Читать книгу Raban und Röiven Die Figur der Hekate - Norbert Wibben - Страница 7

In Mynyddcaer

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Raban und Röiven kommen hinter der kleinen Kapelle an. Es sieht hier fast so aus wie immer. Lediglich Wildkräuter wuchern jetzt überall, die früher kurz gehalten wurden. Genauso still war es bei ihrem letzten Besuch auch. Der Junge umrundet langsam das Gebäude und lugt über den Innenhof. Auch hier wachsen Wildkräuter zwischen den Steinplatten empor. Das Gebäude, das bis vor ein paar Wochen noch als Seniorenheim genutzt wurde, liegt offenbar verlassen vor ihnen.

Der Tarnumhang schützt den Jungen und den Kolkraben zwar vor fremden Blicken, den Regen hält er aber nicht ab. Es dauert nicht lange, und das kalte Nass läuft dem Jungen in den Nacken. Sein Sommershirt ist schnell durchnässt, da er nicht an Regenkleidung gedacht hat. Der schwarze Vogel hat es besser. Von dessen Gefieder perlt das Wasser ab, ohne es zu durchdringen.

Raban fröstelt und schüttelt sich. Nachdem sie nirgends Morgana oder sonst einen Menschen entdecken können, hastet er auf den Haupteingang zu. Während des kurzen Spurts über die Steinplatten spritzt Wasser in großen Lachen auf, sobald der Junge hineintritt.

»Wenn jetzt jemand hierher schaut, wird er sich sehr wundern, warum die Pfützen plötzlich aufspritzen«, denkt Raban. Um sich und seinen Freund zu schützen, spricht er schnell »Protego«, als er sich an diesen Schutzzauber erinnert. Vor dem Fenster des Arbeitszimmers, in dem er bei ihrem letzten Besuch aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen hatte, bleibt er stehen und wirft einen forschenden Blick hinein. Doch drinnen ist in dem trüben Licht nichts zu erkennen.

Raban murmelt kurz entschlossen: »Sgiath!«, um einen zusätzlichen Schutz aufzurufen. Dann spricht er: »Portaro!«

Als das Flirren der Luft vorbei ist, steht der Junge regungslos neben dem Kamin. Er hält den Atem an und blickt sich forschend um. Hat sich hier seit ihrem letzten Besuch etwas verändert?

Halt! Was ist das für ein Geräusch? Er hört vor Aufregung das Blut in den Ohren rauschen. Sein Herz beginnt zu rasen. Was passiert, wenn Morgana sie entdeckt? Rabans Blick fliegt hierhin und dorthin, aber er kann niemanden entdecken. Zum Glückt taucht die dunkelhaarige, große Frau, mit den seltsam gefärbten Augen, nirgends auf. Er atmet bewusst langsam ein und aus, um sich zu beruhigen. Doch das Geräusch ist erneut zu hören.

»Was ist das? Es kommt mir bekannt vor, so ein kurzer, heller Ton.«

»Ich sehe etwas, was du nicht siehst«, schrecken ihn die Gedanken seines Freundes auf. Er fährt richtig zusammen und hebt bereits seinen Haselstock, um damit einen möglichen Angriff abzuwehren.

»Hey, bleib ruhig«, keckert der Rabe nun laut krächzend.

»Still! Was fällt dir ein, so einen Lärm zu machen? Wenn Morgana hier lauert, ergeht es uns schlecht«, fordert der Junge gedanklich.

»Aber hier ist doch niemand. Du sorgst dich unnötig, wirklich!« Die Antwort des Vogels erfolgt nun wieder gedanklich, auch wenn er sich offensichtlich sicher ist, mit seinem Freund in diesem Raum allein zu sein. »Und wie ist das, willst du nun meine Frage beantworten? Was sehe ich, das du nicht zu bemerken scheinst?«

Raban schaut sich erneut in dem Dämmerlicht um, aber ohne seinen Platz zu verlassen. Der Kamin ist zu sehen und ein alter Arbeitstisch, vor dem ein ebenso betagter Stuhl steht. In dem Kamin befinden sich die Reste auseinandergefallener Holzscheite, die bei ihrem letzten Besuch noch etwas wohlige Wärme in diesem alten Gemäuer erzeugt hatten.

