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7 April 2023, Rheintal

„Was hast du da für einen lustigen roten Ball, Zacharias?“

Hilde deutet auf meinen Wanderstab, der an einer Wand im Erdgeschoss lehnt, direkt neben den bunten Schulranzen.

„Mein Schutzgeist“, behaupte ich. Mein Ruf ist anscheinend nicht bis zu Hilde vorgedrungen, und ich sehe keinen Grund, das heute zu ändern.

Am Geländer Halt suchend, tastet sich Hilde die Treppe ins Kellergeschoss hinunter. Die riesige schwarze Taschenlampe in der anderen Hand haltend, winkt sie mich zu sich.

Ich folge ihr ins Dunkel, versuche die Umgebung im Schein der Lampe einzuordnen.

Unten liegt ein langer Gang vor uns, der Boden einen halben Finger breit von Wasser bedeckt. Steckdosen ragen an korrodierten Kabeln aus der Wand, scheinen uns neugierig anzuglotzen. Die kahlen Betonwände bieten Flechten und Schimmel ein feucht-düsteres Zuhause. Ein paar geschlossene Türen gehen von dem Gang ab.

Die breiten Wasserlachen zu ihren Füßen ignorierend, bahnt sich Hilde ihren Weg. Ich folge ihr, meine Stiefel schlurfen durch das schlierige Nass.

„Hier unten haben wir durchgehalten“, sagt Hilde mit leiser Stimme.

„Vier Wochen.“

Sie öffnet die hinterste der Türen, schließt erst das Sicherheitsschloss auf und drückt dann resolut die Klinke herunter.

Wir betreten einen riesigen Heizungsraum. Hilde betätigt einen Schalter im Dunkeln und grelles Licht raubt mir für einen Augenblick die Sicht.

Wie ein Götze aus grauer Vorzeit hockt der dunkelrote Heizkessel in der Mitte des Raums, streckt seine staubigen, verwinkelten Arme der Decke zu, wo sie in große Rohre münden und dann im Nichts verschwinden. Der Kessel ist mit Zeichnungen behängt. Kindliche Versuche, alltägliche Szenen zu malen:

Mama geht mit ihren Töchtern einkaufen.

Opa hat ein neues Auto.

Papa hat Pizza mitgebracht.

Und so weiter.

Dann sehe ich die fleckigen Isomatten, die im hinteren Teil des Kellerraums auf dem Boden liegen. Rosa, hellgrün, tiefblau und strahlend gelb bedecken sie den grauen Beton, ein skurriler Flickenteppich, dessen Geschichte sich mir nicht erschließt.

Hilde deutet auf den Scheinwerfer an der Tür, der auf abenteuerliche Weise mit einer Autobatterie verbunden ist.

„Selbst ist die Frau“, meint sie stolz. Schaut mich erwartungsvoll an, auf Beifall wartend.

„Du hast dich hier unten versteckt? Ganz allein?“, will ich wissen.

Sie schüttelt nachsichtig den Kopf.

„Nein, du Dummer. Mit den Kindern. Wir alle zusammen.“

Sie nähert sich einer weiteren Tür, sucht in dem gewaltigen Schlüsselbund nach dem nächsten Türöffner. Ihre Absätze klappern einsam auf dem rauen Boden. Vor der Tür bleibt sie stehen und dreht sich um. Betrachtet die Zeichnungen am Heizungskessel, dann die Isomatten. Atmet tief ein und schaut mich dann mit traurigem Blick an.

„Ein paar haben sich natürlich erkältet hier unten. Aber was sollte ich machen? Und Elke, mit ihrem Asthma…“

Sie seufzt, öffnet dann die Tür zu einem Nebenraum. Ich folge ihr vorsichtig. Hier unten ist noch nie ein Kind gewesen. Da bin ich mir sicher. Aber ich halte meinen Mund, denn im Nebenraum kann ich bereits die Regale mit den Vorräten erkennen.

