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Brooklyn Heights

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Am Abend desselben Tages

Die Klingelanlage verbreitete einen sanften Ton und zeigte auf dem Display ein dämmriges Bild. Im Eingangsbereich des kleinen Stadthauses, das mit seiner rötlich-braunen Fassade und Feuertreppe für diese Ecke Brooklyns geradezu typisch war, warteten zwei junge Männer und eine Frau.

»Rührst du den Reis weiter?«, bat Debby und reichte den Holzlöffel an Jay, während sie zur Tür lief und den Besuch herein ließ.

»Herzlichen Glückwunsch zu eurer Finanzierung! Und vielen Dank für die Einladung«, wurde sie von Hector Sanchez begrüßt. Der junge Mann trat über die Türschwelle und überreichte Debby eine Weinflasche. »Ein Sauternes, Château La Crotte. Lena, Dave und ich haben zusammengelegt.«

»Vielen Dank, Hector. Der macht ja wirklich was her.«

»Am Ende überleben schließlich nur die am besten Angepassten«, näselte Dave Bell. »Und am Institut erzählt man sich, dass ihr neuerdings in den edelsten Restaurants Manhattans diniert. Hoffentlich schmeckt euch der Tropfen überhaupt noch.«

»Stell ihn einfach kalt, Dave, dann werden wir das gleich mal überprüfen. Den Wein hat doch bestimmt dein Schatz ausgesucht, oder?«

»Touché«, gestand Lena Rivic mit einem Lächeln. »Und hier ist noch der Gasbrenner aus dem Labor, um den du mich gebeten hattest.«

Jay gesellte sich aus der Küche hinzu und begrüßte den Besuch.

»Perfektes Timing, Leute. Wir sind gerade fertig geworden. Lass mich dir die Sachen abnehmen, Lena.«

Die Runde nahm an einem einfachen Holztisch in der Wohnküche Platz und Jay servierte ein duftendes Fenchelrisotto. Als sie die Vorspeise beendet hatten, erhob Dave sein Glas.

»Einen Toast auf Debby und Jay. Eines Tages wird die Welt von ihnen sagen, dass es ihre Pillen waren, die den Feminismus ausgelöscht haben.«

Lena musste prusten und knuffte ihren Freund in die Seite.

»Was soll denn das bitte heißen?«

»Na, was wohl? Versetz dich doch einfach mal in die Situation künftiger Eltern. Durch die Wahlfreiheit entsteht da eine knallharte Konkurrenz: Sohn oder Tochter? Und es ist ja wohl klar, was die große Mehrheit darauf antworten wird.«

»Auf Wiedersehen, Ladies«, vollendete Hector mit einer winkenden Handbewegung.

»Interessante Sichtweise. Welche Argumente sprechen denn eurer Meinung nach für Jungs?«, wollte Debby wissen.

»Was für eine Frage!«, platzte es aus Dave heraus. »Jungs sehen zu dir auf, machen dich einfach stolz.«

Debby runzelte die Stirn.

»Natürlich möchten Eltern stolz sein. Aber darf ich dich daran erinnern, dass es inzwischen die Mädchen sind, die in der Schule bessere Noten erzielen. Und es sind die Frauen, die häufiger ein Studium abschließen.«

Hector zuckte mit den Achseln.

»Schön und gut. Aber kannst du mir auch nur ein einziges Land auf der Welt nennen, in dem zur Abwechslung mal die erstgeborene Tochter idealisiert würde? Seien wir doch mal ehrlich: Unter dem Strich zählt nur ein erfolgreicher Stammhalter, der den Namen der Familie weiterträgt.«

»Mit Jungs kannst du ins Stadion gehen. Oder zum Angeln«, pflichtete ihm Dave bei. »Und du musst dir auch keine Sorgen machen, dass sie in der Pubertät plötzlich schwanger werden.«

Debby tranchierte ein Roastbeef, richtete die Scheiben mit Rosmarinkartoffeln an und reichte die Teller in die Runde.

»Das ist die traditionell männliche Sichtweise. Aber darf ich die Herren bitte im 21. Jahrhundert Willkommen heißen?«

Hector zog eine Augenbraue hoch.

