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Eine Liebe im Kindergarten, 1958

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Margot. MargOt!

Ich war gerade fünf Jahre alt geworden; nimmer ein Zwerg wie in der vorigen Geschichte; dennoch aber ein Knirps, wie es die Natur einfach so eingerichtet hat.

Zu dieser Zeit durfte man noch ganz allein in den Kindergarten laufen, gut einen Kilometer weit; in meinem Fall nur begleitet von einem kleinen Rucksäckchen mit den überlebenswichtigen Dingen drin wie einer Banane und einem Zuckerwassersauger als Däumchenersatz, falls ich in alte Gewohnheiten zurückfallen sollte.

(Heutzutage wird man in diesem Alter begleitet von GPS-Geräten, versteckt angebrachten Minikameras am Schutzhelm, oder - schlimmer noch! - vom eigenen Vater, der einen in die dritte Schulklasse bringt: an der Hand, selbstverständlich!

Das ist keine Erfindung von mir, sondern die peinliche (Un-)Tat eines Bekannten aus der Neuzeit, etwa aus dem Jahr 2002. Armer Junge, armer Vater!)

Ich durfte fast ein halbes Jahrhundert zuvor (wie sich das anhört!) ganz alleine meinen Weg gehen, der mich unter anderem über eine schmale Fußgängerbrücke wandern ließ, die meinen Kindergartenweg zu einem Spaß der besonderen Art machte:

Die hölzernen Stiegen hinauf; und oben in der Waagerechten über den Bahngleisen angekommen, wartete ich allmorgendlich auf die Lokomotive, die gleich unter mir gemütlich hindurchdampfen würde zum winzigen Stadtteil-Bahnhof, knapp hinter dieser herrlichen Brücke!

Schon von Weitem war die dicke Rauchsäule zu sehen, die der Schornstein ausschwitzte; und mein erklärtes Ziel war es tagtäglich, gezielt in diesen Schornstein unter mir zu spucken... So gut wie immer traf ich, obwohl ich dessen natürlich nicht sicher sein konnte, dazu waren die Rauchschwaden, die mich einhüllten, viel zu dick; aber ein wunderbares, stolzes Gefühl hatte ich jedes Mal dabei!

Außer, wenn mein Spucker direkt vor mir auf dem Handlauf des Geländers, über das ich ja kaum runterblicken konnte, hängen blieb; wegen Gegenwind oder - viel schlimmer - wegen meines eigenen Spuckversagens.

In einem solchen Fall nahm ich mir dicke vor, es auf dem Nachhauseweg am Mittag besser zu machen; so was konnte ich einfach nicht auf mir sitzen lassen...

Meine Mutti lächelte immer über diesen Lausbuben, der stets vor dem Mittagessen seine rauchgeschwängerten Kleider wechseln lassen musste. Ich verstand das überhaupt nicht: Das war für mich ein toller Geruch, irgendwie 'anders' als alle anderen Gerüche in meinem Kinderleben, und ich fühlte mich wohl in diesen Rauchschwaden, bis sie unter mir verflogen.

Einmal im Winter war ich geradezu wagemutig und traf mit einem Schneeball direkt in diesen Schornstein! Bisher in meinem kurzen Leben war ich noch nie so abgeflitzt, weil ich fürchtete, die Lokomotive dadurch irgendwie zur Explosion zu bringen...

Dass sich eisekalt und knalleheiß nicht richtig vertragen, wusste ich offenbar schon.

(Ich denke im Alter hierbei wieder an den Bekannten mit seinem Sohn, der nie solche Abenteuer erleben durfte, der sich nie die Knie aufgeschlagen hatte oder fürchterlich auf die Fresse gefallen war... Armer, behüteter Junge.

Und ich erinnere mich beim Schreiben dieser Zeilen so unsagbar stark an diese Rauchwolken, dass ich sogar deren Geschmack zu spüren vermag... Glücklicher Bub, dem so viel Freiheit gelassen wurde!)

Eines Tages, ein Stück nach dem Abgang dieser abenteuerlichen Brücke auf dem Weg zum Kindergarten, veränderte sich radikal mein junges Dasein:

Ein Mädchen (was könnte es anderes sein im Leben, das einen Kerl so enorm umhaut?) kam den Weg zum Eingang des Kindergartens, allerdings von der anderen Seite her, also mir entgegen:

Engelsgleich das Gesicht, umrahmt von halblangen blonden Locken; mir schien, dass ich jahrelang davon geträumt hatte!

Die spindeldürren Beinchen unter dem luftigen Kleid, das glaube ich, einen rosafarbenen Ton hatte mit fast weißen Blumenblüten drauf, nahm ich gar nicht richtig wahr; sie passten nicht zu allem anderen.

Sie hauchte mit ihrem dünnen Stimmchen „Guten Morgen! Bist du auch in diesem Kindergarten? Ich bin neu hier! Meine Mama hat mir gestern den Weg gezeigt, und heute schon darf ich alleine gehen! Ist das nicht toll? Und du darfst auch schon ganz alleine unterwegs sein? Toll, gelle? Willst du mir den Weg hinein zeigen? Danke, das ist aber nett! Ich heiße Margot!“ und strahlte mich dabei fröhlich mit ihren blauen Augen und einem lächelnden Mund an, der schlichtweg ein Traum war, nur etwas viel plapperte, wie mir schien.

Und weg war ich...

Weg war ich natürlich in dem Sinne, dass ich mich nicht von der Stelle rühren konnte, während sie schon einige Schritte gegangen war!

Also war ich weit weg von ihr...