Er schüttelt verwundert seinen Kopf. War seit ihrer Anwesenheit damals niemand hier, also auch nicht Morgana? Die beiden alten Kerzenhalter auf dem Arbeitstisch sehen aus wie damals. Es wurden keine neuen Kerzen hineingesteckt. Erneut blickt Raban in alle Zimmerecken. Sollte dort etwas sein, was Röiven bemerkt hat? In diesem Moment erklingt wieder der helle Ton.

Diesmal kann Raban ihn lokalisieren und richtet seinen Blick nach unten.

»Hast du es endlich bemerkt?«, keckert laut lachend der Kolkrabe.

»Äh, du meinst? Von hier kam das Geräusch?« Verwirrt schaut der Junge nach unten. Raban fröstelt etwas und seine Arme, seinen ganzen Körper durchläuft ein kaum merkliches Zittern. Die leichten Sommersachen sind vom Regen völlig durchnässt und lassen den Jungen frieren. In diesem Moment geschieht es. Ein Wassertropfen löst sich am gebeugten Arm des Jungen und tropft von dort in eine große Wasserlache, die sich mittlerweile auf dem Boden gebildet hat. Ein helles »Pitsch«, ist zu hören, als der Tropfen schwer auf dem Boden aufschlägt.

»Richtig. Du, besser gesagt, das tropfende Wasser aus deiner Kleidung hat die Töne hervorgerufen.«

»Also das ist doch … Aber es ist wirklich nicht warm hier und meine Klamotten sind völlig durchnässt. Vor lauter Anspannung habe ich das nicht bemerkt und die Geräusche falsch zugeordnet.« Aufatmend wirft der Junge noch einmal seinen forschenden Blick überall hin. Als er jetzt sogar Spinnweben an vielen Stellen sieht, ist er überzeugt, mit Röiven allein hier zu sein. Es ist eindeutig, dieser Raum wurde seit längerer Zeit nicht genutzt. Raban zieht den Tarnumhang herab und faltet ihn zu einem kleinen Päckchen. Ein leichter Druck lässt das restliche Wasser heraustropfen, dann steckt der Junge ihn in seine Hosentasche.

Da es in dem Raum seit Wochen kein wärmendes Feuer gegeben hat, ist es in dem alten Gemäuer richtig kalt. Mit »Incendere« entzündet der Junge die Holzreste im Kamin. Sofort strahlt etwas Wärme in den Raum. Weil sie nur hier sind, um die kleine Keramik zu holen, ist es nicht nötig, weiteres Holz nachzulegen, zumal Raban hier nirgends einen Vorrat entdecken kann.

Er blickt zum Arbeitstisch, unter dem noch immer ein Karton steht, aus dem unterschiedliche Gegenstände hervorschauen. Kristallvasen, Tonfiguren, ein verbeulter Kupferkessel, einige Bücher und eine Messingsichel sind zu erkennen. Ja, hier ist tatsächlich niemand gewesen, die Sachen lagen damals genauso herum. Der Junge stöbert nun in den Dingen, die auf dem Tisch liegen, während Röiven zu einem Stuhl hinüberfliegt, auf dessen Lehne er sich niederhockt. Interessiert verfolgt er die Suche des Jungen, der schnell die kleine Keramik findet, die drei, Rücken an Rücken stehende Frauen darstellt.

