Читать книгу Mein Schmetterlingsjahr - Peter Henning - Страница 8

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Es begann mit einem Geräusch vor mehr als fünfzig Jahren im ehemaligen Klavierzimmer meiner Tante. Es klang, als fange ein Stück Papier, an das man ein brennendes Streichholz hält, von einem Luftzug angefacht an mehreren Stellen gleichzeitig Feuer.

„Fuh! Fuh! Fuh!“

Ich war damals sieben Jahre alt und ich weiß nicht mehr, wie es kam, dass mein polnischer Ziehvater Walla, der eigentlich Viktor Knapik hieß, plötzlich das Tagpfauenauge (Inachis Io) in seinen zu einer geschlossenen Kugel geformten Händen gefangen hielt. Aber ich sehe seine starken, nicht sehr großen Hände auch ein halbes Jahrhundert später so deutlich wie auf einer Fotografie vor mir. Als bräuchte ich nur meinen Arm nach ihnen auszustrecken, um sie zu berühren. Ich beugte mich über das kleine Guckloch, das er mit seinen übereinandergelegten Daumen erzeugte, indem er sie vorsichtig einen Spalt breit voneinander löste, wobei er mich auffordernd ansah und sagte: „So. Und jetzt schau und hör mal!“


Also spähte ich in das halbdunkle Innere des kleinen Fingergefängnisses, in dem der Falter mit geschlossenen, steil aufragenden Flügeln saß. Dann legte ich wie befohlen mein Ohr an die Öffnung, schloss die Augen, horchte gespannt und erlebte ein kleines akustisches Wunder, als der Falter seine Flügel ein paar Mal kurz hintereinander öffnete und wieder schloss und dabei die Luft, die sich zwischen den tausendfach dachziegelartig angeordneten Schuppen gesammelt hatte, mit einem mir magisch erscheinenden „Fuh! Fuh! Fuh!“ entwich.

Ich registrierte es mit der Wonne eines wohligen, süßen Schauers, der mich heute noch mit beinah der gleichen Intensität durchströmt, wenn ich in der Erinnerung in das ehemalige Klavierzimmer meiner Tante zurückkehre.

„Ja, ich höre es!“, habe ich ebenso stolz wie aufgeregt ausgerufen und mich augenblicklich im Besitz einer höheren Wahrheit gefühlt. Ich hatte gerade – davon war ich überzeugt – nicht nur etwas völlig Unvergleichliches gehört, ein allerkürzestes Musikstück geradezu, sondern dieses zugleich als eine an mich ganz persönlich gerichtete Liebeserklärung verstanden.

Seither suche, sammle, züchte, bewundere und literarisiere ich das Leben der Schmetterlinge, welches sich zum Großteil im Verborgenen abspielt, erforsche die schier unergründliche Vielfalt ihrer Verhaltensweisen und verfolge ihre faszinierenden Verwandlungen mit der Zuneigung eines ihnen unerschütterlich zugewandten Freundes, ja Verehrers.

Ich studiere die von Art zu Art jeweils anders verlaufende Metamorphose vom stecknadelkopfgroßen Ei über die diversen Raupenstadien und die Verpuppung bis hin zum krönenden Abschluss: dem Hervorbrechen des ausgewachsenen Falters, der sogenannten Imago, aus der geschlossenen Puppenhülle. Sein Erscheinen markiert das Ende eines ebenso vielfältigen wie faszinierenden Entwicklungsprozesses, leitet aber mit der bald darauf erfolgenden Paarung und der Eiablage durch die weiblichen Imagines zugleich die nächste Etappe im Leben eines Schmetterlings ein, womit der gesamte Zyklus im Sinne der Arterhaltung von Neuem beginnt.

