Читать книгу Schweben auf Zuckerwatte - Patricia Clara Meile - Страница 3

1 Wiedersehen

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Es gab jemanden, den ich nie vergessen hatte. Niemals hätte ich geahnt, wo und unter welchen Umständen ich ihn wiedersehen würde.


Wenn ich keine Tabletten nahm, herrschten in meinem Kopf nur noch Schmerzen. Um die Augen herum – bei jedem Atemzug – hatte ich ein Ziehen, was sich anfühlte wie eine akute Stirnhöhlenentzündung, die jedoch faktisch nicht vorhanden war. Der Hausarzt hatte geröntgt. Es gab keinerlei Vereiterungen. Nacken und Schultern waren pausenlos verkrampft. Der Wirbelsäule entlang verspürte ich bei Druck, auf der linken Seite, ein unangenehmes Stechen an den Querfortsätzen. Selbst der Schlaf brachte keine wirkliche Erholung mehr.


Auf meinen Augen lag meist ein trüber Schleier, durch den ich die Umwelt wahrnahm, wie durch milchiges Glas. Starrte ich in die Ferne, verlor sich mein Blick komplett. Mein Gehirn stand für einen Moment still, ähnlich einem Rechner, der sich aufgehängt hatte. Ich war unendlich ausgelaugt und erschöpft, hatte Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisprobleme. Kaum noch konnte ich die Kraft aufbringen, mich aufrecht zu halten. Mein Kreuzbein schien zu schwach, um mein moderates Körpergewicht zu tragen. Ich kam mir vor, wie von einem Lastwagen überfahren. Aufgrund von Rückenbeschwerden hatte ich an meinem Arbeitsplatz zwar ein Stehpult gekriegt, doch ich nutzte es bloß noch selten. Ich schaffte es einfach nicht mehr, längere Zeit zu stehen. Innerlich zitterte ich. Vor einigen Tagen war es bereits so weit gegangen, dass mein inneres Beben sich nach außen kehrte und für mein Umfeld sichtbar wurde. Als ich morgens in der Betriebskantine mein Pausenbrot holte, gelang es mir beinahe nicht mehr, die Münzen aus meiner Brieftasche zu klauben, derart zitterten meine Hände. Ein durchaus attraktiver Kollege hatte sich eingebildet, mich mit seiner charmanten Erscheinung aus der Ruhe gebracht zu haben, was er mir natürlich sofort unter die Nase reiben musste. Ich schämte mich. Zugegeben, er gefiel mir wirklich verdammt gut und ich verhielt mich in seiner Gegenwart des Öfteren schüchtern und unbeholfen wie eine Halbwüchsige, doch das war es nicht gewesen – so weit ging meine Schwärmerei dann doch nicht! Kurz gesagt, ich war völlig fertig und nicht mehr die, die ich einst gewesen war.


Ab und an, manchmal inmitten einer Unterhaltung, hatte ich jähe, unerwartete Zuckungen, die sich über den gesamten Oberkörper bis hin zum Kopf zogen. Meine Gesprächspartner erschraken oder schauten mich schief an und ich fühlte mich irgendwie abnormal, als ob ich eine Behinderung oder einen Tick hätte. In Wahrheit sind Muskelzuckungen meist harmlos. Oftmals gehen sie von psychischen Faktoren, wie erhöhtem Stress, aus.


Mein Atem war flach und mein Puls raste. Bisweilen wusste ich nicht, ob es die Schmerzen waren, die in mir Schwindel und Übelkeit verursachten oder die Medikamentenüberdosis. War es richtig gewesen, mich selbst einzuliefern? Arbeiten ging doch irgendwie immer und genau das wurde auch erwartet! Stattdessen betrat ich eine Klinik. Das Zentrum war spezialisiert auf Alkoholismus und Drogenabhängigkeit, Tablettensucht, Sex- und Liebessucht, Spielsucht, Co-Abhängigkeit und viele andere.


Ich machte mir Vorwürfe für das, was ich, wie so vieles, als Schwäche empfand. Überhaupt war meine Achtung vor mir selbst tiefer gesunken denn je. Ich fragte mich, warum andere scheinbar so viel konnten, taten und ertrugen und ich nicht. Ich war schnell gestresst, überlastet, überfordert, kraft- und energielos – außerdem ständig am Gähnen. Ich konnte mich schwer aufraffen, etwas zu tun. Da waren weder Motivation noch Elan. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass mir alles zu viel wurde und über mir zusammenbrach. Das Vergleichen war Gift. Vielleicht reagierten die Körper, jener Menschen, mit denen ich mich maß, einfach nur später und anders. Vielleicht sollte ich sogar dankbar sein, dass meiner mir frühzeitig klare Signale gab. Man nahm mir Blut ab, um zu kontrollieren, ob meine Leberwerte, durch die Chemikalien, gelitten hatten. Mir wurde flau im Magen. Die Ergebnisse fielen allerdings, wie die Schwester beteuerte, den Umständen entsprechend, gut aus.