Sobald Raban sie in der Hand hält, löst sie erneut einen leichten Schauer aus, der ihm über den Rücken läuft. Genauso wie vor einigen Wochen. Raban betrachtet sie genauer. In den Augen der Figur erkennt er winzige, grüne Funken. Das verhaltene Leuchten ist immer noch vorhanden, was auch immer das bedeuten mag. Die Härchen in seinem Nacken richten sich auf, und sein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ein eiskalter Finger streicht über seinen Rücken, dem ein feines Kribbeln folgt und bis zum Kopf hinauf läuft. Entsetzt stellt er die Figur auf den Tisch zurück. Sein Unbehagen verschwindet so schnell, wie es gekommen ist. Was bedeutet das, welche Kraft ist mit dieser Darstellung der Hekate verbunden?

Raban erinnert sich, den Namen dieser Darstellung im Museum in der Hauptstadt herausbekommen zu haben. Die Bedeutung der Hekate hat er zwischenzeitlich aber noch nicht recherchiert. Das muss er dringend nachholen!

Raban lässt mit »Solus« eine Leuchtkugel erscheinen, um alle Gegenstände auf dem Arbeitstisch besser betrachten zu können. Er schaut sich die Deckblätter der aufgeschlagenen Bücher an. Richtig, er erinnert sich. Er hatte sie in Barans Zimmer gesehen: »Magische Artefakte und deren Anwendung« und »Die Anwendung schwarzer Magie im Mittelalter«.

Im ersten Buch liegt noch immer der Holzstab, der vermutlich ein Zauberstab sein könnte. Erneut betrachtet der Junge die Oberfläche des dunklen Holzes. Der Stab ist im Griffbereich mit Schnitzereien verziert. Die Maserung des Holzes glänzt leicht. Er rollt den kurzen Stab zwischen den Fingern. Er vernimmt jetzt ein feines Wispern. Das ist also ein echter Zauberstab, den Morgana wahrscheinlich zur Verstärkung ihrer magischen Kräfte einsetzen wollte. Doch warum hat sie ihn hiergelassen? Dort, wo der Stab im Buch steckte, liest er erneut die Anleitung, mit deren Hilfe Baran die Büste der Medusa zum Leben erweckt haben muss.

»Wenn Morgana etwas mit der Figur der Hekate vorhatte, ist es besser, wenn ich sie an mich nehme«, überlegt Raban. »Ich werde auch diese Bücher und ihren Zauberstab mitnehmen. Falls sie hier wieder auftaucht, soll sie diese Gegenstände nicht nutzen können!«

»Jo. Jepp. Das ist besser so!«, stimmt Röiven zu.

Der Junge steckt den Zauberstab in eine Hosentasche, schließt beide Bücher und legt sie aufeinander. Während er das tut, scheint das grünliche Glimmen in den Augen der Hekate zu wachsen. Nimmt es tatsächlich zu? Raban ergreift die Figur vorsichtig mit zwei Fingern und betrachtet sie genauer. Erneut beschleunigt sich bei der ersten Berührung sein Herzschlag. Die bisher kleinen Lichtfunken sind tatsächlich größer geworden. Das grüne Leuchten scheint ihn zu hypnotisieren. Raban meint, zusätzlich ein feines Wispern zu hören. Als er außerdem eine leichte Vibration auf der Oberfläche spürt, stellt er die seltsame Gestalt erschrocken zurück.

»Was ist los?«, fragt Röiven sofort. »Du bist ja richtig blass geworden. Stimmt etwas nicht?«

»Ich weiß nicht. Die Figur ist mir unheimlich. Ich habe dir doch von meinem Traum erzählt, in dem Morgana durch ein helles, grünes Licht in die Figur gesaugt worden ist. Das glimmende Grün nimmt zu, sobald ich die Figur in der Hand halte. Außerdem habe ich eine Stimme gehört. Ich konnte aber nicht verstehen, ob und was das für Worte waren. Es ist fast, als ob Leben in der Figur steckt. Sie begann dann auch noch zu vibrieren.«

»Was erzählst du da? Wie soll das denn möglich sein? Für mich hat sich nichts am Aussehen der Figur geändert.«

