mich wirken zu lassen. Viel zu schnell wird er wieder vorbei sein, und allein die Erinnerung an ihn wird uns erhalten bleiben.

Unseren ersten Tag in der wunderbaren Natur Südamerikas lassen wir später bei einem gemeinsamen Abendessen mit den anderen Reisenden ausklingen. Wir führen die typischen Gespräche Wanderlustiger, die auf eigene Faust in der Welt unterwegs sind. Alle erzählen, woher sie kommen und wohin sie wollen … Was wir zu Hause im Alltag machen, ist dagegen unwichtig. So auch all unsere Sorgen, die ohnehin nicht zum Thema werden können, weil sie nach diesem Tag wie weggeblasen sind. Viel wichtiger sind der gegenseitige Austausch von Reisetipps und Erfahrungen. Sie sind so zahlreich, dass Antonio und ich allein für die Erkundung Venezuelas mehrere Monate Zeit bräuchten, die wir leider nicht haben. Entspannt genießen wir das Beisammensein, die Unbeschwertheit von Gleichgesinnten im Hier und Jetzt, obwohl wir ganz genau, oder vielleicht gerade weil wir wissen, dass wir uns nie wiedersehen werden.

Auf dem Weg zurück zu unserem Schlafplatz entdecke ich neben unserem Hängemattenhäuschen auf dem Boden einen blau-grünen Wurm – vielleicht ist es auch eine Raupe. Ich weiß es nicht. Das kleine Tierchen ist ungefähr so dick wie mein Daumen. Bei meinem Anblick rollt es sich schützend zu einem Ring zusammen. Von seinem Rücken stehen winzige Härchen ab, die wie ein kleines Gestrüpp miteinander verflochten sind. So etwas habe ich noch nie gesehen, nicht mal im Zoo! Zu gern würde ich den kleinen Wurm anfassen, um zu wissen, wie er sich anfühlt. Ich lasse aber lieber die Finger davon, auch wenn sie mich jucken. Die grelle Alarmfarbe ist mir nicht geheuer. Sie dient dem Insekt bestimmt zum Schutz vor Fressfeinden und neugierigen Touristen wie mir.

»Antonio, komm mal schnell her«, rufe ich. Sofort ist er zur Stelle und folgt meinem Blick gen Erde. »Schau mal, was da für ein seltsames Tierchen auf dem Boden liegt!«

»Oh! Pass mal auf, dass keiner drauftritt. Ich hole jemanden.« Kurz darauf bringt er unseren Gastgeber mit.

Dieser schüttelt den Kopf. »Ich weiß auch nicht, was das ist!« Er macht sich auf die Suche nach seinem Kollegen, der ebenso den Kopf schüttelt. Immer mehr Leute kommen zusammen. Sie finden keine Worte, haben alle keinen Namen für das Lebewesen, das in seiner zusammengerollten Stellung verharrt und sich bei so viel Aufmerksamkeit wahrscheinlich lieber tot stellt. Jedoch sind sich alle sicher: Besser Finger weg und nicht berühren! Das Tier könnte giftig sein.

Ich hole meinen kleinen Fotoapparat. Es blitzt, und ich hoffe, dass der Wurm später auf dem Bild zu erkennen sein wird.

Ein junger Mann kommt mit ein paar Hilfsmitteln zurück. Vorsichtig schiebt er das unbekannte Wesen mit einem Stöckchen auf eine Plastikschaufel. In sicherer Entfernung lässt er das Tierchen auf eine breite Astgabel gleiten, wo es weiterhin reglos verharrt.

Mittlerweile ist es schon spät, ich fröstele. Für die Nacht in der Hängematte haben wir Decken bekommen. Und die haben wir auch nötig, da die Temperaturen hier nachts ordentlich abfallen. Beim Einschlafen lausche ich den zirpenden Klängen der Zikaden und den murmelnden Gesprächen der Menschen um mich herum. In meiner Hängematte habe ich es richtig bequem. Nur beim Umdrehen muss ich etwas vorsichtig sein, damit ich Alice, meine Hängemattennachbarin, nicht anremple. Sie baumelt dicht neben mir. Manchmal schubst einer beim Drehen unabsichtlich den andern an, der dann wiederum den nächsten anrempelt, und am Ende schaukeln ein paar Leute gleichzeitig hin und her. Verrückt!

Trotz der ungewöhnlichen Schlafsituation und der Zeitverschiebung schlafe ich in dieser Nacht in der fremden Umgebung hervorragend und werde erst bei Sonnenaufgang wieder munter. Erstaunlicherweise habe ich überhaupt keine Rückenschmerzen, die ich aus dem heimischen Bett sonst viel zu gut kenne.

Alice neben mir ist schon aufgestanden und steht neben ihrer Hängematte. Leise begrüße ich sie mit einem »Guten Morgen«, um die Schlafenden nicht zu wecken. Ihr rechtes Augenlid sieht seltsam aus, ganz rosa. »Was ist denn mit deinem Auge los?«, frage ich sie erstaunt.