Seit vier Monaten hatte ich meinen Konsum von Schmerztabletten kontinuierlich gesteigert. Inzwischen nahm ich Tabletten, die man höchstens an zehn Tagen im Monat einnehmen dürfte, täglich und davon mehrere. Schon früh morgens, wenn ich zum ersten Mal aufwachte, um meine Blase zu entleeren, griff ich zur roten Packung im Badschrank wie zu einem Rettungsanker. Darum war ich nun in der Klinik – Lena Sabrina Sommer, ein Name so heiter, wie er gar nicht zu meinem Zustand passte. Meine Gefühle waren sehr gemischt. Was würde mich hier erwarten? Konnte das, auf Dauer gesehen, überhaupt etwas ändern und bewirken? War ein solcher Aufenthalt sinnvoll?


Ein schlaksiger glatzköpfiger Pfleger mit schiefen Zähnen führte mich hinauf. Mein erster bitterböser Gedanke als ich ihn sah war, dass er ausschaute wie ein Psychopath. Er wirkte zugleich besserwisserisch und doch irgendwie unbeholfen. Dritter Stock, Station 15, Zimmer 306. Meine Zimmernachbarin sprach nicht. Ich fragte sie: „Seit wann sind Sie hier?“ Sie hob Daumen und Zeigefinger. „Zwei Tage?“ Kopfschütteln. „Zwei Monate?“ Sie nickte. „Und wissen Sie, wie lange Sie noch bleiben müssen?“ Sie schüttelte den Kopf und drehte sich weg. Ich schätzte sie auf Anfang/Mitte dreissig. Sie war klein und zierlich mit heller, durchscheinender Haut. Bloß ihr Busen hatte noch eine gesunde, runde Wölbung. An ihrem rechten Unterarm sah ich eine feine, verschnörkelte schwarze Tätowierung unter dem Ärmel ihrer Strickjacke hervorgucken. Um den Hals hatte sie einen bunten Schal gebunden. Ihre blond gesträhnten Haare waren auffallend ausgefranst in unterschiedlichen Längen, als ob sie Haarausfall gehabt hätte. Die aschigen Brauen über ihren wässrigen Augen waren ebenso strubbelig. Sie sah sehr zerbrechlich aus. Unverzüglich weckte sie in mir eine Art Beschützerinstinkt. Hinter ihrer heruntergekommenen Fassade, erkannte ich eine tiefe, reine Schönheit.


Durch das offene Fenster, das den Blick auf saftige Grünflächen freigab, wehte ein angenehm kühler Luftzug.


Wie viel von dieser Abhängigkeit war Kranksein, das in den Griff zu kriegen war und wie viel war ich selbst? Welche Gedanken waren von mir, welche von der Sucht gesteuert? Welche Launen waren «normal», über welche sollte ich mir Sorgen machen? Und wenn ich mir Sorgen machte, waren diese in Ordnung oder bereits Teil der Krankheit? Mein Großvater mütterlicherseits war Alkoholiker gewesen. Steckte die Anfälligkeit zum Suchtverhalten also schon in meinen Genen?


Ich hatte mein Leben zahlreichen zwanghaften Strukturen unterworfen. Es musste alles nach genauem Plan ablaufen; wie ich meinen Haushalt führte, wie ich meine Körperpflege vornahm und wie ich mich im Normalzustand, anderen Menschen gegenüber verhielt. Außerdem neigte ich generell zu Maßlosigkeit im Konsum, sei es bezüglich Essen, Fasten oder Kaufen. Zu Hause, als Kind hatte ich mit Taschengeld gelernt, mein Geld einzuteilen und immer etwas auf der hohen Kante zu haben. Im Erwachsenenalter hatte ich diese Fähigkeit, mit steigendem Lohn und gleichzeitig wachsender Unzufriedenheit, irgendwann wieder verloren. Ab einem gewissen Punkt wusste ich kaum noch, wie ich meine Rechnungen begleichen sollte. Ich machte mir am laufenden Band Gedanken darüber. Das bedeutete logischerweise einen zusätzlichen Stress- und Unruhefaktor.


