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VORWORT

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Es wäre ein Irrtum – wenn auch ein lässlicher – zu meinen, dass es mit der Vorortkirche von San José del Talar in Buenos Aires nichts Ungewöhnliches auf sich hat. Auch an normalen Wochentagen herrscht dort ein ununterbrochener Andrang von Frauen, die nach dem Eintritt in das Gotteshaus nur flüchtig eine Kniebeuge in Richtung des goldenen Rokoko-Hauptaltars und seines sinnlichen Kruzifixes andeuten. Dann wenden sie ihm augenblicklich den Rücken zu und bewegen sich zum linken Seitenschiff im hinteren Teil der Kirche, wo das Gemälde hängt.

Es handelt sich um eine nicht besonders gute Kopie eines Originals aus dem 18. Jahrhundert, das sich in einer Augsburger Kirche befindet. Dort entdeckte es 1986 ein Besucher aus Argentinien, Pater Jorge Mario Bergoglio SJ. Er konnte damals nicht ahnen, dass er die Welt 27 Jahre später durch sein Erscheinen auf dem Balkon der Peterskirche in Rom in Erstaunen versetzen würde. Dieser nahezu unbekannte Priester wurde zum Papst der katholischen Kirche gewählt, dem 266. in ihrer langen Geschichte. Dazu bedeutet diese Wahl in mehreren Aspekten einen Bruch und markiert etwas nie Dagewesenes: Er ist der erste Papst vom amerikanischen Doppelkontinent, der erste von der Südhalbkugel und der erste, der den Namen Franziskus angenommen hat – womit er der Kirche und ihren rund eine Milliarde Mitgliedern ein Zeichen seiner Absicht gab, die Dinge von nun an ganz anders zu gestalten.

Er trat auf als ein Mann mit großem Selbstvertrauen und großem Gottvertrauen. An dem Tag aber, an dem er in dieser deutschen Kirche zum ersten Mal auf das barocke Kunstwerk stieß, geriet er in Aufruhr. Das Bild war von Johann Georg Schmidtner in Öl auf eine Holzvertäfelung gemalt worden und trug den rätselhaften Titel Maria Knotenlöserin. Die Geschichte dahinter ist faszinierend. Im Jahre 1610, so erzählt die Legende, war der bayerische Edelmann Wolfgang Langenmantel in die Stadt gereist, um sich bei einem Jesuitenpater namens Jakob Rem dringend benötigten Rat zu holen. Die Ehe des Adligen war in Schwierigkeiten geraten, er und seine Frau Sophia befanden sich auf der Schwelle zur Trennung – zu jener Zeit im katholischen Bayern ein enormer Skandal. Rem hatte den Edelmann im Vorfeld ihresTreffens gebeten, das lange weiße Band mitzubringen, das bei der Trauung des Paares verwendet worden war. Der Jesuit war für seine Zwecke bei einem der ersten großen christlichen Theologen und Apologeten fündig geworden, dem Kirchenvater Irenäus aus dem zweiten Jahrhundert, der darüber geschrieben hatte, wie „der Knoten des Ungehorsams der Eva durch den Gehorsam Marias gelöst wurde“. Rem rief die Jungfrau zu Hilfe, um bei den Problemen von Wolfgang und Sophia zu vermitteln. „In diesem religiösen Akt“, so betete er über dem Hochzeitsband, „erhebe ich das Band der Ehe, damit alle Knoten gelockert werden und sich endlich lösen.“ In der Folgezeit konnte das Paar seine Schwierigkeiten überwinden und blieb zusammen. Um das Jahr 1700 gab Langenmantels Neffe Hieronymus Ambrosius das Werk in Auftrag, das bis heute in der Kirche St. Peter am Perlach in Augsburg hängt. Es zeigt Maria, die mit Unterstützung von zwei Engeln und umgeben von weiteren Engeln die Knoten in einem Band löst, während sie mit ihrem Fuß beiläufig den Kopf einer Schlange zerquetscht, die den Teufel verkörpert.

Es ist nicht schwer zu verstehen, warum das Mariengemälde den fünfzig Jahre alten Priester aus Argentinien so stark ansprach. Er war nach Deutschland geschickt worden, um für eine Promotion über Romano Guardini zu recherchieren, den katholischen Philosophen, der in den 1930er-Jahren über die moralischen Gefahren der Macht geschrieben hatte. Das war aber nur ein Vorwand: Seine Oberen wollten ihn aus Argentinien entfernen, wo er als Leiter der Jesuitenprovinz über die letzten fünfzehn Jahre hinweg – als Novizenmeister, dann als Provinzial und schließlich als Rektor an seinem Priesterseminar – seinen geistlichen Orden tief gespalten und für starke Verbitterung gesorgt hatte. Daher hatte das Oberhaupt der Gesellschaft in Rom schließlich die Einsetzung eines Jesuiten verfügt, der nicht aus Argentinien kam und der helfen sollte, die Wunden zu heilen. Es gab jede Menge Knoten, die die Jungfrau Maria für Bergoglio lösen konnte.

