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2 Kalter Entzug

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Der Tag begann um 7:30 Uhr mit der konzentrativen Entspannung, einer sehr sanften und besonderen Form der Körperwahrnehmung. Durch sie sollten wir eine neue Möglichkeit erfahren, uns und unseren Körper zu bewegen und zu spüren. Es gab dabei Probleme mit einigen Patienten, die gleich nach dem Aufstehen noch zu müde waren für diese Therapie und denen ein paar Kniebeugen sicherlich besser bekommen wären. Eine Befreiung davon war nicht möglich und so wurde dieses Thema zum Schauplatz von Machtkämpfen zwischen Therapeuten und Patienten. Der Sieg der Therapeuten war vorprogrammiert: "Es gibt nur zwei Möglichkeiten, bei uns Therapie zu machen: ganz oder gar nicht!" Wie war das nochmal mit, nicht zwischen Therapeuten und Teilnehmern unterscheiden und stets auf Augenhöhe kommunizieren?! Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Patienten und Therapeuten auf einer ganz subtilen Ebene Feinde waren. Vielleicht war es jedoch auch bloß meine latente Skepsis, die mich so denken ließ.


Nach der konzentrativen Entspannung begannen wir Patienten, den Frühstückstisch zu decken. Um halb neun dann trafen wir uns mit einer Sozialtherapeutin zur Morgenrunde, wo wir, je nach Befindlichkeit, in Sportgruppen und zu anderen Beschäftigungen eingeteilt wurden. Die Klinik legte großen Wert auf die aktive Gestaltung des Aufenthalts ihrer Patienten. Die Sportangebote reichten von Krafttraining, Tanzen, Joga, Qigong, Nordic Walking, Schwimmen, über Laufgruppen bis hin zum klinikeigenen Trimm-dich-Pfad. Möglichkeiten sich handwerklich und kreativ auszudrücken, gab es in Holzwerkstatt, Töpferei und Brennerei, Werk- und Kunstatelier oder der Nähwerkstatt. Darüber hinaus gab es Wellness in Form von klassischen, Sport-, Ayurveda-, Energie- und Klangschalenmassagen. An PC-Arbeitsplätzen konnte man Bewerbungen verfassen, Kontakte pflegen oder Tagebuch schreiben. Gearbeitet wurde in der Wäscherei und in landwirtschaftlichen Einrichtungen, die mit der Klinik zusammenarbeiteten. Hier versuchten sich manche Patienten ebenfalls vor dem Programm zu drücken. Ich verstand sie. Eigentlich wäre ich auch lieber den ganzen Tag im Bett geblieben und hätte meine Ruhe gehabt – einfach Ruhe vor allem und jedem. Doch was von meinem Gehorsam und Pflichtgefühl übriggeblieben war, ließ mich den Mund halten.


Die meisten Patienten jedoch waren freundliche Männer und Frauen zwischen dreissig und sechzig, die mich auf den Gängen grüßten und während den freien Zeiten zum Karten- oder Tischtennisspielen einluden, als wären wir im Urlaub. Abgesehen, von ihrer gierigen Art zu rauchen und Kaffee zu trinken, wirkten sie normal. Niemand hätte sie für suchtkrank gehalten.


Mittlerweile hatte ich herausgefunden, dass meine Zimmernachbarin Daliah hieß. Sie hatte ADS – Aufmerksamkeitsdefizitsstörung – und war amphetaminabhängig. Sie erzählte mir: „Ich habe als Kind wenig Liebe und Aufmerksamkeit von meiner Mutter erfahren. Ich hatte einen schwerbehinderten Bruder. Er bekam ihre ganze Zeit und Zuneigung. Pausenlos umsorgte und herzte sie ihn. Für mich langten ihre Kraftreserven scheinbar nicht mehr. Ich suchte die Fehler bei mir, glaubte nicht gut genug zu sein und mochte mich selbst nicht mehr. So entwickelte ich in meiner Jugend, zusammen mit weiteren psychischen und physischen Leiden, eine akute Essstörung. Ich strebte nach einem Ideal, von welchem ich glaubte, dass es endlich gefallen würde und bestrafte mich selbst.“


Vor einigen Jahren schon war Daliah, die einst den Beruf der Dentalassistentin erlernt hatte, als arbeitsunfähig eingestuft worden. Seither erhielt sie eine Rente. Wenn sie Phasen hatte, in denen sie sich gesünder fühlte, besserte sie ihr spärliches Einkommen mit Schwarzarbeit, wie Hundesitting, leichten Reinigungsbeiten in einem Fitnesszentrum, Büroadministration oder Schminken, auf, um ihr turbulentes Leben finanzieren zu können. Dennoch war sie ständig pleite.