Auf dem Gang vor dem Zimmer ging ein junger Mann auf und ab. Das hatte er bereits getan, als ich ankam – vor drei Stunden. Ich hatte das Gefühl, er kam jetzt häufiger an meiner Tür vorbei und drehte schnell wieder um. Dann ging er ganz langsam an der offenen Tür vorbei, schaute herein und mich direkt an – ganz intensiv. Als ich kam, hatte er schon so einen stierenden Blick gehabt. „Der ist doch echt irre! Was soll das? Der soll mich in Frieden lassen“, dachte ich. Einen Moment später allerdings hatte ich das leise Gefühl, dass mir diese graugrünen Augen irgendwie merkwürdig bekannt vorkamen. Nun erwiderte ich seinen Blick und unsere Augen hafteten aneinander fest. Sein aschblondes Haar war etwas unordentlich.


Jetzt fiel es mir wieder ein: Einst, als Teenager, mit vierzehn/fünfzehn, war er mein hoffnungsloser Schwarm in der Schule gewesen. Damals hatte er seine Haare schulterlang getragen und schwarz gefärbt. Er hatte breite Schultern, muskulöse, sehnige Arme und einen selbstbewussten Gang gehabt. Seine schelmisch lächelnden Augen hatten geschimmert wie grüne Jade. Nichts war schöner gewesen wie das Lächeln dieser Augen. Es erhellte sein ganzes Gesicht und ging direkt auf seine Umgebung über. Gelegentlich waren seine Augen glasig gewesen und in einer anderen Sphäre scheinend vom Kiffen. Seine Nase war markant und aus seinen klar geformten, mädchenhaften Lippen ertönte eine tiefe, männliche Stimme. Ich liebte die Fantasien, die ich über ihn hatte. Sie verursachten ein angenehmes Ziehen von kontraktierenden Muskeln in meinem Unterleib und Beckenboden.


Beinahe zwanzig Jahre waren inzwischen vergangen. Damals hatte er mir kaum Beachtung geschenkt – wenn überhaupt, dann eher Verachtung. Ich war ein stilles Mauerblümchen gewesen, ein Opfertyp, den keiner cool fand oder finden durfte. Er dagegen war nicht unbeliebt und hatte schon früh Erfahrung mit Mädchen sammeln können. Im Endeffekt waren wir nun beide an demselben traurigen Ort gelandet – wie das Leben so spielte. Mitunter kam er noch in meinen, vorwiegend erotisch angehauchten, Träumen vor, als ich längst erwachsen war.


Schließlich Visite. Zwei Ärztinnen, zwei Schwestern, ein Sozialarbeiter. Wenige Fragen. Später sollte es ein längeres Gespräch geben.


Ich wollte weg. Es waren doch bloß Schmerztabletten gewesen, keine wirklichen Drogen oder Alkohol wie beim Großteil der anderen hier. Ich fühlte mich abgestempelt und irgendwie fehl am Platze. Aber zu Hause hatte ich meinen Alltag nicht mehr ohne die chemischen Krücken bestreiten können.


Stationsleiterin Martha erklärte mir die Abläufe in der Klinik und zeigte mir die Abteilung: gebastelte Fensterbilder, eine Tischtennisplatte, hässliche orange-braune Vorhänge im Speisesaal. Auch Kickboards gab es zur Ausleihe. Die Therapie würde aus drei Einheiten pro Tag bestehen: Gruppentherapie, Sporttherapie oder Arbeitstherapie respektive Funktionsdienst – im Wechsel – Kunst- oder Beschäftigungstherapie – ebenfalls im Wechsel. Hinzu kämen Einzelgespräche mit Therapeuten. Die Struktur erinnerte mich an die eines Internats.


Ich ging ins Freie und rief meine Schwester an. Sofort fing ich an zu weinen und sagte ihr, wie schrecklich es in der Klinik war: „Das ist nichts für mich!“ „Du kannst ja eine Nacht bleiben und abwarten, was die Ärzte sagen“, meinte sie mitfühlend. Ich hörte die Sorgen in ihrer Stimme und es tat mir leid, dass ich ihr und allen so viel Kummer bereitete. Wieder dieser Gedanke: Warum konnte ich nicht einfach normal und stark sein, wie die meisten anderen, die ich kannte (oder zu kennen glaubte)?


So viele Gesichter, Worte, Situationen und Gefühle tauchten in meinem Kopf auf, verschwanden, kamen zurück und vermischten sich zu einem Brei. Es war ein ermüdendes Chaos, wie ein schlechtgewordener Grießpudding.


