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Wenn die Kleinen auf die Welt kommen, schreien sie.

Das Trauma der Geburt? Der Schock aus grellem Licht und fehlender Nestwärme? Oder einfach ein Gruß an uns, aus einer anderen Welt? Eine unterschwellige Erinnerung daran, dass wir in dieser Illusion, die wir „Leben“ nennen, nur zu Besuch sind.

Ein Neugeborenes misst die Welt, in die es geworfen wird, am Maßstab des Ewigen, des Unvergänglichen und Vollkommenen.

Klar, dass es schreit.

Es ist nicht so, dass sie als leere Gefäße auf die Welt kommen, die wir mit Sinn und Wissen füllen müssen. Wir bringen den Babys und Kleinkindern vielmehr die Einschränkungen und bornierten Verhaltensdramen bei, denen wir uns selbst unterworfen haben.

Wir statten sie mit Scheuklappen aus und bringen ihnen bei, sich vor dem natürlichen Lauf der Dinge zu fürchten. Wir rauben ihnen Sinne, die wir selbst längst verloren haben.

„Glaub nur das, was du siehst!“

„Spinn nicht rum“!

„Erzähl doch keine Geschichten!“

Ich denke, dass die ganz Kleinen noch um die Einheit allen Lebens wissen. Dass sie frei sind von Eitelkeit, Gier und Hass. Neugierig und spielerisch erforschen sie die neue Welt, legen ihre kleinen Hände auf die Dinge und spüren die Wahrheit hinter der Fassade.

Wir brauchen nicht lange, um ihnen ihre Unschuld zu nehmen und sie einzugliedern in die beschränkte Ignoranz unserer Welt. Und sie werden ein ganzes Leben brauchen, um wieder dorthin zukommen, wo sie längst waren.

Im Blick eines Kindes lodert die Schöpfung. Im Auge des Erwachsenen wabert nur noch der Nebel des Irrtums.

Ich betrachte eine Skizze in dem alten, fleckigen Biologie-Buch, das ich aus einem Regal im Lehrerzimmer genommen habe. Das Kapitel heißt „Leben“.

Auf einer Tischplatte sitzen eine lebendige weiße Maus mit weichem Fell und ihr glänzender Bruder aus Blech. Hinter ihnen zeigen Farbtupfer an, wie sie von der einen Seite des Tisches an die andere gekommen sind:

Winzige, rote Spuren der lebendigen Maus, zunächst nach vorne, dann zur Seite, zwei Schleifen drehend, sich dann überkreuzend und in Pendeln vorwärts bewegend.

Die Blechmaus hat eine klare, gerade Linie über den Tisch gezogen. Kein Irrtum, kein Fehler, nur das Erreichen des Ziels hatte gezählt.

Wir werden als weiße Mäuse aus Fleisch und Blut geboren und enden im Panzer des glänzenden, aber starren Blechs.

Hilde singt leise beim Kochen und ich hebe den Blick. Schaue ihr zu und genieße den schwülstigen Song, den sie zum Besten gibt.

Zur „Feier des Tages“ dinieren wir heute Abend im Musiksaal. Neben dem dunklen Konzertflügel, der seinen matten Schellack-Deckel spielbereit und sehnsuchtsvoll nach oben reckt, lecken kleine blaue Flammen an dem schweren Gusseisen der Pfannen, befeuert von wuchtigen grauen Butangasflaschen. Improvisiert, aber sehr funktionell. Ganz Hilde eben.

Sie schaut kurz auf und schickt ein mädchenhaftes Lächeln quer durch den Saal. Ich fange es mit meinem Atem ein und vertreibe mit seiner Leichtigkeit die düsteren Gedanken aus meiner Seele.

„Tisch decken, Zacharias“, flötet Hilde. Ich lege das Buch weg, krümle Else die Reste aus der Hundefutterdose auf den Boden und bereite uns nach Hildes Anweisungen einen „Platz bei der Musik“:

Trage einen schweren Tisch aus dunklem Holz neben den Flügel und stelle zwei graubraune, windschiefe Klappstühle daneben. Hilde deutet auf eine Metallkiste unter dem Flügel, und ich finde eine gebügelte weiße Tischdecke, Silberbesteck für mindestens ein Dutzend Gäste und sogar Stoffservietten. Für den Wein müssen zwei ausgespülte, leere Senfgläser herhalten.

Was Hilde aus Dosenmais, Bohnen, Kondensmilch und Reis gezaubert hat, sieht nicht eben aus wie Haute Cuisine. Aber im Vergleich zu den Mahlzeiten auf meiner Wanderschaft ist es ein Fest der Sinne!

Hilde bleibt neben ihrem Klappstuhl stehen und schaut mich erwartungsvoll an. Dann kapiere ich, stehe auf und rücke ihren Stuhl ein Stück nach hinten, schiebe sie galant ein Stückchen näher an die Tafel. Sie gluckst vergnügt, und nur zu gerne lasse ich mich auf das Spiel eines Festmahls ein.

Lege meine Serviette über meinen Unterarm und gieße einen kleinen Schluck Rotwein in Hildes Senfglas.

„Chateau Grundschule“, meine ich ernst, und Hilde kichert wie ein kleines Mädchen. Sie probiert und nickt mir anerkennend zu.

Ich fülle die Gläser und setze mich. Greife nach meiner Gabel und will mich über das Essen hermachen. Hildes Räuspern lässt mich innehalten, und ich begegne ihrem vorwurfsvollen Blick.

„Wollen wir uns nicht bedanken, Zacharias?“, flüstert sie. Schaut sich dann im Musiksaal um, als ob uns irgendjemand sehen könnte.

Ich lege die Gabel weg und betrachte sie neugierig. Ihr Blick verliert sich irgendwo in der dunkelgrün durchwachs­enen Saaldecke, sie legt die Innenflächen ihrer Hände aneinander. Dann hallt ihre Stimme feierlich durch das Halbdunkel des Saals. Sogar die Kerzenflammen flackern, scheinbar ergriffen von Hildes Akt.

„Wir danken dir für die Gnade dieser Mahlzeit, für das Wasser und den Wein, die wir trinken und für den Besuch dieses reizenden Gastes. Segne diese Mahlzeit und schütze uns, wie du es einst getan hast, vor dem Bösen. Halte deine Hand über die Kinder und schütze ihre Leben. Denn ohne sie sind wir und haben wir nichts.“

Sie senkt den Blick und schaut mich ernst an, haucht:

„Amen.“

„Amen“, wiederhole ich leise, wie hypnotisiert von Hildes Tischgebet. Else knurrt leise unter dem Flügel, und der Pudel, der oben auf der Bühne liegt, zuckt zusammen.

Wir essen, Hilde beinahe andächtig, ich gierig. Leeren die Flasche Wein, während Hilde dem Flügel traurig-wehmütige Lieder entlockt und leise dazu summt. Ich sitze neben ihr auf der Klavierbank, meine Blicke folgen staunend den über die weißen und schwarzen Tasten huschenden Fingern der seltsamen Lehrerin.

Ein Gefühl breitet sich in mir aus, es flammt in der Brust auf und wallt dann durch Bauch und Hals in meinen ganzen Körper. Ich kann es zunächst nicht benennen, es ist nicht – zumindest nicht nur – der Wein. Als Hilde den letzten Akkord ausklingen lässt, und wir in der Stille des dunklen Musiksaals sitzen, legt sie ihren Kopf an meine Schulter, das Profil im Lichtspiel der heruntergebrannten Kerzen glühend. Ich küsse ihre Stirn und begreife:

Es ist Heimat.

Ascheland

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