Doch ich betreibe meine Forschungen nicht mit der strengen Systematik des Wissenschaftlers, der die meiste Zeit beflissen durch das Okular seines Elektronenmikroskops schaut, durch welches er Mundwerkzeuge, Superpositionsaugen, Brustganglien, Herz oder Hoden einheimischer Schwärmerraupen studiert, und sie anschließend mit chirurgischer Sorgfalt seziert. Nein, ich arbeite mit der freien, ungezwungenen und oft ekstatischen Leidenschaft eines in die Formen-, Farben- und Wesensvielfalt vernarrten Beobachters und Geschichtenerzählers, der sich jedoch nicht weniger interessanten Fragen widmet. Was zum Beispiel mag den in der Toskana anzutreffenden Erdbeerbaumfalter (Charaxes jasius) dazu veranlassen, mich unvermittelt anzugreifen? Wie ist es möglich, mit einem Admiral (Vanessa atalanta) zu spielen? Oder warum sitzen Zitronenfalter (Gonepteryx rhamni) im tiefsten Winter unter der dichten Schneedecke, ohne zu erfrieren?

Davon und von vielem mehr will dieses etwas andere Schmetterlingsbuch erzählen, indem es seine Leserinnen und Leser an jene entlegenen Orte entführt, wo der seltene Falsche Apollofalter (Archon appolinus), der prächtige Isabellaspinner (Graellsia isabellae) oder die tanzende Berghexe (Chazara briseis) zu Hause sind – auf die griechische Insel Samos, in die südspanische Sierra de Segura oder an die kroatische Felsenküste bei Porec. Mein Reisebericht ist eine unverhohlene Liebeserklärung an all die Schmetterlinge, denen ich je begegnet bin.

Meine erste Falter-Expedition, die diese Bezeichnung verdiente, unternahm ich 1967 gemeinsam mit meiner Großmutter Luise und ihrem Lebensgefährten Viktor in dessen rotem Opel Rekord 1700. Sie führte uns in die Nähe von Porec im damaligen Jugoslawien. Frisches Brot (kruh) und Milch (mlijeko) brachte ein staubiger alter Kleinlaster jeden Morgen auf den Campingplatz. Trinkwasser holten wir aus einer Zisterne in den von Macchia überwucherten Hügeln und in den Postämtern hing allerorten das Konterfei des amtierenden kommunistischen Staatschefs Josip Tito an den Wänden. An den Straßenrändern boten im Schatten sitzende, sonnenverbrannte junge Männer und Frauen Wassermelonen zum Verkauf, die wir im Meerwasser kühlten und uns am Strand schmecken ließen. Aus den mit Wäscheleinen in den Ästen der Pinien befestigten Lautsprechern schallten die Hits von Neil Diamond und Herman’s Hermits über den Zeltplatz, und über die Außenwände unseres gelb-blauen Vier-Mann-Zelts krabbelten die gelbgrünen, walzenförmigen Raupen des Segelfalters (Iphiclides podalirius), des vielleicht schönsten und anmutigsten Fliegers unter den europäischen Schuppenflüglern. Tagsüber lagen handtellergroße blutrote Seesterne auf den Steinmauern rund um den Zeltplatz zum Trocknen in der Sonne, abends roch es nach gegrilltem Fisch und spätnachts fegte manchmal die Bora, der gefürchtete Fallwind aus dem Norden, über den Platz hinweg und raubte uns den Schlaf. Ich habe die schier endlosen Sommer in Jugoslawien geliebt!

Georg Warneckes Naturführer Welcher Schmetterling ist das? wurde zu meiner Bibel, die ich immer bei mir trug. Sie lehrte mich glauben, sehen und verstehen. Ich lernte den Glauben an die Schönheiten und die Wunder der Natur, das sehende Erkennen der Schmetterlinge in ihren bisweilen kaum begreiflichen Erscheinungsformen und das lesende Verstehen der selbst für einen Jungen wie mich zugänglichen Erläuterungen.


Gleichwohl begriff ich früh, dass sich unser Wissen über die erstmals im Jahr 1501 so bezeichneten „Schuppenflügler“ zumeist auf die oberflächlichen Informationen beschränkt, welche die gängigen Bestimmungsbücher in Form bunter Bildtafeln und kurz gefasster Texte ihren Lesern bieten. Falter-Steckbriefe – schön und gut! Aber sonst? Ich wollte bald mehr, tiefer eindringen in ihre Welt, ihnen näher kommen und mich in sie einfühlen, um sie besser zu verstehen. Aus dem Bedürfnis heraus, all jene, die sich für Schmetterlinge interessieren, wenigstens für ein paar Stunden in eine fremde Welt zu entführen und ihre Geheimnisse zu lüften, ist dieses Buch entstanden.