Hilde knipst eine weitere improvisierte Lichtquelle an und ich staune:

Dosen, hauptsächlich Obst, Erbsen und Kondensmilch. Ein paar Hundert bestimmt, die Regale in dem kleinen Raum sind bis unter die Decke gefüllt.

Ich entdecke Säcke mit Reis, eingeschweißte Trockenfrüchte und sogar ein paar Flaschen Wein. Daneben bunte Dosen mit dem fröhlichen Gesicht eines Pekinesen. Für den Pudel, hoffe ich.

In einem weiteren Regal stapeln sich in Plastik eingewickelte Süßigkeiten: Schokoriegel, Kekse und sogar Überraschungseier.

„Ist nicht gut für die Zähne, ich weiß“, lacht Hilde. „Aber man kann den kleinen Mäusen ja nicht alles verbieten, oder?“

Sie nimmt eine Palette mit Maisdosen aus einem der Regale und streckt es mir entgegen.

„Wenn man schon mal einen Mann im Haus hat, nicht wahr?“

Ihre grünen Augen funkeln sogar hier unten in dem muffigen, feuchten Halbdunkel magisch durch mich hindurch.

Ist die Schule vielleicht mein kleines Hexenhaus? Ich habe so lange gesucht, habe ich es jetzt vielleicht gefunden?

Ich wische die Ungereimtheiten der letzten Stunden beiseite, während Hilde mir Palette um Palette reicht.

Mais, rote Bohnen, Mehl in Metallkisten, Trinkwasser in intakten Kartonverpackungen, Dosenmandarinen und Thunfisch.

Die Haltbarkeitsdaten liegen natürlich alle in der Vergangenheit, aber das hat nicht viel zu sagen. Weiß ich aus eigener Erfahrung.

Lächelnd greift Hilde nach einer Flasche Rotwein. Sorgfältig schließt sie die Türen ab, löscht die Lichter und wir waten durch den dunklen Gang in Richtung Treppe.

„Warum haben die Kinder ihre Schulranzen hiergelassen?“ Die Frage entweicht meinen Lippen, bevor ich nachdenken kann.

Hilde, die vor mir den Weg ableuchtet, bleibt abrupt stehen. Langsam dreht sie sich um. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, die Taschenlampe leuchtet nutzlos ins Wasser.

Sie kommt auf mich zu, ihre hohen Schuhe klingen wie dünner Regen auf dem nassen Boden.

Dicht vor mir bleibt sie stehen. Sie atmet tief ein und aus.

Dann, kalt und leise:

„Weil sie ja morgen wieder kommen. Nicht wahr?“

Stille. Ich höre sie atmen und spüre ihren Blick, der mich jetzt zu durchbohren scheint.

Sie drückt ihren Zeigefinger in meinen Bauch. Fast lasse ich die schweren Paletten fallen.

Ihr Gesicht nähert sich meinem.

„Weil sie ja morgen wieder kommen.“ Ein Flüstern, ein Hauch.

Dann berühren ihre Lippen die meinen und sie öffnet den Mund. Drückt ihr Gesicht gegen meins. Ihr Kuss schmeckt nach Tee und Gebäck. Nach Kandis und nach Zuhause.

Mir gefällt, wie sie küsst. Ich lasse die Paletten neben mich fallen und drücke Hilde vorsichtig an mich.

Als sie sich wieder von mir löst, atmet sie schwer. Ihre Hand streichelt sanft über meine Wange.

„Genug jetzt von den Kindern“, raunt sie mir gespielt vorwurfsvoll zu. „Jetzt machen die Erwachsenen sich etwas Schönes zum Abendessen.“

Sie dreht sich um und stiefelt fröhlich die Treppe hinauf. Nach ein paar Augenblicken sammle ich die Paletten wieder ein und folge ihr.

Oben höre ich den Pudel bellen.

Ascheland

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