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9.

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Der Druck auf seiner Brust weckte ihn. Etwas Schweres hinderte ihn daran zu atmen. Wenn er es trotzdem versuchte, zuckte scharfer Schmerz durch seinen Körper bis hinauf in sein Hirn. Stahnke schnappte nach Luft und öffnete die Augen.

Etwas lag auf seiner Brust, etwas Gewichtiges. Das war also kein Traum gewesen. Dieses Etwas war rund und faltig und trug eine große Brille. Der Kopf von Paul Hinderks! Wie kam denn der dorthin? Hatte der ihn umgehauen und ausgeknockt? Irgendwie passte das alles nicht zusammen.

Der Kopf von Paul Hinderks schlug die Augen auf. »Natürlich passt das alles nicht zusammen!«, tönte er. »Das Ding hatte dort überhaupt nichts zu suchen!«

Welches Ding, fragte Stahnke, aber seine Lippen wollten sich nicht bewegen, daher blieben die Worte ungesagt.

»Na, welches Ding wohl?«, keifte der Kopf. »Die Bombe natürlich! Hab’ ich sofort gesehen, dass die da nicht hingehörte! Aber Ihre Leute, die haben nichts gemerkt. Typisch! Wofür zahlen wir Gewerkschafter eigentlich Steuern?«

Diese Bombe, wollte Stahnke fragen, von wem kam die? Wer wollte Sie umbringen? Oder vielleicht …

»Jetzt soll ich auch noch Ihre Arbeit machen!«, schimpfte der Kopf von Paul Hinderks. »Da denk ich gar nicht dran! Das kriegen Sie mal schön selber raus, wer das war. Für mich ist jetzt Schicht. Ich hab’ Feierabend.« Der Kopf senkte seine Augenlider.

Halt, wollte Stahnke rufen, nein, hiergeblieben! Lassen Sie mich nicht hängen! Wieder brachte er keinen Ton heraus. Zudem wurde ihm bewusst, dass er selbst die Augen ebenfalls noch geschlossen hatte. Mit größter Mühe wuchtete er seine Lider hoch.

Das Bett, in dem er lag, war blendend weiß bezogen. Das ganze Zimmer war so weiß, dass seine Augen schmerzten. Als Stahnke wieder etwas erkennen konnte, sah er Paul Hinderks, der sich über ihn gebeugt hatte und lächelte. Nanu, dachte der Hauptkommissar, plötzlich wieder mit Körper? Muss ja ein ganz tolles Krankenhaus sein, in dem ich liege. Und wieso trägt der Bevollmächtigte der Metallergewerkschaft weiße Klamotten?

Der Mann mit dem faltigen Gesicht und der großen, dicken Brille richtete sich zur vollen Größe auf. Sehr viel war das nicht. »Er kommt langsam zu sich«, sagte er mit einer geisterhaft hauchenden Stimme, »Unkraut vergeht nicht.« Hatte Paul Hinderks zum neuen Körper auch neue Stimmbänder bekommen?

Der weiß Gekleidete trat beiseite. Oberkommissar Kramer nahm seinen Platz ein. »Moin, Chef«, sagte der hagere Mann. »Das ging gerade noch mal gut gestern. Ich bin echt froh, dass du nicht einen Schritt schneller gewesen bist.«

Moin, das sagte der Ostfriese zu jeder Tages- und Nachtzeit. Weil es ja auch nicht etwa »Morgen« hieß, sondern »schön«. Auf Plattdeutsch »moj«. Moin war die Kurzform von »Mojen Dag« und passte immer. Aber »gestern«?

»Wie lange?«, krächzte Stahnke. Die Worte schmerzten in seinem ausgedörrten Hals. Und in seiner Brust.

»20 Stunden ungefähr«, erwiderte Kramer. »Die haben dich ganz schön unter Drogen gesetzt. Der Explosionsdruck hatte dich umgeworfen, und du bist rückwärts auf den alten Drehstuhl von Hinderks gefallen. Hast dem Ding damit den Rest gegeben. Der Notarzt befürchtete, du könntest dir dabei die Wirbelsäule verletzt haben, und hat alle möglichen Untersuchungen angeordnet, MRT und so weiter. Dazu mussten sie dich erst einmal ruhigstellen.«

Stahnke holte Atem und spürte wieder den stechenden Schmerz. »Und?«, stöhnte er.

»Wirbelsäule in Ordnung«, berichtete Kramer. »Nur eine Rippe ist angeknackst.«

Nur eine Rippe? Nur angeknackst? Dafür tat sein Brustkorb aber ganz schön weh, dachte Stahnke. War die Rippe vielleicht doch durchgebrochen und steckte in seiner Lunge?