Gespräch mit der Assistenzärztin: „Das sieht nach einer waschechten Medikamentenabhängigkeit aus.“ Beschämt senkte ich meinen Blick. Sie fuhr fort: „Aber Sie haben gute Chancen. Wir haben hier die modernste Technologie und die besten bekannten Methoden, damit umzugehen. In Einzeltherapie und Gruppen gehen wir mit Ihnen, anhand kognitiver Verhaltenstherapie, systemischer, kreativer, psychodynamisch orientierter, hypnoanalytischer, energetischer, tiefenpsychologischer, Gestalt- sowie Traumatherapie, ihre Probleme an.“ Was auch immer sie mir damit sagen wollte. Ihr Redefluss setzte sich fort: „Sie erfahren mehr über innere und äußere Auslöser ihrer Abhängigkeit und wie Sie diese reduzieren können. Wir arbeiten mit dem ganzen Menschen, mit Körper, Geist und Seele und unterstützen Sie mit bewährten Strategien aus Stressmanagement, Neurologie, Naturheilverfahren, Bewegung und Wellness. Jeder Patient erhält einen ganz auf ihn zugeschnittenen Behandlungsplan. Dieser wird von einem engagierten Team aus internationalen Spezialisten umgesetzt. Sie lernen, sich gegen Suchtdruck zu wappnen und Warnzeichen von Abhängigkeit zu erkennen. Darüber hinaus erlernen Sie Methoden, Stress und Anspannung abzubauen. Sie bekommen Werkzeuge zur Hand, um aktiv ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen im Alltag und den persönlichen Bedürfnissen zu schaffen, für Wohlbefinden und Gesundheit zu sorgen. Alle Methoden und Hilfsmittel sind darauf ausgelegt, dass Sie sich nicht noch zusätzlich belasten und viel Zeit brauchen. Sie sind leicht und einfach in Ihren Alltag zu integrieren. Genusstraining machen Sie und erlernen viele Achtsamkeitsübungen, um besser mit sich und Ihrem Alltag umzugehen. Im Entspannungstraining üben Sie diverse Entspannungsmethoden, die Sie auch leicht zu Hause fortführen können. Auf Wunsch bieten wir Ihnen energetische Verfahren wie Reiki, Hypnose, «Healing Touch» und Quantenheilung an.“ Ich wusste nicht, was ich von alternativen Heilmethoden halten sollte. Eigentlich glaubte ich nicht an den ganzen «Hokuspokus». Die Ärztin bekräftige: „Wir behandeln nicht nur die Symptome, sondern die Ursachen der zugrundeliegenden Erkrankungen unserer Patienten. Dadurch reduzieren sich die Risiken eines Rückfalls deutlich. Die Wirkung der klinischen Behandlung wird mit Hilfe unseres großen Angebotes an ergänzenden Therapien verstärkt, denn für einen langfristigen therapeutischen Erfolg sind viele Faktoren ausschlaggebend. Es hängt stets vom psychischen und physischen Gesamtzustand des Einzelnen ab. Unsere therapeutische Gemeinschaft basiert auf der Überzeugung, dass ein lebendiger Austausch mit gegenseitigem Respekt maßgeblich zu einer schnellen Gesundung beiträgt. Deshalb unterscheiden wir nicht zwischen Ärzten, Therapeuten, Teilnehmern und Angehörigen, sondern kommunizieren und handeln stets auf Augenhöhe. Unsere Psychotherapie basiert auf der Achtung und Würde unserer Patienten. Sie ist ressourcenorientiert, das heißt dem Klienten werden seine eigenen Möglichkeiten, Quellen von Kraft und Wohlbefinden und seine Stärken deutlich gemacht. Es ist uns wichtig, sich nicht nur auf die Probleme zu konzentrieren, sondern auch auf das, was Sie in Ihrem Leben geleistet haben anzuerkennen. Sie sollen Gutes wertschätzen und sich Fehler verzeihen. Es ist wichtig Ihre Fähigkeiten kennenzulernen, wiederzuentdecken und auszubauen. Durch wohlwollendes Annehmen Ihrer Person als Ganzes, arbeiten wir darauf hin, dass Sie sich und andere mit allen Stärken und Schwächen akzeptieren können. Uns ist es wichtig, Sie beim Entdecken aller Seiten Ihrer Person zu begleiten und Sie bei der Entwicklung dieser zu unterstützen. Wir legen Wert darauf, dass Sie lernen, achtsam und liebevoller mit sich umzugehen. So vermeiden Sie auch zukünftige Probleme, beziehungsweise können sie besser bearbeiten. Wir kommen aus unterschiedlichen Therapierichtungen. Durch unsere Vielfältigkeit in den Therapieansätzen und durch die warme und wertschätzende Atmosphäre im Team, zielen wir genau auf diese Stimmigkeit in der therapeutischen Arbeit ab. Die Behandlungsinhalte bauen thematisch auf und greifen wie ein Zahnrad in das andere. Therapie ist kurzzeitige Hilfe zur Selbsthilfe, um Lösungen und neue Wege gemeinsam zu entdecken und diese gestärkt, selbständig zu gehen. Wenn ein Patient bereit ist, unser Zentrum zu verlassen, erstellen wir ein außergewöhnliches personalisiertes Nachsorgeprogramm. Wir bieten ihm weiterhin Unterstützung, denn in den ersten Wochen nach der Therapie ist die Rückfallwahrscheinlichkeit am höchsten. Genau hier setzt unsere Nachsorge an: In den schwierigen Tagen und Wochen zu Hause hat der Teilnehmer immer direkten Kontakt zu seinem Therapeuten. Dadurch meistert er diese Phase besser. Unser Klinikteam hat erfolgreich dazu beigetragen, dass Tausende unserer Klienten, eine nachhaltige Genesung erreicht haben. Es war richtig, dass sie uns kontaktiert haben, Frau Sommer! Selbstverständlich ist die persönliche Befreiung aus Abhängigkeiten oder Zwangsverhalten ein schwieriger und komplexer Prozess. Eine pauschale Erfolgsgarantie zu geben, widerspräche deshalb jeglicher medizinisch-therapeutischer Ethik. Wir versichern Ihnen jedoch, Ihren individuellen Weg bestmöglich zu unterstützen – in einem optimalen Umfeld und mit hochprofessioneller Betreuung. Fühlen Sie sich herzlich willkommen und wagen Sie den richtigen Schritt in eine bessere Zukunft!“ Ach nee – was für eine abgedroschene Leier!