Doch schließlich wurden sie alle irgendwann entwirrt. Binnen weniger Monate kehrte Bergoglio nach Argentinien zurück. Allerdings wurde er nach einer unglücklichen Phase in Buenos Aires, dem Schauplatz seiner langjährigen Auseinandersetzungen, in die zweitgrößte Stadt des Landes ins Exil geschickt, ins über 600 Kilometer von der Hauptstadt entfernt gelegene Córdoba. Dort verbrachte er mehrere Jahre in büßender Versenkung, bevor er vom Kardinalerzbischof von Buenos Aires in seine Geburtsstadt zurückgeholt wurde, wo er sich von ihm zum Weihbischof ernennen ließ. Das war höchst ungewöhnlich für einen Jesuiten, legen Angehörige dieses Ordens doch ein Gelübde ab, höhere Kirchenämter zu meiden.

Ein außergewöhnlicher Weg hatte seinen Anfang genommen. Er sollte aus Jorge Mario Bergoglio den Bischof der Slums machen, einen leidenschaftlichen Verteidiger der Entrechteten, einen unerschütterlichen Befürworter des Dialogs als Möglichkeit, Brücken zu bauen zwischen Menschen aller Herkunft und jedes Glaubens – und schließlich einen Papst, der alle Welt in sein Vorhaben einweihte, die gebildete und von Seidenbrokat dominierte Korrektheit Roms unter Papst Benedikt XVI. in „eine arme Kirche für die Armen“ zu verwandeln.

Knoten zu entwirren gibt es auch weiterhin – nicht zuletzt für eine Kirche und eine Welt, die gerade erst Bekanntschaft geschlossen haben mit diesem Papst der Paradoxe. Jorge Mario Bergoglio ist zwar ein Traditionalist der Lehre, aber auch ein Reformer des Kirchengeists. Er ist ein Radikaler und trotzdem kein Liberaler. Ihm geht es darum, anderen zu Mitsprache und Einfluss zu verhelfen, und dennoch bewahrt er einen autoritären Zug. Er ist ein Konservativer, doch auf der reaktionären Bischofskonferenz seines Landes trat er weit links im Spektrum in Erscheinung. Religiöse Einfachheit verbindet er mit politischer List. Er ist progressiv und aufgeschlossen, zugleich aber streng und ernst. Obwohl er der erste Papst ist, der nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zum Priester geweiht wurde, legte er seinen Novizen eine vorkonziliare Ausbildung auf. Er hat sich gegen die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft und die Adoption von Kindern durch Lesben und Schwule ausgesprochen – das hinderte ihn jedoch nicht daran, aidskranken Homosexuellen die Füße zu küssen. Er kommt aus dem Süden, hat aber tiefe Wurzeln im Norden: ein Lateinamerikaner mit italienischer Abstammung, der in Spanien, Irland und Deutschland studiert hat. Er ist ein Diözesanpriester und gehört doch einem religiösen Orden an. Ebenso wie er ein Lehrer der Theologie ist, ist er auch ein Pfarrer und Seelsorger mit einem guten Gespür für die Menschen. In ihm vereinigen sich Demut und Macht.

Als er aus Deutschland nach Argentinien zurückkehrte, brachte er eine Postkarte des Augsburger Gemäldes mit. Den Menschen in seinem Heimatland wuchs die Darstellung ans Herz. Ein Jahrzehnt später entschlossen sich die Mitglieder einer Kirchengemeinde, das Geld für eine Reproduktion in Originalgröße zusammenzutragen, die ein argentinischer Maler anfertigte. Sie ist der Grund für den Pilgerstrom, der sich heute in die ansonsten unscheinbare Kirche von San José del Talar in Agronomía, einem Mittelschichtsvorort von Buenos Aires, ergießt. Später, in seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires, hat der Mann, dem es gefiel, dass man ihn nur als Pater Bergoglio kannte, sich unter die Pilger gemischt, in das anonyme, schlichte Kirchenschwarz gehüllt, um sich vor dem Gemälde auf einer der Kirchenbänke niederzulassen und die Knoten in seinem eigenen Leben zu entwirren.

„Die Kopie hat es zu größerer Berühmtheit gebracht als das Original“, meinte Pater Ricardo Aloe, als wir im rechten Seitenschiff miteinander sprachen. Er saß in einem lichten Beichtstuhl mit gläsernen Seiten bereit, falls einer der Pilger, die andauernd eintrafen, die Beichte ablegen wollte. „Die Menschen kommen aus ganz Argentinien, ja, von überallher auf der Welt, um sie zu sehen. Am achten Tag jedes Monats haben wir hier 10.000 Menschen, am 8. Dezember kommen mehr als 30.000 zum Fest Mariä Empfängnis. Sie alle haben das Gefühl, dass die Jungfrau ihnen zuhört und sie versteht. Wie eine Mutter kümmert sie sich fürsorglich um unsere Probleme. Die Knoten sind eine Metapher – sie stehen für unsere Probleme und Schwierigkeiten. Die Jungfrau wendet sich für uns an Gott, damit er uns bei ihrer Bewältigung unterstützt.“

Eine Metapher: Jorge Mario Bergoglio war sie nur zu klar. Und wie es scheint, wurde ihm die Vergebung zuteil, nach der er trachtete. Auch wenn sie ihm nie genügte.

Papst Franziskus

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