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Die Zeit von 1933 - 1938

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1933 ist ein ganz besonderes Jahr in unserer Geschichte.

Ottmar, inzwischen 14 Jahre alt, hatte Konfirmation. Das ist nichts außergewöhnliches, wenn man evangelisch getauft ist.


Auch dass sein Opa, der Schneider aus Sulzbach-Rosenberg, im März dieses Jahres verstarb, sei als Ergänzung des Gesamtgeschehens nur kurz erwähnt.

Was das Jahr 1933 allerdings in die Geschichtsbücher eingehen lässt, ist die Machtergreifung Adolf Hitlers. Die Zeit der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (NSDAP) und des Nationalsozialismus war gekommen. Und Nürnberg spielte dabei eine ganz besondere Rolle. Denn hier fanden von 1933 bis1939 die alljährlichen Reichsparteitage der NSDAP statt. Mit der Luitpoldarena entstand der damals größte Aufmarschplatz der Welt für insgesamt 150.000 Teilnehmer. Die Jugend Deutschlands wurde umworben, in die Hitlerjugend (HJ) einzutreten und für die Mädchen gab es den Bund Deutscher Mädel (BDM).

Nun stellt sich natürlich die Frage, inwieweit sich „Familie Müller“ von dieser neuen Welle hat mitreißen lassen.

Betrachten wir zunächst den Vater von Ottmar und Anneliese. Er war Beamter und inzwischen aufgestiegen zum Verwaltungsinspektor.

Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 besagte u.a., dass ein Beamter, der nicht die „Gewähr sich jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat einzusetzen“ bot, entlassen werden konnte – bei Fortzahlung der Bezüge für nur 3 Monate. Entlassene Beamten wurden anschließend einem Dienststrafverfahren unterworfen. Jeder Beamte musste also ab April 1933, wollte er nicht die Existenz seiner Familie riskieren, ein „dienstlich einwandfreies Verhältnis“ zum „Nationalen Staat“, sprich zur NSDAP, haben. Eine gänzliche Distanzierung von der „Bewegung“ – selbst die passive – wurde mit wenigen Ausnahmen nicht geduldet. Unter solchen Voraussetzungen war es kein Wunder, dass allein im April und Mai 1933 Millionen Anträge zur Aufnahme in die NSDAP gestellt wurden. (1)

[Hinweis: Die Fußnoten (1) verlinken direkt zu den entsprechenden Quellen im Internet. Im Kapitel "Quellenangabe" sind die Fußnoten namentlich aufgeführt]

Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist also auch der Vater von Ottmar der NSDAP beigetreten. Ob er dies aus Überzeugung oder eher widerwillig getan hat, ist mir nicht bekannt. Es macht im Ergebnis auch keinen Unterschied. Hatte er überhaupt eine Wahl – bei den bekannten Konsequenzen? Wie hätte ich mich verhalten? Genau so!?

Um ihre Eignung für den nationalsozialistischen Staatsdienst nachzuweisen, mussten die Beamten nach dem neuen Gesetz von 1933 außerdem einen ausführlichen Ariernachweis erbringen. Man musste also für sich und seinen Ehepartner belegen, dass man nicht von jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Das Zusammentragen dieser Unterlagen muss viel Arbeit gewesen sein. Die Mappe von Ottmars Vater existiert noch, mit Geburts-, Todes- und Heiratsurkunden über drei Generationen in zwei Linien, insgesamt 42 Dokumente.

Welche Gedanken hat er sich wohl gemacht, als er diesen Ariernachweis erstellte? Sprach er mit seiner Familie darüber? Mit der Frau sicher – auch mit den Kindern? War allen klar, welche Stigmatisierung und Diskriminierung dies für jene bedeutete, die diese „Prüfung“ nicht bestanden?

Der Reichsparteitag 1933 fand vom 30. August bis 3. September statt und stand unter dem Titel „Reichsparteitag des Sieges“, was Bezug nimmt auf die Machtübernahme Hitlers und den Sieg über die Weimarer Republik.

Diese Reichsparteitage müssen stets ein riesiges Spektakel gewesen sein, mit einer religionsähnlich anmutenden Ausrichtung auf Adolf Hitler, mit zahlreichen Aufmärschen und Paraden aller Organisationen des NS-Staates (Wehrmacht, Sturmabteilung [SA], Schutzstaffel [SS], Hitler-Jugend, Reichsarbeitsdienst, Bund Deutscher Mädel etc.) und mit der Verkündung von wichtigen Eckpunkten der nationalsozialistischen Ideologie. So wurden während des Reichsparteitages 1935 die Nürnberger Rassengesetze „zum Schutz des deutschen Blutes“ verkündet, die die antisemitische Ideologie der Nationalsozialisten auf eine juristische Grundlage stellten. (2)

War „Familie Müller“ dabei – auf diesen Reichsparteitagen? Haben Sie die Paraden bestaunt, den Reden Hitlers live zugehört, ihn bejubelt und ihre Fähnchen voller Begeisterung geschwenkt? Immerhin fand das ganze Geschehen ja quasi „vor ihrer Haustür“ statt. Da liegt es doch nahe, dass man mit dabei sein will. Ich weiß nicht, ob dem so war.