Der Schmetterling gilt als Sympathieträger. Man begegnet ihm auf Werbeplakaten, Postkarten, Briefmarken, Kalendern und unzähligen Buchumschlägen, als Motiv von Schmuckstücken oder als modisches Accessoire. Die britische Achtzigerjahre-Pop-Band Barclay James Harvest hatte den Schmetterling zu ihrem persönlichen Wappentier erkoren und der psychopathische Killer in Thomas Harris’ weltberühmtem Thriller Das Schweigen der Lämmer deponierte in einem symbolischen Akt Puppen des Totenkopfschwärmers (Acheronita atropos) als Signatur in den Rachen seiner Opfer.

Der Schmetterling wird als schillernder Meister der Metamorphose und als Sinnbild fragiler Anmut gepriesen. Die Mythologie sieht in ihm ein Symbol für Wiedergeburt und Unsterblichkeit. Für viele Menschen verkörpert er die Leichtigkeit des Seins, Grazie, Lebens- und Sinnenfreude. In Mexiko glaubt man, die jedes Jahr am Tag der Toten, dem Día de Muertos, zu Hunderttausenden aus dem Norden in die Sierra Nevada einfallenden Monarchfalter (Danaus plexippus) trügen die heimkehrenden Seelen der Verstorbenen in sich.

Über die artspezifischen Eigenheiten, Tarnkünste, Finten und Überlebenstricks der Schmetterlinge und die „Kostümwechsel“ ihrer larvenhaften Vorstufen, der Raupen, ist vergleichsweise wenig bekannt. Was sich darüber in den anspruchsvollen Aufsätzen der Forscher findet, die sich in entomologischen Vereinen organisiert haben, um ihr Feld streng wissenschaftlich zu beackern, verschließt sich dem Laien bereits aufgrund der ihm unverständlichen Fachsprache. Aber muss das sein? Geht es nicht auch anders? Ich denke schon.

Ich habe, auch später noch, als ich bereits Schriftsteller war und Romane schrieb, lange davon geträumt, eines Tages ein Schmetterlingsbuch zu schreiben für Menschen wie mich, die wissen wollen, ohne Wissenschaft treiben zu müssen. Ein Buch, in dem ich ganz persönlich beschreibe, was ich auf meinen Reisen zu den Schmetterlingen erlebt habe, was ich ihnen verdanke und weshalb sie mit Fug und Recht zum Schönsten im Tierreich gezählt werden.

Wer sich eine Vorstellung von der unendlichen Vielfalt der Arten, von den Lebensräumen und der kulturellen Bedeutung der Schmetterlinge verschaffen will, darf sich nicht auf die heimischen, uns in Gärten, Parks und städtischen Grünanlagen begegnenden Falter beschränken. Er muss reisen, dorthin, wo er die Schmetterlinge in ihrer natürlichen Umwelt vorfindet, dorthin, wo sie ihre jahrhundertealten Rituale zelebrieren, ins Innerste ihrer Welt. Andere legen ein Sabbatical ein, um eine Zeit lang Abstand vom Alltag und den Kopf frei zu bekommen. Ich habe mir dafür ein Schmetterlingsjahr gegönnt.

Ich beugte mich über die Europakarte, wählte als Reiseziele die Flugorte jener Falter aus, die ich immer schon einmal in ihrer ursprünglichen Umgebung beobachten wollte, arbeitete eine Route aus, packte meine Koffer, sagte meinen Freunden Adieu und brach auf. Was ich auf meiner knapp zwölf Monate währenden Expedition erlebte, findet sich festgehalten in den nachfolgenden Geschichten über eine mehr denn je vom Aussterben bedrohte Spezies.

Das eingangs geschilderte Tagpfauenauge, das mich die Schmetterlinge „hören“ lehrte, haben wir übrigens wenig später durchs offene Küchenfenster in die Freiheit des strahlend blauen Hanauer Julihimmels entlassen. Das Geräusch aber, das ich damals zum ersten Mal vernahm, habe ich nie vergessen. Es begründete meine bis heute unverbrüchliche Verbundenheit mit ihm und all seinen Artgenossen.

Peter Henning, im Januar 2018

Mein Schmetterlingsjahr

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