»Und was soll das nun bitte bedeuten?«

»Zunächst einmal, dass wir in einem wohlhabenden Land leben. Auf finanzielle Unterstützung durch ihre Kinder sind glücklicherweise kaum noch Eltern angewiesen. Und selbst wenn doch, gibt es zwischen Töchtern und Söhnen kaum noch Unterschiede in der ökonomischen Leistungsfähigkeit.«

»Umso größere dafür in der sozialen«, ergänzte Lena. »Viel wichtiger als der bloße Erfolg des Nachwuchses ist für Eltern doch, dass ihre Kinder glücklich werden – und dass sie selbst an diesem Glück teilhaben dürfen.«

Dave schob sich ein großes Stück Fleisch in den Mund.

»Das klingt für mich ehrlich gesagt ziemlich esoterisch, Schatz. Geht es bitte etwas konkreter?«

Lena überlegte einen Moment lang, bevor sie antwortete.

»OK, stellt euch einfach zwei ansonsten identische Elternpaare vor, von denen eines eine erwachsene Tochter und das andere einen erwachsenen Sohn hat. Welches Elternpaar erhält mehr Aufmerksamkeit in Form von Anrufen, Nachrichten und Besuchen?«

»Jaja, schon klar«, murrte Hector. »Männer leiden nun mal nicht an innerem Wortstau. Wir benutzen so viele Wörter wie nötig – statt wie möglich.«

»Welch’ beschönigende Umschreibung für: Wir sind zu bequem, um familiäre Kontakte zu pflegen«, erwiderte Lena augenzwinkernd.

»Und welches Elternpaar genießt bei Familienfesten eigentlich die höhere Priorität?«, fragte Debby weiter.

»OK, in der Regel das der Tochter«, gab Dave zu. »Aber das liegt doch nur daran, dass Männer unkomplizierter sind. Wenn Frauen bei dem Thema die Planung übernehmen, gibt es unter dem Strich einfach weniger Stress.«

Debby warf Lena einen vielsagenden Blick zu und wandte sich wieder den beiden Männern zu.

»Dann drehen wir die Uhr doch mal ein paar Jahre vor. Welches Elternpaar bekommt die Enkelkinder häufiger zu sehen? Ich könnte auch fragen: Wie viele Frauen besuchen mit ihrem Nachwuchs lieber die Schwiegermutter als die eigene Mutter?«

»Jaja, Blut ist eben dicker als Wasser«, erwiderte Dave mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Und das gilt auch aus Sicht der Schwiegermutter«, gab Lena zu bedenken. »Für sie heißt es in puncto Enkelkind schließlich: Mama’s baby, Papa’s maybe. Evolutionsbiologisch läuft die Mutter eines Mannes seit jeher Gefahr, ein Kuckucksenkel zu versorgen. Nur die Mutter einer Frau kann dagegen sicher sein, dass ihr Enkelkind die eigenen Gene trägt.«

»Hinzu kommt, dass heute die Mehrzahl aller Ehen wieder geschieden wird. Und wann erhält schon mal ein Mann das Sorgerecht für die Kinder?«, warf Debby ein. »Was in der Konsequenz nichts anderes bedeutet, als dass die Eltern des Mannes spätestens nach der Scheidung auf das Wohlwollen seiner Ex angewiesen sind, wenn sie die eigenen Enkel mal sehen möchten.«

Lena hatte sichtlich Spaß an der Diskussion gefunden.

»Und jetzt drehen wir die Uhr noch ein paar Jahre weiter vor. Wessen Eltern werden im Alter wohl liebevoller umsorgt?«

Die beiden Männer tauschten einen Blick und prosteten sich süffisant zu. Debby seufzte in gespielter Verzweiflung.

»Ich befürchte, wir predigen tauben Ohren.«

»Vielleicht waren unsere Argumente noch etwas zu abstrakt«, pflichtete Lena bei und setzte ein maliziöses Lächeln auf. »Die Staatsanwaltschaft ruft Hector Sanchez in den Zeugenstand. Señor Sanchez, wie oft haben Sie im letzten Monat freiwillig Ihre Eltern angerufen?«

»Wird das jetzt ein Verhör hier?«, grinste Hector. »Ich hatte am Institut ganz schön viel um die Ohren.«

»Einspruch, Euer Ehren! Das ist eine Schutzbehauptung. Die anwesenden Ladies arbeiten ebenso viel und pflegen trotzdem einen intensiven Kontakt zu ihren Lieben.«

Jay, die der Diskussion wortlos gefolgt war, griff spontan nach ihrem Messer und ließ den Schaft auf die Tischplatte fahren.