Sie bemerkte es, drehte sich um und rief aus diesem unvergleichlichen Gesicht mit einer überirdisch wirkenden, strahlend lächelnden Aufforderung: „Na, was ist? Du willst mir doch den Weg zeigen!“

So stolperte ich an ihre Seite, und wir beide gingen in den Kindergarten: sie fröhlich und vergnügt und erwartungsvoll; ich einfach nur seltsam, sehr seltsam...

Viele Tage später oder auch eine Woche oder auch nur drei Tage; ich kann das nicht mehr so genau eingrenzen, das Kinderhirnchen hat da wohl eigene Zeitvorstellungen:

Margot hatte sich aufgrund ihres Frohsinns überaus schnell in die Kindergartengemeinschaft eingelebt und mich dabei offensichtlich völlig vergessen.

Ich dagegen rannte morgens über die Brücke, ohne auf meinen geliebten Rauch zu warten und diesem eine Prise Spucke zu verpassen!

Und jeden Mittag schlich ich über die Brücke zurück und blieb dabei so lange, wie ich es aushalten konnte, in dem Qualm stehen, bis ich hustete und mir Tränen in die Augen stiegen. Wobei in meiner Erinnerung nicht gesichert ist, ob die Tränen tatsächlich vom Rauch kamen...

Irgendwann nach zwei Tagen oder so hielt ich es einfach nicht mehr aus und sprach mit irrem Herzklopfen das Engelswesen an, ob sie gemeinsam mit mir Kartoffelkäfer abklauben wolle in unserem kleinen Gemüsegarten? Etwas Besseres fiel mir einfach nicht ein.

Die katholischen Schwestern des Kindergartens mit ihren typischen schwarz-weißen Hauben und schwarzen Gewändern hatten einen kleinen Garten hinter dem Kindergartenhaus angelegt, wo sie uns in die 'Geheimnisse' der Natur einführten.

Es gab ein großes Stück Rasen zum Spielen, aber auch kleine Beete mit Erdbeeren, Radieschen, Kohlrabi und ein winziges Kartoffelfeld. Die Kartoffeln würden in ihrem Wachstum in der Erde gehindert, so erklärten uns die Schwestern, wenn die Kartoffelkäfer an den Blättern nagten: Wir sollten also vorsichtig, damit wir ihnen nicht weh taten, diese schwarzen Käfer mit den gelben Flecken von den Blättern klauben, sie in einem kleinen Karton sammeln und abgeben.

Was mit den Käfern geschehen sollte, verschwiegen sie; aber für uns Kinder war die Aufgabe erledigt und wir vergaßen dann einfach den Karton mit seinem Inhalt.

Auf meine scheue Anfrage bekam ich die Antwort: "Ich heiße Margot, und nicht Margut!"

Und sie klaubte keine Kartoffelkäfer mit mir von den Pflanzen...

Ich zog mich völlig verwirrt in ein Eckchen des Gartens zurück und dachte nach: Ich habe doch aber ganz gewiss 'Margot' gesagt und nicht 'Margut'! Ich wollte es mir ganz sicher richtig merken und murmelte es mehrmals leise vor mich hin: Margot, Margot, MargOt... Viele, sehr viele Stunden später an diesem Vormittag nahm ich mir noch einmal den kümmerlichen Rest meine Mutes zusammen, im großen Spielraum: "Bauen wir aus diesen Klötzchen gemeinsam etwas, MargOt?"

Was mich da anfauchte, hatte nichts Engelhaftes mehr an sich:

"Ich heiße MargOt und nicht MargUt!", zischte es mir entgegen.

Dann verschwand sie aus meinem kümmerlichen, kleinen Leben...

Etwa drei Jahre später, als ich schon in der Volksschule war (die man heute Grundschule nennt), begegnete ich ihr in der Unterführung, die die ehemalige herrliche Brücke über die Bahngleise ersetzt hatte. Ich erkannte sie sofort an diesem Gesicht, das nichts an der Engelhaftigkeit, die ich am jenen ersten Tag im Kindergarten in mich aufsaugte, verloren hatte; selbst die spindeldünnen Beine waren noch da unter ihrem Röckchen! Diese Beine waren zu dieser Zeit allerdings wesentlich auffälliger für mich, immerhin war ich nun schon acht Jahre alt und konnte auf so etwas achten.

Ich blieb kurz stehen mit etwas stärker pochendem Herzen, während sie mir entgegen kam, ganz wie damals fast!

Sie aber erkannte mich nicht.

Ich trauere heute noch dieser alten Brücke sehr nach, habe sie aber in meiner Erinnerung bewahrt… Wie sie auch.

Nachwort:

Liebe Leserinnen und Leser,

möglicherweise haben Sie ähnlich einschneidende Erlebnisse aus Ihrer Kindheit in Erinnerung; wahrscheinlich sind aber auch viele davon in Vergessenheit geraten.

Wenn in Ihnen beim Lesen dieser Kurzgeschichte Fragmente Ihrer Kindheit in den - vielleicht jetzt noch halb entfernten - Sinn kommen sollten, so geben Sie bitte diesen Erinnerungen nach: Lassen Sie Ihre Kindheit auferstehen und erleben Sie damit ungeahnte Gefühle!

Denkbar ist auch, dass Sie erkennen (können), wie ein solch fundamentales Erlebnis ähnlich dem hier beschriebenen Ihr eigenes Leben bestimmt (hat)?

Mein Leben wurde ganz sicher durch 'Margut' ein Stück geprägt, was das weibliche Geschlecht betrifft.

Knapp fünf Jahre nach meiner Geburt.

Störfaktoren

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