Читать книгу Rosalies Schlüssel - Paula Hering - Страница 6

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Ein paar Wochen später fuhr ich aufs Land, um den Karton abzuholen.

„Dann zeige ich dir mal den Schatz“, scherzte Katharina ungewohnt aufgeräumt und führte mich zur Kellertreppe.

Ein schmaler Gang führte vorbei an einer Reihe von groben Holztüren. Vor der letzten Tür blieb sie stehen und schaute mich an.

„Was wirst du damit anfangen?“

„Ich weiß es nicht.“

Sie half mir, den Karton zu meinem Auto zu tragen, wo wir ihn umständlich auf den Rücksitz verfrachteten, weil er nicht in den Kofferraum passte.

Wir verabschiedeten uns noch am Auto, denn es gab nichts mehr zu sagen, und obwohl es bis zu Großmutters Haus nur wenige hundert Meter waren, fuhr ich mit dem Auto dorthin, um keine Erklärung geben zu müssen.

Ich hatte keine Zweifel, dass sich in Kürze ein Käufer für das Haus finden würde. Es war zwar klein und mit den Jahren baufällig geworden, aber es besaß mehr Charme als irgendein anderes Haus entlang der Dorfstraße.

Die alten Flügelfenster, die geschmiedeten Beschläge und die Fensterläden, die schon etwas schief in den Angeln hingen, machten seinen Reiz aus. Längliche Blumenkästen hingen unter den Fenstern. Großmutter hatte sie jedes Frühjahr mit einem neuen Anstrich versehen. In einem Jahr waren sie gelb, im nächsten rot oder blau. Auch die Fensterläden änderten ihre Farbe gelegentlich. Das Haus selbst war grau verputzt; es konnte jede Farbe tragen.

Von vorne sah es aus, als ob es lachte. Drei ausgetretene Stufen führten zu der breiten Haustür, das war der offene Mund. Links und rechts der Tür gab es je ein Fenster im Erdgeschoss, das waren die Wangen und zwei Fenster über der Haustür, das waren die Augen.

Während die anderen Holzteile ihre Farbe wechselten, blieb die Eingangstür in all den Jahren taubenblau. Inzwischen war die Farbe stellenweise abgeplatzt und gab den Blick frei auf uraltes Eichenholz, das Wind und Wetter über die Jahre getrotzt hatte. Der eiserne Türbeschlag war nach oben hin bauchig wie ein Zwiebeldach, nach unten hin verjüngte er sich und lief zu einer Pfeilspitze aus. Der Türgriff mündete in einem ovalen Teller, der wunderbar in der Hand lag und über dem Schlüsselloch war ein Herz ausgestanzt, wie ein kleines Mädchen es nicht schöner hätte malen können.

Das Haus war umgeben von einem großen Garten, aber im Winter war es schwer, seinen sommerlichen Charme zu erahnen. Die Westseite des Hauses war von wildem Wein bedeckt, dessen Blätter im Herbst in allen Rotschattierungen leuchteten. Efeu rankte an der brüchigen Gartenmauer, die das Grundstück nach hinten hin begrenzte. Hier konnte man den Mäusen bei ihrem Tagwerk zusehen.

In meiner Erinnerung erschienen die Sommer meiner Kindheit wie verzaubert. Die Tage dehnten sich unter der Sonne und im Schatten der Bäume stand die Zeit still. Sie waren zitronengelb und apfelgrün, sonnenbeschienen und ruhig, denn der Garten lag wie unter einer Glocke.

Dieser Eindruck entstand nicht zuletzt dadurch, dass beinahe jedes Fleckchen Erde von Blüten bedeckt war. Den Kiesweg vom Gartentor bis zum Haus säumten im Sommer Hunderte blauer Blüten. Entlang der seitlichen Grundstücksgrenze, zur unheimlichen Alten hin, wuchsen Rhododendren. An dem Weidenzaun, der das Grundstück zur Straße hin begrenzte, rankten Wicken und Kapuzinerkresse.

Hier und da waren Zinkwannen in die Erde eingelassen. Darin wuchsen Schilfgras und Lilien, Gaukler- und Trollblume, Calla und Pfeilkraut.

Großmutters besondere Fürsorge galt einigen Robinien, die sie nach Großvaters Tod gepflanzt hatte. Die Blätter der breiten säulenförmigen Bäume hingen paarweise zusammen wie Federn. Sie hatte bunte Flaschen in die Zweige gehängt, in denen Kieselsteine steckten, die, wenn der Wind sie bewegte, den Garten mit feinen Klängen erfüllten. Im Frühsommer verschwanden sie hinter weißen Blütentrauben.

Im Schatten der Bäume wuchsen wie in einem Feenwald Hunderte Maiglöckchen. Sie schossen nach dem Winter wie Speerspitzen aus dem Boden und wurden von Jahr zu Jahr mehr.

Von der Küche aus führten zwei Stufen hinab auf eine verwitterte Veranda. Großvater hatte sie gebaut. In den Morgenstunden war dies der schönste Platz im Garten. Ein Baldachin aus Winden und Mohn legte sich Jahr für Jahr darüber.

Wenige Schritte entfernt hatte Großmutter ihren Küchengarten. Dort wuchsen duftende und wohlschmeckende Kräuter und Gewürze von winzigen Buchsbaumspiralen gesäumt, aber auch Giftpflanzen, vor denen sie mich eindringlich gewarnt hatte.

In der Nähe der hohen Bäume, die vor dem weißen Februarhimmel noch größer wirkten, kam ich mir winzig vor.