»Einspruch stattgegeben.«

»Und wann hat Señor Sanchez eigentlich seine Mutter das letzte Mal zum Geburtstag besucht?«, fuhr Lena mit gespielter Strenge fort.

Hector hob entschuldigend die Hände.

»Das mag schon etwas länger her sein, aber die Frage ist unfair. Sie wohnt ja nun wirklich nicht gerade um die Ecke. Außerdem musste ich letztes Mal zu dieser Konferenz in Seattle, weil ...«

»... weil du unseren Professor nicht enttäuschen wolltest, ich weiß«, unterbrach ihn Lena. »Debby, an wie vielen Geburtstagen deiner Mutter bist du mal nicht nach Long Island gefahren?«

Debby lächelte verschmitzt und formte mit ihren Fingern eine Null.

»Keine weiteren Fragen, Euer Ehren«, mimte Lena weiterhin die Staatsanwaltschaft. »Die Beweisaufnahme wird mit dem Thema der Enkelbesuche fortgesetzt. Ich rufe Dave Bell in den Zeugenstand. Mister Bell möge sich an den letzten Sommer und die Scheidung seines Bruders erinnern. Wie oft haben seine Eltern ihr Enkelkind seither wiedergesehen?«

»So genau weiß ich das nicht. Ein paar Mal sicher schon.«

»Einspruch! Der Zeuge äußert Vermutungen.«

»Stattgegeben«, entschied Jay.

»Für das Protokoll, Schatz: Der zweite Weihnachtstag war das erste und einzige Mal. Nicht umsonst sind sie einer dieser vielen Selbsthilfegruppen von Großeltern beigetreten, die sich vom Leben ihrer Enkelkinder ausgeschlossen fühlen.«

Dave rümpfte die Nase.

»Mein Bruder bekommt sein Kind ja selbst nur alle paar Wochenenden mal zu sehen. Da ist er eben froh, wenn er etwas Zeit mit ihm verbringen kann.«

»Danke, keine weiteren Fragen, Euer Ehren. Der Zeuge ist entlassen. Bleibt zum Abschluss der Beweisaufnahme noch der Punkt, wessen Eltern im Alter liebevoller behandelt werden. Worin besteht doch gleich die typisch männliche Reaktion, wenn die eigenen Eltern pflegebedürftig werden?«, fragte Lena in die Runde.

»Duck and cover!«, gab Debby zurück. »Abtauchen und in Deckung gehen. Wenn Eltern familiär gepflegt werden, dann in der Regel von Töchtern. Für Söhne ist es offenbar eine Art Naturgesetz, dass elterliche Pflege zuerst einmal weiblich sein muss.«

Dave nahm einen tiefen Schluck aus seinem Weinglas und sah aus den Augenwinkeln, dass Hector es ihm nachtat.

»Der Saal möge sich erheben«, brach Jay nach einigen Momenten das Schweigen. »In der Sache Sohn gegen Tochter entscheidet das Gericht wie folgt: Die moderne Elterngeneration wünscht sich von ihrem Nachwuchs soziale Teilhabe in allen Facetten des Lebens. Von einer Tochter erhält sie diese Teilhabe mit einer viel höheren Wahrscheinlichkeit und Intensität als von einem Sohn. Im Namen der künftigen Eltern mit Wahlfreiheit ergeht daher folgendes Urteil: Töchter sind die neuen Söhne.«

Jay ließ den Schaft des Messers auf die Tischplatte fahren.

»Die Verhandlung ist geschlossen. Das Gericht zieht sich zurück, um die Henkersmahlzeit vorzubereiten.«

»Na da bin ich aber froh, dass wir Männer bei der Familienplanung auch noch ein Wörtchen mitzureden haben«, stellte Dave erleichtert fest.

»Bist du sicher, Schatz? Ich meine, was nutzt den Männern ihr Wunsch nach Söhnen, wenn die Frauen lieber Töchter wollen? Die entscheidende Frage lautet schließlich: Wer schluckt die Pille?«

Jay kam mit einem Tablett aus der Küche und stellte es grinsend vor den beiden Männern ab.

»Crème brûlée und ein Gläschen Sauternes, irgendjemand?«

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