Inzwischen war Daliahs Bruder verstorben. Mit dem regelmäßigen Konsum von Speed, hatte sich ihr gesundheitlicher Zustand zunehmend verschlechtert. Das Speed führte ihrem Körper keine Energie zu, sondern putschte den Organismus hoch und verbrauchte damit seine Kraftreserven. Es hat eben seinen Sinn, dass wir müde werden. Der Körper braucht Erholung, um funktionieren zu können. Der Organismus entwickelt rasch eine Toleranz für Amphetamine, das heißt, es muss immer mehr konsumiert werden, um dieselbe psychische Wirkung zu erzielen. Aufgrund ihres tiefen Blutdrucks hatte Daliah sich stets schlapp gefühlt. Sie hatte es mit Bewegung probiert, morgens schon eine heiße Brühe getrunken und tagsüber kohlensäurehaltige Getränke, doch nichts hatte sie so richtig auf Touren zu bringen vermocht, bis sie die Drogen entdeckte.


Amphetamine haben ein hohes Abhängigkeitspotential, wobei es zu einer starken psychischen Abhängigkeit kommen kann, die in der Regel psychotherapeutisch behandelt werden muss. Die ständige «Peitsche» für den Körper belastet das Herz. Ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall ist die Folge. Außerdem schädigen die Drogen die Nervenzellen des Gehirns. Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen treten auf. Daliah stritt dies zwar vehement ab. Sie redete sich wohl noch immer so einiges schön, beziehungsweise wollte manche Tatsachen offensichtlich einfach nicht wahrhaben. Außerdem konnte sie natürlich sämtliche Konzentrationsstörungen ihrem ADS in die Schuhe schieben.


Zusätzlich schwächt ein regelmäßiger Amphetamin-Konsum das Immunsystem. Der Körper wird anfälliger gegenüber Infektionen. Durch das verminderte Hungergefühl leiden die Süchtigen unter Mangelernährung und Abmagerung. Das erklärte wahrscheinlich auch Daliahs zerbrechliche Erscheinung, ihre Dünnhäutigkeit und ihre häufigen Grippen und Erkältungen. Ständig klagte sie, sich kränklich zu fühlen. Aufgrund von Sniffen werden die Nasenscheidewand und Nasenschleimhäute stark beschädigt. Darüber hinaus kann bei Frauen der Monatszyklus beeinträchtigt werden. Das Verhalten ändert sich, geprägt durch stereotype, also sich stetig wiederholende, Handlungen und Überlegungen, zum Beispiel Mümmelbewegungen im Mundbereich oder ständiges Öffnen immer derselben Schublade. Oft drehten sich Daliahs Gedanken im Kreis und ließen ihr keine Ruhe.


Zwar steigert Speed das Sexualbedürfnis, nicht aber unbedingt auch die Beachtung von Safer-Sex-Praktiken, wodurch die Wahrscheinlichkeit für sexuell übertragbare Krankheiten, wie beispielsweise HIV, ansteigt. Daliah erzählte mir, dass sie zu Hause mit ihrem Freund, trotz Uneinigkeiten, mindestens einmal am Tag, wenn nicht mehr, Sex gehabt hatte. Und sie waren – wohl gemerkt – nicht erst ein paar Monate zusammen. Ich staunte zugegebenermaßen leicht neidisch. Das hatte ich so noch nie gehabt. Außerdem besuchten sie regelmäßig Fetischpartys à la Marquis de Sade mit Latex, Lack und Leder, an denen auch Partnertausch praktiziert wurde – wie aufregend! Ihr Freund war sehr tolerant und experimentierfreudig. Sie konnte ihren Gefallen an anderen Männern frei äußern, ohne dass dies eine Szene mit sich gezogen hätte. Sie selber war da schon empfindlicher. Dem Hoch folgt bekanntlich ein Tief, sodass Depressionen bei Daliah ebenfalls an der Tagesordnung waren. Regelmäßig fühlte sie sich leer, taub und lustlos. Psychotische Symptome, also Realitätsverlust, wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen, verfolgen Dauerkonsumenten. Selbst nach Absetzen des Konsums können die Psychosen anhalten.


