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3.

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Morgens halb acht auf Langeoog, dachte Lüppo Buss, da war die Welt noch in Ordnung! Zumindest sah sie so aus. Die Insel lag herausgeputzt in der Morgensonne, der Wind wehte ausnahmsweise lau, die Luft war frisch, die Möwen kreisten noch abwartend. Ruhe, Feiertagsfrieden, Idylle überall.

Klar, die Badegäste schliefen ja auch noch in ihren Pensions- und Hotelbetten. Und die Tagestouristen waren noch nicht da. Die Inselbahn aber näherte sich bereits. Der Inselpolizist seufzte, denn er wusste, was kommen würde.

Die Diesellok rollte an ihm vorbei, die bunten Waggons kamen zum Stehen. So lange hatten viele Passagiere aber gar nicht gewartet. Sie drängelten sich schon auf den offenen Plattformen, hatten die eisernen Pforten bereits entriegelt und sprangen noch während der Fahrt ab, sobald es ihnen vertretbar erschien. Lüppo Buss biss die Zähne zusammen. Der Anblick seiner adretten Uniform hielt hier niemanden von verbotswidrigem Tun ab, ebenso wenig wie der seiner beachtlichen Unterarmmuskeln. Was würde wohl passieren, wenn er die Leute stoppen und ermahnen würde? Oder ihnen gar Bußgeldbescheide ausstellte? Er mochte es sich nicht vorstellen. Auf jeden Fall könnte er noch am selben Tag sein Versetzungsgesuch einreichen.

Dabei war das hier ja überwiegend die arbeitende Bevölkerung, Feiertag hin oder her. Die Leute, die zwar auf Langeoog einen Job hatten, aber nicht genügend Geld damit verdienten, um sich eine Wohnung auf der Insel leisten zu können. Sie mussten sich irgendwo auf dem Festland einmieten und täglich mit der Fähre hin und her pendeln. Das kostete viel Zeit und Nerven, malte dicke dunkle Ringe unter verquollene Augen und machte schlechte Laune.

Dabei konnten die Langeoog-Pendler noch von Glück sagen, dass es hier eine verlässliche Fährverbindung mit festem Fahrplan gab. Auf manchen Nordseeinseln war das anders, etwa auf Juist oder Spiekeroog, wo die Fähre abhängig vom tidebedingten Wasserstand war. Tja, dachte Lüppo Buss, schlimmer ging es immer. Aber wurde es auch irgendwann einmal wieder besser? Kaum anzunehmen, angesichts der ins Unermessliche steigenden Immobilienpreise.

Was natürlich an den immer aufs Neue nachdrängenden Touristenmassen lag. Und wenn die erst anrollten, mit den späteren Fähren und Zügen, dann würde hier auf dem Langeooger Bahnsteig das nackte Chaos ausbrechen. In dicken Trauben würden sich die Leute an der Gepäckausgabe drängen, Ellbogen gespreizt und Stimmen erhoben, getrieben von einem gemeinsamen Gedanken: Ich! Jetzt! Zuerst! Und weil alle sich selbst die Nächsten waren, würde erst einmal keiner zum Zuge kommen. Die mal flehenden, mal ärgerlichen Durchsagen der Bahnsteigaufsicht würden wirkungslos verhallen. Bis dann irgendwann doch jeder irgendwie an seine Gepäckstücke gekommen war. Und bis zum nächsten Mal.

Lüppo Buss schüttelte sich diese Gedanken aus dem Kopf; deswegen war er nicht hier. Sondern wegen des hochgewachsenen Mannes, der gerade aus dem roten Waggon stieg, sich dabei im Gehen abwechselnd räkelte und die Augen rieb.

Der Inselpolizist trat auf ihn zu. »Moin, Friedo! Hast du ein paar Minuten für mich?«

Friedo Adams zwinkerte irritiert und blickte auf Lüppo Buss herab. Bis auf den Größenunterschied waren sich die beiden Männer nicht unähnlich: beide mittelblond, beide sonnengebräunt und windgegerbt, beide von schlanker, aber kräftiger Statur mit auffallend muskulösen Unterarmen, die sie ebenfalls beide gerne zur Schau stellten. Natürlich war Adams einige Jährchen jünger als der Oberkommissar, aber noch konnte der sich einreden, dass diese Differenz kaum ins Gewicht fiel.

»Eigentlich nicht«, sagte Friedo Adams und schob ein verspätetes »Moin« hinterher. »Ich müsste gleich ins Amt, da ist allerhand liegengeblieben die letzten Tage.«

Demonstrativ schaute Lüppo Buss auf seine Armbanduhr. »Und da willst du dich lieber ganz allein dran machen? Heute, am 1. Mai? Ohne dass irgendwer von deinen Kolleginnen und Kollegen da ist?« Er setzte seine dienstliche Miene auf. »Nur eine Befragung. Muss leider sein. Dauert auch nicht lange.«

»Worum geht es denn?«, fragte Adams. Seine Augenlider flatterten.