»Ich habe mich überall mit Insektenschutzmittel eingerieben … nur da, wo es mich erwischt hat, natürlich nicht!«, antwortet sie mit den passenden Handbewegungen dazu und deutet dann mit einem tiefen Seufzer auf ihr Auge.

»O je! Tut es weh? Die Stelle hätte ich keinem Moskito zugetraut! Wie gemein!«

»Nein, weh tut es nicht, aber es juckt!«

Mitfühlend antworte ich: »Das tut mir leid für dich, Juckreiz kann sogar schlimmer sein als Schmerzen …« In der Hoffnung, dass sie als gleichaltrige Engländerin meinen schwarzen Humor versteht, füge ich hinzu: »Aber wenigstens hat dein Augenlid jetzt eine schöne Farbe! Jetzt müsstest du nur noch ins andere gestochen werden, dann wärst du kostenlos geschminkt!«

Sie hat ihren Humor tatsächlich nicht verloren und antwortet herzlich lachend: »Ich weiß gar nicht, wie es aussieht. Ich hab noch nicht in den Spiegel geschaut!«

»Gut sieht es aus! Als hättest du rosa Lidschatten drauf. Geschwollen ist es nicht. Lass bloß die Finger davon weg und reib es nicht!«

Wie es Alice und ihrem Auge weiter ergeht, weiß ich nicht, denn sie reist bald schon ab. Jeden Tag kommen und gehen ein paar Leute. Antonio und ich bleiben erst mal, aber verabschieden uns heute für einige Stunden zu einem Tagesausflug in den Nationalpark nach Kavác knapp hundert Kilometer weiter südöstlich. Dieser besondere Ort wurde mir schon vor einiger Zeit auf einer Reisemesse in der Heimat als absolutes Muss von einem Spanier empfohlen, der schon einmal dort war. Das kleine Dorf scheint ein absoluter Geheimtipp zu sein, da es nicht einmal in unserem detaillierten deutschen Reiseführer erwähnt wird.

Während mein Ehemann guter Dinge ist, habe ich ein mulmiges Gefühl, in die kleine Metallkiste – eine Cessna – mit gestützten Flügeln zu steigen, die uns nach Kavác bringen soll. Es kostet mich einiges an Überwindung, mich auf meinen Sitz plumpsen zu lassen. Antonio nimmt genau hinter mir Platz. Kaum sind wir knatternd in der Luft, die grüne Landschaft nah unter uns, ist meine anfängliche Unsicherheit jedoch wie weggeblasen. Meine Begeisterung kennt keine Grenzen. Wir haben praktisch eine Rundumsicht auf dieses atemberaubende Stückchen Erde. Am Horizont wachsen die sogenannten Inseln des Regenwalds unter Quellwolken aus der Gran Sabana – ein spektakuläres Naturschauspiel, wie ich es noch nie erlebt habe. Durch das saubere Fenster schweift mein Blick weiter nach unten, und es reißt mich fast aus dem Sitz. Über das knatternde Motorengeräusch hinweg rufe ich Antonio euphorisch zu: »Schau mal! Da fliegt ein Papagei! Genau unter uns! Siehst du ihn?« Als Antwort bekomme ich nur ein undeutliches Brummeln. Dafür rede ich völlig aufgekratzt wie ein Wasserfall weiter: »Ist das toll! Hast du den Ara gesehen? Direkt über den Baumwipfeln!« Der Vogel ist für mich tatsächlich ein Vorbote, denn ich habe gehört: Kavác soll in der Sprache der Pemón tatsächlich »Ara« bedeuten.

Von meinem Mann bekomme ich auf die deutlichen Worte aus meinem Mund keine Reaktion. Findet er die Aussicht denn nicht auch beeindruckend? Verwundert drehe ich mich um. »Was ist los?«

Antonio wirkt ungewöhnlich blass und schüttelt nur mit dem Kopf.

Jetzt will ich es genau wissen: »Ist dir etwa schlecht?« Ich sehe ihn langsam nicken, während er weiter starr geradeaus blickt, und vernehme nur ein klägliches »Hmpf«. So wie ich mich der Schönheit der Natur ergeben habe, muss er sich jetzt hoffentlich nicht im Flugzeug übergeben. Wie leid es mir tut, dass er sich so schlecht fühlt und diesen einzigartigen Flug nicht genießen kann! Dass unsere Rollen jetzt vertauscht sind und das kleine Flugzeug mir überhaupt keine Angst mehr einjagt, überrascht mich. »Ich lass dich lieber in Ruhe. Sonst mache ich es nur noch schlimmer, wenn ich jetzt etwas Dummes sage …«

Er nickt unglücklich.

Hier oben im Element Luft fühle ich mich wie im Rausch der Sinne. Ehrfürchtig schaue ich aus dem Fenster. Ich könnte ewig über diese atemberaubende Landschaft fliegen und nie ankommen …

Viel zu schnell vergeht die Zeit. Schließlich landen wir auf einer kleinen Piste in der Savanne. In der Nähe stehen ein paar Hütten, und es riecht nach getrocknetem Gras. Mit festem Boden unter den Füßen geht es Antonio bald wieder besser. Und ich fiebere schon jetzt dem Rückflug entgegen. Bis es so weit ist, haben wir jedoch etwas Besonderes vor.