Die Ärztin hatte rehbraunes, im Nacken zu einem lockeren Dutt gebundenes, gewelltes Haar, große dunkle Augen, ein glattes Gesicht und Silberschmuck. Wäre sie meine Kindergärtnerin gewesen, hätte ich sie geliebt, aber so? Erstmal sollte mein Körper entgiftet werden. Per sofort durfte ich keinerlei Tabletten und anderen Arzneimittel mehr nehmen – kalter Entzug. Es würde hart werden. Jedes Mal, wenn sie die Worte «Medikamente», «Schmerzmittel» oder «Tabletten» sagte, zuckte ich, wie unter Stromstößen, zusammen. Ich sah die Leidenstöter mittlerweile als unabkömmlichen Teil meiner Wirklichkeit.


Wie sollte ich später im Alltag handeln, wenn ich Kopfschmerzen hatte? Bis zum welchem Punkt würde ich sie ertragen müssen und ab wann durfte ich sie betäuben? Ich fragte mich ohnehin, ob ich mit meinen chronischen Schmerzen überhaupt je noch ein normales, eigenständiges Leben würde führen und einen vernünftigen Umgang mit Tabletten würde pflegen können. Nach all dieser Zeit fiel es mir schwer, positiv zu denken. Ich hatte Angst davor, beim Auftauchen von stärkeren Beschwerden, rasch wieder in dasselbe Muster zu verfallen.


Die Ärztin erklärte mir, dass Schmerzmittel, die nicht auf Opiaten basierten, eigentlich keine Suchtmittel im klassischen Sinne, wie Alkohol, Cannabis, Heroin, Benzodiazepine oder Amphetamine, waren, da sie keine körperliche Abhängigkeit verursachten. „Aber eine psychische Abhängigkeit“, wandte ich ein und fügte hinzu: „Das ist es doch, wenn ich das Gefühl habe, nicht mehr ohne sie zu können und tagtäglich nach demselben Schema verfahre?“ „Ja, aber eine psychische Sucht, kann man nach fast allem entwickeln, zum Beispiel auch nach Schokolade“, antwortete sie. „Oder nach Schuhen… Wenn es allerdings so ist, weshalb bekommt man dann körperliche Absetzungssymptome von diesem Schmerzmitteltyp? Das kann man doch nicht mit Schokolade vergleichen! Das ergibt keinen Sinn“, erwiderte ich. In diesem Punkt musste sie mir zustimmen. Sie gestand nun, etwas kleinlaut, ein, dass diese Schmerzmittel und ihre Langzeitwirkungen tatsächlich noch sehr wenig erforscht waren.


War es das, was ich wollte – ein Klinikaufenthalt?


Der erste Tag kam mir wie die Hölle vor. Ich fühlte mich unendlich hilflos und ausgeliefert. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Ich wollte nach Hause, aber nicht nach Hause.

Schweben auf Zuckerwatte

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