Ich hatte Zeit. Zu viel Zeit. Wir sind doch immer gehetzt. Nie ist Zeit. Zu Hause war es immer so gewesen. Langeweile war für mich schon seit Ewigkeiten ein Fremdwort gewesen und ich hatte mir oft gewünscht, diesen Zustand wieder einmal zu erfahren. Nun hatte ich zu viel. Zu viel von mir. Ich fühlte mich bisweilen bedrängt und einsam zugleich.


Wenigstens war ich froh, Daliah kennengelernt zu haben. Wir waren uns schnell sympathisch gewesen, beinahe Freundschaft auf den ersten Blick oder auf den zweiten zumindest. Uns verbanden zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber auch etliche Gegensätze. Es war irgendwie genau die richtige Mischung aus beidem.


Abendstunde im Speisesaal. Alle mussten sagen, wie es ihnen ging. Das war anstrengend. Dazu der abgestandene Geruch von Essen vermischt mit Desinfektionsmitteln – scheußlich! Eine war sehr aggressiv. Sie sagte mehrmals, dass sie übermorgen abgeholt würde und nicht mehr hier sein wollte. In Wahrheit blieb sie noch länger. Eine andere wippte unentwegt mit dem Oberkörper. Ich sagte nur, dass ich höllische Kopfschmerzen hatte. Wie sollte mir das hier helfen? Wie konnte eine Abhängigkeit überhaupt geheilt werden? Ausreden konnte ich sie mir nicht mehr. Es dauerte noch, bis ich offener wurde, mich nicht mehr versteckte und auch die Hilfe der Gruppe und der Therapeuten annehmen konnte. Während der ersten Woche, musste ich die ständige Versuchung, mich davonzumachen, geradezu niederkämpfen. Ungeachtet der zig Angebote, schleppte jeder an seinen Problemen wie an einem toten Pferd, das sich unmöglich ignorieren ließ. Für mich war am schlimmsten, dass ich unbedingt abhauen wollte, weg von diesem Ort, weg aus der Schweiz, aus der Welt, von mir. Das Leben kostete zu viel Kraft. Es lohnte sich nicht, morgens aufzustehen und zu sehen, wie die Stunden sich ohne ein Ziel dahinschleppten. Schlafen. Sterben. «Nicht nachdenken, Lena, versuch dich zu beschäftigen», rieten mir die Betreuer und fügten ermutigend hinzu: «Diese negative Phase ist normal und geht bald vorbei.»


Da ich koffeinhaltige Schmerzmittel eingenommen hatte und überdies unter Depressionen litt, war ein stationärer Entzug aus Sicht der Ärzte allerdings absolut sinnvoll. Koffein verstärkt, insbesondere bei akuten Schmerzattacken, die Wirkung von Schmerzmitteln wie Paracetamol und Ibuprofen. Bei ständigen oder wiederkehrenden Beschwerden sind die Kombipräparate jedoch umstritten. Die belebende Wirkung des Koffeins kann dazu verleiten, die Tabletten öfter und länger einzunehmen, als angeraten. Dann steigt das Risiko für unerwünschte Wirkungen der Schmerzmittel, beispielsweise auf die Nieren oder den Verdauungstrakt. Weitere bekannte unerwünschte Wirkungen sind Schlaflosigkeit, Unruhe, Herzrasen und Zittern. Wenn es den persönlichen Vorlieben entspricht, trinkt man, bei starken Schmerzen, zum Medikament lieber eine Tasse Kaffee. Nimmt man das Koffein nämlich über eine Tasse Kaffee zu sich, ordnet man die belebende und aufmerksamkeitssteigernde Wirkung des Koffeins nicht dem Schmerzmittel zu, sondern dem Kaffee. Man wird also nicht dazu verleitet, die Tabletten wegen der belebenden Wirkung öfter oder länger einzunehmen, als im Beipackzettel empfohlen. Beim Kaffeetrinken steuert man die Koffeinzufuhr selbst, und zwar unabhängig von der Schmerzmitteleinnahme. Abends oder wenn man sich schonen möchte, ist die belebende Wirkung nicht erwünscht. Dann sollte man auf koffeinhaltigen Präparate verzichten.