»Ja, sie sieht jetzt völlig normal aus. Aber als ich sie in der Hand hielt, war es so. – Wie soll ich die Hekate dann mitnehmen? Ich muss sie sicher aufbewahren. Falls ein Zauber darauf liegen sollte, wie kann ich mich davor schützen?«

»Ich weiß etwas, was du auch weißt!«, neckt der große Vogel. »Du bist doch sonst schnell von Begriff. Na –?«, keckert der Rabe. »Da hilft Silber, es unterbindet doch jeden Zauber!«

»Stimmt. Wie konnte ich das nur vergessen? – Aber woher bekomme ich … Ha! Ich weiß schon. Warte einen Moment, ich bin gleich wieder hier.«

Die Luft flirrt, noch bevor der Kolkrabe etwas erwidern kann.

»Wow. Manchmal ist Raban sehr schnell, ein anderes Mal aber weniger. Wo er jetzt wohl hin ist?«, grübelt der schwarze Vogel noch, als der Junge bereits wieder erscheint. Nachdem das Gleißen verschwunden ist, fragt der Rabe: »Was willst du denn mit dem Vogelkäfig? Hast du den aus dem Kellerraum geholt, in dem Zoe und die anderen Fithich gefangen gehalten worden sind?«

»Genau. Jetzt muss ich dir wohl auf die Sprünge helfen. Morgana hatte die ersten Käfige doch gegen neue ausgetauscht, die mit Silberdraht umflochten sind. Dies ist einer davon.«

»Ja, jepp, gute Idee«, stimmt der Kolkrabe zu. »Natürlich wusste ich, dass dort geeignete Behälter zu finden sind. Ich wollte dir die Freude nicht nehmen, alleine darauf zu kommen. Hä hä hä«, keckert der Vogel.

»Ja, ist schon gut. Deine Intelligenz ist meiner heute weit überlegen. Auch wenn deine klugen Augen auf meinem neuesten Bild von dir nicht zu sehen sind. Du weißt schon, die Silhouette …«

»Dafür ist aber mein kräftiger …«, beginnt der Rabe, als auch schon beide in lautes Gelächter ausbrechen.

Es dauert etwas, bis sie sich wieder gefangen haben.

»Jetzt sollten wir schnell von hier verschwinden, damit ich mir trockene Klamotten anziehen kann. Ich bekomme sonst noch einen Sommerschnupfen.«

»Ich verstehe nicht, warum du deine Kleidung nicht schon getrocknet hast«, entgegnet der Kolkrabe krächzend.

»Dafür reichte das Feuer der wenigen Reste im Kamin doch nicht«, erwidert der Junge. Röiven hält seinen Kopf schräg und klappert mit den Augendeckeln. Auffordernd sagt der Vogel nur ein Wort:

»Nun?«

»Ähem. Du hast Recht«, stutzt Raban und schlägt sich eine Hand vor die Stirn. »Ich bin heute wohl nicht in Form. Wofür kann ich zaubern? – Renovo!«

Ein leichtes Flimmern erscheint, dann sind nicht nur die Wasserpfützen auf dem Fußboden verschwunden, auch die Kleidung des Jungen ist trocken. Seine Haare liegen wie frisch gekämmt auf dem Kopf und sind auch nicht mehr nass. Raban schaut verlegen zu seinem Freund: »Danke! Darauf hätte ich auch früher kommen können.«

»Kein Problem. Hab ich doch gern gemacht.«

Der Junge nimmt nun die Figur der Hekate und meint, erneut das Vibrieren zu spüren, bevor er sie schnell im Käfig loslässt. Das grüne Leuchten ist auch bereits stärker geworden. Als er die Käfigtür schließt, reduziert es sich, bis nur noch kleine Punkte glimmen. Jetzt klemmt er sich die beiden Bücher unter den Arm, nimmt den Käfig hoch und blickt sich noch einmal prüfend um. Als Röiven sich auf seine Schulter setzt, flirrt die Luft.

Der Raum ist verlassen.

Raban und Röiven Die Figur der Hekate

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