Der Arzt erschien wieder in seinem Blickfeld. Jetzt, da Stahnke zunehmend klarer sah, erschien ihm die Ähnlichkeit mit Paul Hinderks nicht mehr ganz so groß. Und der Mediziner selbst nicht mehr so unbekannt. »Doktor Mergner!«, stieß er hervor. »Seit wann kümmern Sie sich um die Lebenden?«

»Nun ja, auch meine Kunden haben alle irgendwann mal gelebt«, hauchte der Pathologe mit seiner Geisterstimme. Sein Kittel umbauschte seinen grätenhaften Körper wie morgendlicher Seenebel. »Ich muss gestehen, dass ich für einen Moment mit dem Gedanken geliebäugelt habe, auch Ihre opulenten Überreste auf meinen Tisch zu bekommen. Aber so weit ist es noch nicht. Tatsächlich bin ich wegen des eigentlichen Opfers besagter Explosion hier im Haus.«

Wieder schob sich das Gesicht von Paul Hinderks vor das von Doktor Mergner. Stahnke blinzelte; anscheinend zirkulierte noch allerhand Chemisches durch seine Adern. Kramer gab seinem Vorgesetzten einen Schluck zu trinken, was dieser dankbar annahm. Sogar aus einem Schnabelbecher.

»Was ist mit Hinderks?«, fragte Stahnke. Selbst das lautere Sprechen bereitete ihm Schmerzen in der Brust.

»Falsche Zeit, falscher Ort«, hauchte Doktor Mergner. »Es hat ihn buchstäblich zerrissen. Als Organspender kommt er definitiv nicht mehr infrage. Schade eigentlich, er besaß einen Spenderausweis.«

Stahnke schloss die Augen. So aber sah er Hinderks’ Kopf erst recht vorbeifliegen. Schnell öffnete er sie wieder.

»Die Bombe war in einem Heizlüfter versteckt«, berichtete Kramer; Stahnke war dankbar für dessen unpersönlichen Tonfall. »Größeres Modell, sorgfältig entkernt. Hinderks hat gemerkt, dass das Gerät dort nicht hingehörte, wo es stand. Die Explosion muss erfolgt sein, als er sich gerade darüber beugte.«

Im Hintergrund warf Doktor Mergner lautlos beide Arme hoch und zur Seite, eine Detonation andeutend. Gegen seinen Willen musste Stahnke lachen; der Schmerz in seinem Brustkorb verstärkte sich um ein Vielfaches.

»Eine Falle«, stieß der Hauptkommissar mühsam hervor.

»Möglicherweise«, erwiderte Kramer. »Die Experten vom LKA haben Reste eines Säurezünders entdeckt. Der Zeitpunkt der Explosion war also vorherberechnet. Allerdings konnten der oder die Täter nicht genau wissen, dass ausgerechnet der Gewerkschaftsbevollmächtigte Paul Hinderks zu dem Zeitpunkt dort stehen würde.«

»Wer sonst?«, fragte Stahnke. »Wer sonst hätte in dem Moment genau dort stehen sollen?«

»Wir«, antwortete Kramer.

Stahnke schnappte nach Luft, unterdrückte einen Schmerzensschrei, versuchte, Kramers Gedanken zu folgen. Sie? Kramer, Ekinci, Stahnke selbst, die Spurensicherung, kurz: die Polizei? War dies ein Anschlag auf die Polizei gewesen?

Dann hätte es sich bei dem Molli um einen Köder gehandelt. Den Wurm am Haken. Jemand meldet den Brand, Feuerwehr und Polizei rücken an, normales Procedere. Innerhalb von ein bis anderthalb Stunden ist der erste Zugriff abgeschlossen, Feuerwehr und Spurensicherung haben ihren Job gemacht, die Kripo rückt an und beginnt zu ermitteln. Darunter der eigens aus Aurich herbeigerufene Hauptkommissar Stahnke, Leiter des Fachkommissariats römisch eins. Und dann: Bäng.

»Wer hat den Brand gemeldet?«, fragte er.

»Anonymer Anrufer«, sagte Kramer.

Die beiden Ermittler schauten einander an. Sie arbeiteten seit vielen Jahren zusammen, mussten nicht mehr viele Worte machen. Was Kramer da angedeutet und Stahnke sich ausgemalt hatte, konnte so gewesen sein, musste es aber nicht. Absolut nicht. Nicht ohne irgendeinen konkreten Hinweis.