Der starke Entzugskopfschmerz nach der abrupten Absetzung der Medikamente war während der ersten drei Tage unfassbar. Ich reagierte überdurchschnittlich empfindlich, konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Es war unglaublich, wie elend einen das Weglassen eines Stoffes fühlen lassen konnte. Mein Kopf pochte und spannte, als würde er nächstens explodieren. Die verwirrten Nervenenden ließen knisternde Stromblitze durch meinen Schädel zucken. Ich glaubte, ich könnte es nicht eine Sekunde länger aushalten. Keine Position und keine Umgebungsfaktoren vermochten Linderung zu bringen. Am liebsten hätte ich sofort wieder aufgegeben und zu den Tabletten gegriffen. Alleine, zu Hause, wo alles greifbar war oder rasch besorgt werden konnte, hätte ich es nie und nimmer geschafft. Zum Entzugskopfschmerz kamen Schwindel und Übelkeit bis zum Erbrechen. Ferner hatte ich weitere körperliche Begleitsymptome, wie Hitzewallungen, Herzrasen, Schlafstörungen, Unruhe, Angstzustände und Nervosität.


Ab dem vierten Tag wurden die Kopfschmerzen endlich schwächer und die elektrischen Störimpulse in meinem Schädel seltener. Später würde ich ein Kopfschmerztagebuch führen müssen, um meine Medikamenteneinnahme zu kontrollieren. Für alle Schmerzmittel gilt, dass nicht mehr als zehn bis zwölf Einnahmedosen pro Monat überschritten werden sollten. So paradox es klingen mag: Die Medikamente, die gegen den Kopfschmerz eingenommen werden, können ihrerseits auch wieder die Ursache dafür sein. Jener Kopfschmerz nennt sich «medikamenteninduzierter Kopfschmerz». Er tritt dann auf, wenn die Schmerzmittel zu häufig und ohne ärztliche Kontrolle eingenommen werden. Die Mediziner erklärten mir dies wie folgt: Die Schmerzrezeptoren gewöhnen sich an den ständig überhöhten Wirkstoffspiegel im Körper und stumpfen ab - immer mehr Tabletten werden benötigt, um die Schmerzen zu beseitigen. Wird das Medikament abgesetzt, verstärken sich die Schmerzen bis zur Unerträglichkeit. Ein gut durchgeführter Entzug kann zur kompletten Durchbrechung des Teufelskreises führen. Wichtig ist, dass sich nach erfolgreich überstandenem Entzug eine kompetente Behandlung der ursprünglichen Kopfschmerzerkrankung anschließt, um Rückfälle zu vermeiden. Das war der Punkt, an dem ich noch zweifelte. Das hatte bisher kein Arzt geschafft.


Während der Entgiftung schaute Stationsleiterin Martha immer wieder nach mir und wir kamen ins Gespräch. In dieser schwierigen Phase stand sie mir rund um die Uhr zur Verfügung. Den ganzen Aufenthalt in der über Klinik blieb sie für mich eine wichtige Ansprechpartnerin, die mir half, den Zweck der Therapien zu verstehen, daran mitzuarbeiten und sie anzunehmen. Martha hatte eine freundliche, herzliche Art und sie war eine intelligente, starke junge Frau. Sie vereinte in sich genau jene Eigenschaften, die es für diese Arbeit brauchte, wenn sie es auch zu Hause nicht immer einfach hatte. Vor rund zehn Monaten war sie Mutter einer kleinen Tochter geworden. Ihr Mann unterstützte sie leider nur wenig mit Kind und Haushalt. Mit ihrem guten Job war sie somit nicht nur Hauptverdienerin, sondern musste zusätzlich auch zu Hause noch alles organisieren und im Griff haben. Zum Glück passten ihre Eltern auf das Töchterchen auf, wenn sie in der Klinik war. Ihnen konnte sie blind vertrauen.

Schweben auf Zuckerwatte

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