»Komm erst mal mit«, sagte der Inselpolizist, legte Adams eine Hand aufs Schulterblatt und schob ihn sanft, aber nachdrücklich an. Seite an Seite trabten sie los. »Wir machen das ganz nach Vorschrift«, fuhr der Oberkommissar fort, »in meinem Büro, mit Protokoll und so. Ist für die Leeraner Kollegen.«

Adams wurde blass; sein Körper versteifte sich. »Wegen Carsten?«, stieß er hervor. »Ist es wegen Carsten Fecht?«

Lüppo Buss war kein Verhörspezialist; sein Berufsalltag auf Langeoog verlangte andere Kenntnisse und Qualitäten. Kriminalistische Feinheiten überließ er gerne Leuten wie Stahnke, auf dessen Bitte hin er hier in Aktion getreten war. Aber natürlich kannte er den Begriff Täterwissen. War das hier welches?

»Wie kommst du darauf?«, fragte er so beiläufig wie möglich.

»Steht doch schon online«, sagte Adams. »Auf der OP-Seite. Carsten ist gestern Abend vor seinem eigenen Haus erschossen worden. Kurz vorher hatte ich ihn noch gesehen. Mensch, wer macht denn so was?«

Tja, dachte Lüppo Buss, genau das war die Frage. »Du warst in Leer, auf der Maifeier am Hafen?«, fragte er, was er bereits wusste. »Wann bist du denn da weg?«

»Ach, wann bin ich da weg?«, echote Adams. »Erst habe ich länger mit dem Noack gequatscht, dann musste ich pinkeln. Bin rüber ins Klottjehus, das war offen. Danach bin ich dann auch bald los.«

»Uhrzeit? In etwa?«

Adams zuckte mit den Schultern. »Hab nicht auf die Uhr geschaut. Aber als ich in Wittmund ankam, war es schon länger dunkel.«

»Wie lange hast du denn gebraucht für die Strecke?«

Wieder Schulterzucken. »40 Minuten vielleicht? Kennst mich doch.«

Ja, Lüppo Buss kannte Friedo Adams. Und dessen Neigung zu übermäßig schnellem Autofahren. Wie viele Insulaner, die es sich leisten konnten, unterhielt Adams eine Zweitwohnung auf dem Festland, um der dörflichen Enge und der mangelnden Anonymität immer mal wieder zu entkommen. Und wie viele, die auf Langeoog auf ein Auto verzichten mussten, lebte er gerne den aufgestauten Drang zum Rasen aus, sowie sich die Gelegenheit bot. Als Tourismusmanager verkündete Adams jederzeit das Hohe Lied der Autofreiheit, und womöglich glaubte er auch wirklich daran. Aber sobald er vier Räder unter dem Hintern hatte, mutierte er zur Pistensau.

»Und wann warst du zu Hause? Oder hast du da auch nicht auf die Uhr geguckt?«

»Nö, warum sollte ich? Hab’ mich gleich vor die Glotze gehockt. War ja ein anstrengender Tag gewesen. Erst das Touristikertreffen in Leer, dann noch mit Genossen zusammengesessen, am Abend die Maifeier …«

Klar, dachte Lüppo Buss, das klang nach harter Arbeit! »Was hast du denn geguckt in der Glotze?«, fragte er.

Friedo Adams’ Lippen klappten im Leerlauf auf und zu. Eindeutig auf dem falschen Fuß erwischt, dachte der Inselpolizist, typische Aquariumsoptik!

»Tagesthemen?«, stieß Adams verspätet und im Frageton hervor. »Herrgott, ich guck’ ja ständig Nachrichten, um auf dem Laufenden zu bleiben, da weiß ich manchmal selber nicht mehr, wann und auf welchem Sender.«

Die beiden Männer waren flott marschiert, schneller sogar als manche der gehetzt wirkenden Gestalten, die an ihre Arbeitsplätze eilten. So hatten sie das Polizeibüro An der Kaapdüne nach wenigen Minuten erreicht. Es lag unterhalb des Wasserturms und nahe der Inselbuchhandlung, wo bereits reger Betrieb herrschte. Auch Badegäste hungerten nach Informationen, in diesem Fall auf Papier.