In einer kleinen Gruppe wandern wir südlich des Auyan-Tepuis mit zwei einheimischen Begleitern ein Stück weit auf einem Pfad durch die Savanne und den Regenwald, bis wir vor einer schroffen Felswand stehen bleiben. In ihrer Mitte öffnet sich ein Spalt, aus dem ein Bach plätschert. Wir ziehen unsere Kleidung aus und werfen uns – wer sie nicht schon wohlweislich darunter trägt – in unsere Badesachen. Alles andere, was wir nicht brauchen, können wir ohne Bedenken am Rand des kleinen Bachs liegen lassen. Langsam waten wir auf dem felsigen Untergrund durch das glasklare Wasser in Richtung der Öffnung in der Felswand. Allmählich werden wir von allen Seiten von feuchten Felsen umschlossen. Sie schimmern mal ockergelb, mal rostrot und manches Mal sogar dunkelgrün. Mittlerweile befinden wir uns in einer richtigen Schlucht, die sich durch die Felswand gräbt und in der es dank des gleißenden Sonnenlichts weit über uns zum Glück hell genug ist.

Die einheimischen Begleiter haben unsere Fotoapparate, die sie unbedingt für uns mitnehmen wollten, in eine Plastiktüte gestopft. Sie wissen sicher, was sie tun. Ich vertraue ihnen. Rechtzeitig weisen sie uns auf größere Aushöhlungen im felsigen Boden hin. Durch die gelangen wir schwimmend, bis wir wieder gehen können.

Zu Beginn ist mir das alles etwas unheimlich. Ich kenne Wasser zum Trinken, zum Duschen, in der Badewanne, im Schwimmbad, im Badesee, in Form von Regen. Auch an der Nordsee, am Mittelmeer und am Atlantik war ich schon. Ansonsten kann ich mich aber an keine weiteren direkten Berührungspunkte mit dem Element mitten in der Natur erinnern. Und ganz bestimmt war ich noch nie fast nackt der rauen Umgebung einer Felsenschlucht ausgesetzt, in der sich mehr oder weniger tiefes Wasser staut. Fast komme ich mir vor wie auf Schatzsuche im Abenteuerfilm Indiana Jones. Je tiefer wir in die Schlucht vordringen, desto mehr rechne ich damit, dass jeden Moment etwas Ungewöhnliches passiert …

Und tatsächlich! Vor uns hören wir jetzt ein anhaltendes lautes Geräusch. Je näher wir kommen, desto durchdringender wird es. Wir sind fast am Ende der Schlucht angekommen. Wir haben es geschafft! Und da ist er. Unser Schatz! Aus einiger Entfernung blicken meine Augen bewundernd zu ihm auf. Dieses wundervolle Geschenk der Natur könnte nicht schöner sein. Im gleißenden Sonnenlicht leuchtet er geradezu: ein tosender Wasserfall! Er hat eine Lagune in den Felsen gehöhlt. Neben seiner berauschenden Größe wirken wir schwimmenden Menschen klein und unbedeutend. Ein wohlig-warmes Glücksgefühl durchströmt mich trotz des erfrischenden Wassers um mich herum. Ich bin voller Dankbarkeit, jetzt, in diesem Moment, hier zu sein. Schwimmend genieße ich die Augenblicke in dieser einzigartigen Umgebung in vollen Zügen.

Auf dem Rückweg fliegen wir am 980 Meter hohen Salto Ángel vorbei. Über dem Tepui hängen graue Wolken. Da es die letzten Tage nicht geregnet hat, gleicht der höchste Wasserfall der Welt vom Flugzeug aus eher einem Rinnsal. Wenig Wasser ist besser als kein Wasser. Ich schieße ein Foto und bin gespannt, ob der Wasserstrahl zu sehen sein wird. Zum Abschluss unseres spektakulären Tagesausflugs schweben wir so knapp über dem Fluss Carrao und den Wasserfällen, dass es scheint, als könnten wir sie berühren, wenn wir nur die Hand aus dem Fenster strecken würden.

Ich drehe mich nach hinten zu Antonio. »Geht es dir besser als heute früh?«

»Ja, viel besser! Vielleicht war es das Frühstück«, kommt die Antwort diesmal prompt.

Ich bin beruhigt. Schließlich macht ein Abenteuer nur halb so viel Spaß, wenn es meinem Reisepartner dabei schlecht geht und ich ihm nicht mal helfen kann.

Zu später Stunde in meiner Hängematte in Gedanken versunken weiß ich ganz sicher: Heute war einer der schönsten Tage, die ich auf Reisen je erlebt habe. Der Nationalpark Canaima wird für alle Zeit ein ganz besonderer Sehnsuchtsort für mich sein …

Fernweh im Herzen

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