»Das Opfer ist Paul Hinderks«, sagte Stahnke. »Er hat von Beschimpfungen und Drohungen erzählt, ohne allerdings konkret zu werden. Da müssen wir ansetzen.«

Kramer nickte und zückte seinen Notizblock. »Ich habe mir die Rede zusammenfassen lassen, die er gestern auf der Maikundgebung gehalten hat«, berichtete er. »Schwerpunktthemen: Tarifflucht der Arbeitgeber, Niedriglöhne trotz guter Konjunktur, Lohndruck durch unterbezahlte Leiharbeit. Und die neue Rechte.«

»Die neue Rechte?« Das hatte Stahnke dem kleinen staubgrauen Gewerkschaftsbevollmächtigten gar nicht zugetraut. Auf den ersten Blick jedenfalls. Doch Hinderks hatte sich durchaus kampflustig präsentiert. Jetzt war er tot.

Kramer nickte. »Muss wohl ein Thema sein in den Gewerkschaften. Da fischen die Rechten nach Stimmen, haben auch schon einige Betriebsräte in der Hand. Das läuft über die Neidschiene: Den Migranten steckt der Staat alles in den Hintern, und ihr könnt euch kaum den Mallorca-Urlaub leisten! Das ist plump, verfängt aber. Immer mehr Arbeiter und Angestellte wechseln direkt von der SPD zu den Rechten. Also den ganz Rechten.«

Stahnke signalisierte, dass er noch mehr trinken wollte, und bekam das Mundstück des Bechers zwischen die Zähne geschoben. Das war damals in Weimar genauso, dachte er, während er gierig trank. Vielmehr in der Weimarer Republik. Damals liefen auch und gerade die Arbeiter, die zuvor Anhänger von SPD und KPD gewesen waren, in Scharen zu den Nazis über, ohne Umweg über gemäßigte Parteien. Weil die Nazis ihnen das Blaue vom Himmel versprachen, das Heil sozusagen. Und weil sie ihnen einen Sündenbock lieferten, der an allem schuld sein sollte. Praktisch, so musste sich niemand an die eigene Nase fassen.

Genug getrunken; er hob die flache Hand. »Die neuen Rechten also. Wo sollen wir da anfangen? Bei der AfD? Fraglich. Die meisten Rechtsnationalen heutzutage sollen doch gar nicht parteigebunden sein, mehr so freischwebend. Wie die Reichsbürger oder die Identitären. Tausende von Einzeltätern sozusagen.«

»Gut vernetzt sind die trotzdem«, sagte Kramer. »Das Einzeltätertum ist eine reine Schutzbehauptung. Wenn es drauf ankommt, halten die alle zusammen.« Der Oberkommissar stellte den Schnabelbecher weg. »Aber was heißt denn wir? Du bist verletzt, du bleibst schön in der Waagerechten. Es kommt sowieso Ersatz aus Aurich.«

Aurich. Da war doch noch etwas. Stahnke stemmte sich mit den Ellenbogen hoch. Die angebrochene Rippe schmerzte wie verrückt, aber je klarer er im Kopf wurde, desto besser ließ sich das aushalten, so widersinnig ihm das auch vorkam. Angebrochen war eben nicht gebrochen. Aber was war denn da bloß vorhin in Aurich gewesen?

»Ihre Fürsorge in allen Ehren, Herr Kramer«, hauchte die Geisterstimme aus dem Hintergrund, »aber Bettruhe tut für Ihren Vorgesetzten gar nicht not. Der bekommt gleich einen festen Druckverband, und dann kann er schon wieder auf zwei Beinen laufen. Aufrechter Gang auf Rezept. Lange Liegezeiten sieht das profitorientierte Krankenhauskonzept heutzutage sowieso nicht mehr vor. Ich sag gleich der Schwester Bescheid.« Schon schwebte Doktor Mergner aus dem Krankenzimmer.

Für einen Moment war es der sonst so stoische Kramer, der aus dem Konzept kam. Mit dieser Schützenhilfe für seinen Chef hatte er nicht gerechnet.

Bei Stahnke setzte im selben Augenblick die Erinnerung ein. Der schwarze Audi, der ihm die Vorfahrt genommen hatte! Der war nicht nur deutlich zu schnell gewesen, er hatte auch allerhand Aufkleber am Heck gehabt, von der Deutschlandfahne bis zum Totenkopf. Und auf der hinteren Scheibe den Schriftzug »Frei.Wild«.

Jetzt fiel ihm auch das Kennzeichen wieder ein. AUR – AH 818.

Stahnke holte langsam Luft, sodass der Schmerz erträglich blieb, und schwang die Beine aus dem Bett. »Ruf mal in der Inspektion an«, forderte er seinen Kollegen auf. »Wir benötigen eine Halterfeststellung.«

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