Mit großer Wahrscheinlichkeit war Ottmar in der Hitler-Jugend, wie viele seiner Generation. Mit 14 Jahren konnte man dort Mitglied werden und dieses Alter hatte Ottmar 1933 ja bereits erreicht. Vielleicht ist er sogar selbst bei der Parade auf dem Reichsparteitage mit marschiert. Das ist durchaus möglich.


Auf den Versammlungen, Fahrten und Zeltlagern der HJ sollte die Jugendlichen frühzeitig auf die ihnen zugedachte Rolle als nationale Rassenelite vorbereiten werden. Sie wurden angehalten, alles Schwache zu verachten und „auszumerzen“. Letztendlich wurden sie so auf eine vielseitige Einsetzbarkeit für einen künftigen Krieg vorbereitet. (3)

Anneliese wurde 1935 14 Jahre alt und ist dann wohl Mitglied im „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) geworden. Vielleicht war sie vorher schon beim „Jungmädelbund“ (JM), der den Mädchen ab 10 Jahren offen stand.

Während es bei den Jungen um die Förderung von Kraft, Ausdauer und Zähigkeit ging („Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“), sollten die Mädchen durch gymnastische Schulung vor allem Anmut entwickeln und so auf ihre künftige Rolle als Frau und Mutter vorbereitet werden. (4)

Ob Ottmar und Anneliese diese Absichten des NS-Regimes mit ihren jungen Jahren schon durchschaut haben? Wohl eher nicht. Aber die Eltern müssten es gesehen haben. Wie standen sie dazu? Haben sie es unterstützt, dass ihre Kinder diesen parteinahen Organisationen angehörten? Nun, wenn man als Vater schon Mitglied in der NSDAP war, dann lag das wahrscheinlich sehr nahe …

Auch der nächste Schritt war wohl vorgezeichnet:

Im Februar 1938 – d.h. mit 19 Jahren – ging Ottmar zu einem mehrwöchigen Kurs auf die NSKK Motorsportschule Regensburg. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) war eine paramilitärische Unterorganisation der NSDAP. Auf solchen Schulen, von denen es insgesamt 26 in ganz Deutschland gab, fand die motortechnische Massenausbildung der künftigen Soldaten statt. Für die sogenannte „Motor-HJ“, vermutlich war Ottmar hier Mitglied, stellte das NSKK Motorräder, Reparaturwerkstätten, Ausbildungsmaterial und vor allem fachliche Ausbilder zur Verfügung. Letztere waren für die Vorbereitung auf die Führerscheinprüfung zum damaligen Führerschein IV (bis 250 cm³ Hubraum) zuständig. (5)

Ottmar schreibt an seinen Eltern von der NSKK Motorsportschule folgende Postkarte:


Regensburg, 17.2.38

Liebe Eltern! Bin gut angekommen. Vorläufig geht noch alles drunter und drüber. Das wird wohl noch die ganze Woche so gehen. Nächste Woche werde ich wohl Zeit haben, ausführlich zu schreiben. Wenn Ihr etwas schicken wollt, so nur Geld und einen Schlafanzug.

Einstweilen herzliche Grüße Ottmar

Ende des Jahres 1938, konkret in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, fanden die vom nationalsozialistischen Regime organisierten und gelenkten Gewaltmaßnahmen gegen Juden im gesamten Deutschen Reich statt. Sie ging als (Reichs-)Kristallnacht oder Reichspogromnacht in die Geschichte ein. Dabei wurden etwa 400 Juden ermordet oder in den Suizid getrieben. Über 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Die Pogrome markieren den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zu deren systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später in den Holocaust mündete. (6)

Auch in Nürnberg hat die Sturmabteilung (SA) der NSDAP gewütet, die Synagoge in Brand gesetzt, die jüdischen Geschäfte zerstört und Juden auf offener Straße erschlagen. „Von diesem Tag an konnte wohl niemand mehr behaupten, er habe nicht gewusst, was den Juden widerfährt.“ (7)

Wie hat man in der Familie Müller diese Ereignisse aufgenommen? Hatte man jüdische Freunde, Bekannte, Nachbarn, bei denen man die Entwicklung hautnah miterleben konnte? Was dachte man über die Juden? Welche Gefühle hatte man ihnen gegenüber? Mitleid, Angst, Wut oder Hass? Und woher kamen diese Gefühle? Hat man sich von der Propaganda, den „Medien“, aufhetzen und anstecken lassen?

Ich weiß es nicht, denn auch über dieses Thema wurde nach dem Krieg bei uns nie gesprochen.

OTTMAR zum Nach-Denken

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