Lüppo Buss setzte sich hinter seinen Schreibtisch mit der auf Hochglanz polierten Platte und wies Friedo Adams den Besucherstuhl zu. Beide beugten sich vor und legten ihre Unterarme sorgfältig auf den Tisch. »Friedo«, sagte der Inselpolizist, »ich brauche es genauer. Weil, du brauchst auch etwas. Nämlich ein Alibi für die Tatzeit. Und das sehe ich noch nicht.«

Adams wurde bleich, extrem bleich sogar. Die Augen drohten ihm aus dem Kopf zu quellen. »Was heißt das denn?«, hauchte er. »Wieso brauche ich …« Er brach die überflüssige Frage ab.

»Wir wissen doch alle, was du manchmal so treibst.« Wenn er wollte, beherrschte der Inselpolizist auch den Tonfall eines Therapeuten. »Und was du so redest. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Ein Volk, ein Reich, eine neue Runde. Heil dir im Siegerkranz, nimm, was du kriegen kannst. Und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Sieg Heil! Bisschen merkwürdig für einen Sozialdemokraten, oder?«

»Aber hör mal, Lüppo, das ist doch alles bloß Spaß!« Adams gab sich empört, aber seine Stimme zitterte. »Das hat doch nichts zu bedeuten! Ist doch nur, weil … so reden doch viele!«

»Komisch. Die Leute, die ich kenne, reden nicht so.« Lüppo Buss verschränkte seine Arme vor der Brust. Er fand das nicht spaßig. »Ob das vielleicht eher an dir liegt? Ob du wohl solche Typen anziehst durch die Art, wie du dich gibst? Schon mal darüber nachgedacht?«

»Was soll ich denn machen? Das sind die Leute, von denen ich gewählt werden will!«, rief Friedo Adams aus. »Die sind uns doch scharenweise weggelaufen in den letzten Jahren. Jetzt müssen wir sie zurückholen. Und dazu muss man eben dahin gehen, wo es wehtut!«

Der Inselpolizist wusste sich zu beherrschen. »Reden wir mal nicht davon, was ich darüber denke«, sagte er. »Reden wir davon, wie deine Parteigenossen außerhalb von Langeoog und Wittmund darauf reagieren würden, wenn die das alles wüssten. Wenn jemand das veröffentlichen würde, mit Zitaten und vielleicht sogar mit Bildern. Was wäre dann?«

Schweißperlen erschienen auf Friedo Adams’ bleicher Stirn. »Was dann wäre?«, flüsterte er. »Gar nichts mehr. Das darf auf keinen Fall passieren. Nie und nimmer.«

Lüppo Buss entriegelte seine Arme und beugte sich wieder vor. »So ist das, Friedo«, sagte er. »Jetzt denk mal daran, dass du außerdem noch Mitglied im Langeooger Schießverein bist. Zweimal Vizemeister Kleinkaliber lang. Also brauchst du ein Alibi. Dringend. Von jemandem, der bezeugen kann, wann du wo warst. Und wir wissen beide, wen ich meine.«

Adams schlug die Augen nieder. »Du weißt?«

»Na klar weiß ich«, sagte der Inselpolizist. »So gut wie jeder hier auf Langeoog weiß das. Bis auf deine Frau.«

»Oh Gott, wenn sie das erfährt.« Friedo Adams, ein Kerl wie ein Baum, hockte auf seinem Stuhl wie ein Häufchen Elend. »Nie darf sie das erfahren! Lüppo, da musst du für sorgen! Denk mal an unsere Kinder. Was das für die bedeuten würde, wenn meine Frau mich verlässt. Kannst du das verantworten?«

»Was? Ob ich das verantworten kann?« Lüppo Buss platzte der Kragen. »Ob ich es verantworten kann, dass du deinen Schwanz nicht in der Hose lassen kannst? Sag mal, hast du völlig den Verstand verloren? Und so was will Politik machen! So einer will anderen Leuten sagen …«

Der Inselpolizist unterbrach sich, denn Friedo Adams glotzte ihn nur an, ebenso erschrocken wie verständnislos. Da war jedes weitere Wort verschwendet.

»Also, wir behandeln das vertraulich«, sagte er stattdessen. »Warst du nun gestern Abend bei deiner Freundin, ja oder nein?«

»Ja«, sagte Friedo Adams heiser.

»Gibst du mir ihre Telefonnummer, damit ich direkt fragen kann?«

Adams nickte und zückte sein Handy. »Ich schick’ sie dir«, murmelte er.

»Dann kannst du jetzt gehen«, knurrte der Inselpolizist. Aber als Adams schon aufgestanden war und die Hand an der Türklinke hatte, rief er ihn noch einmal zurück. »Du hältst dich zu meiner Verfügung, verstanden?«, sagte er mit viel Eisen in der Stimme.

Als die Tür hinter Friedo Adams zugefallen war, lehnte Lüppo Buss sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte zufrieden die Hände hinter seinem Kopf. Das hatte er schon immer einmal sagen wollen.

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