Im hinteren Teil des Gartens stand eine alte Linde, rund um den Stamm hatte Großvater eine Bank gebaut. Dort hatten wir im Sommer Pfannkuchen gegessen oder Erdbeeren mit Zwieback und Milch.

In den Miniteichen lebten Wasserschnecken mit flachen Häusern wie Posthörner, andere mit spitzen Türmchen. Zitronenfalter gab es beinahe das ganze Jahr über und schillernd-grüne Libellen vom Schein des Wassers angezogen schwebten durch die Luft. Und Zaunkönige, klein und rund mit keck aufgestellten Schwänzchen. Sie lebten im schattigen Dickicht. Scheu kamen sie auf die Veranda und huschten wie Mäuse hin und her.

In Gedanken versunken drehte ich den Ring an meinem Finger und plötzlich glaubte ich, den Wind in belaubte Baumkronen fahren zu hören. Als wäre ich zurück in den unbeschwerten Sommertagen meiner Kindheit, baumelten meine nackten Füße über dem feuchten Gras. Ich fühlte den Wind in meinen Haaren und die Geschwindigkeit berauschte mich. Die Schaukel warf mich hoch in die Luft und riss mich einen Augenblick später wieder in die Tiefe, als würde ich fliegen und fallen.

Ich erwachte jäh, als sich jemand zu mir auf die Bank setzte. Einen Moment lang glaubte ich, Großmutter durch die Drehung des Ringes ins Leben zurückgeholt zu haben.

„Wie geht es der Katze in der Stadt?“, hörte ich eine raue Stimme fragen.

„Gut, tagsüber kann sie in den Garten hinter meinem Haus.“

„Rosalie, hat sie abends gerufen. Rosalie, kooom! Und dann kam sie angerannt wie ein Hund.“

„Rosalie? Ist das ihr Name?“, stotterte ich.

„Das hab ich doch gesagt“, gab die Alte unwirsch zurück.

Das hatte sie nicht.

Ich hatte, nachdem die Katze einige Tage namenlos gewesen war, diesen Namen für sie ausgesucht. Ich versuchte mich zu erinnern, wie ich darauf gekommen war.

„Haben Sie Post bekommen?“, unterbrach sie meine Gedanken.

„Woher wissen Sie das?“

„Tja“, sagte sie.

„Heißt das, Sie wissen, was in dem zweiten Testament steht?“

Sie verzog das Gesicht.

„Sagen Sie es mir“, bettelte ich. „Ich kann nicht bis zu meinem Geburtstag warten.“

„Dann wissen Sie es noch gar nicht?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Sie hat kein Vermögen hinterlassen, wenn Sie das denken.“

Ich wusste selbst nicht, was ich dachte.

Nach einer Weile bat sie mich beiläufig, ihr den Ring für einen Moment zu überlassen. Ich nahm ihn ab, doch als ich ihn eben übergeben wollte, erschreckte ich beim Anblick ihrer gekrümmten Finger. Die Nägel waren braun und gebogen wie die Klauen eines Tieres. Ich zog meine Hand zurück und sie griff ins Leere. Augenblicklich sprang sie wütend auf mich zu, als wolle sie mich fressen. Ich sah nun direkt in ihre gelben Augen, steckte hastig den Ring zurück an den Finger und hielt die Hand schützend vors Gesicht.

„Verschwinde!“, schrie ich.

Sie lief jaulend davon und verschwand in der Dunkelheit.

Ich blieb bis ins Mark erschüttert alleine im Garten zurück. Der Anblick der Alten, die sich im Schein des Mondes in eine grimmige Bestie verwandelt hatte, brachte mein Fundament ins Wanken. Ich war wie gelähmt und unfähig, auch nur einen Schritt zu tun, fiel ich auf die Bank zurück.

Als ich den Ring noch einmal drehte, trat der Mond hinter einem Wolkenfeld hervor. Die weiße Scheibe erhellte den Himmel und spiegelte sich in dem schimmernden Stein. Ein Licht schien aus seinem Inneren zu leuchten. Er wurde klar und ich erkannte Gestalten auf seinem Grund, Frauen mit wehenden Gewändern, die sich im Tanz bewegten. Das Schauspiel endete abrupt, als der Mond wieder hinter einer Wolke verschwand.

Die Haut um den Ring hatte sich erwärmt. Der Ring selbst war deutlich wärmer geworden, als es ein Stück Silber in einer frostigen Februarnacht hätte sein sollen.

Ich hatte schon früher Veränderungen in seinem Glanz bemerkt, aber in dieser Nacht zeigte der Mondstein ein ganzes Spektrum von Farben und Bildern, wie ein Projektor, der vom Mond beleuchtet, sein Innerstes an den Nachthimmel wirft.

Der Wind trug dumpfe Klänge an mein Ohr und ich lauschte so angestrengt, bis das Tosen meines eigenen Blutes mich zu umströmen schien.

Als ich den Garten verließ, war es bereits Nacht und der Kies vor dem Haus krachte so laut unter meinen Füßen, dass ich fürchtete, meine Schritte könnten die Nachbarschaft aufwecken, aber die Fenster blieben dunkel.

Ich hatte mein Auto auf dem kleinen Parkplatz in der Nähe des Waldes abgestellt, um nicht bemerkt zu werden. Dort war es jetzt stockfinster und als ich die Scheinwerfer einschaltete, sah ich eine dunkle Gestalt in den Wald huschen.

Rosalies Schlüssel

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