Читать книгу Montag oder Die Reise nach innen - Peter Schmidt - Страница 11

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Zu dieser Zeit befand sich meine Familie in keiner guten Verfassung. Dornenvogel hatte meinen Vater zu einem gewagten Spekulationsgeschäft überredet. Anstatt komplette Häuser zu bauen, fand er, sei das Klima jetzt günstig für Betongerippe.

Verkaufen wir der Dritten Welt doch einfach vorgefertigte Elemente, aus denen sich komplette Betongerüste von Häusern herstellen lassen, alles nach Schema f. Danach müssen sie diese Gerüste nur noch mit Mauerwerk oder Platten verbinden, Platten aus Lehm oder Kuhdung.

Wenn nichts anderes da ist, auch aus Wellblech, Pappe oder Bastmatten. Die Betongerippe werden von eingelassenen Kunststoffverbindungen zusammengehalten, ohne jede Schweißnaht, ohne Mörtel. Klick – und fertig. Was halten Sie von der Idee, Herzbaum?

Und mein Vater, dieser Oberdiot, murmelt tatsächlich: »Hört sich gut an, klingt genial.«

Er glaubte Dornenvogel, einem von der amerikanischen Steuerfahndung gejagten Betrüger, dass kaum jemand in der Dritten Welt fähig sei, Pfeiler aus anständig geflochtenem Stahlbeton auf ein Fundament aus ebenso stabilem Beton zu setzen und daraus ein ordentliches Hochhaus zu bauen.

Er hatte bei einem Urlaub in Hammamet gesehen, wie schief Fellachen schon eine einfache Mauer hochzogen und war zu der Schlussfolgerung gelangt, sie seien den zivilisierten Ländern hoffnungslos unterlegen. Er hätte nur irgendeinen beliebigen Reisekatalog oder ein Lexikon aufschlagen müssen, um zu entdecken, dass man überall auf der Welt genauso gute Hochhäuser baute wie hier.

Aber er hatte sein Bewusstsein vor dieser Erkenntnis verschlossen – er wollte es vor der Realität verschließen, weil die Aussicht auf eine unermessliche Gewinnquelle ihm ein genauso selig einlullendes Gefühl verschaffte wie der süße Schnuller dem Säugling.

Dornenvogel beauftragte – mit dem Kapital meines Oberhirten, womit sonst? – eine nigerianische Firma, die augenblicklich die Produktion der Bauelemente begann, als habe sie die Konstruktionszeichnungen schon fertig in den Schubladen gehabt. Dornenvogels Kompagnon war ein Fabrikant namens Halleluja Dumbo vom Stamm der Tschibutis, der Beziehungen zum Bauministerium besaß.

Mein Vater verlor innerhalb eines dreiviertel Jahres die Hälfte seines Vermögen. Das traf ihn härter als jeder krebsig entartete »Granatapfel«. Von da an hatte er so gut wie überhaupt keinen Stuhlgang mehr – jedenfalls, wenn man seinem allmorgendlichen Gejammer durch die Badezimmertür glauben durfte.

Und meine Mutter entdeckte inzwischen ihre Liebe zu einem Schüler der zehnten Klasse unseres Gymnasiums. Er sah drei Jahre älter aus, hatte so strohblondes Haar wie die Mädchen in den Blondinenwitzen und einen Körper, der durch irgendein neues amerikanisches Bodybuilder-Präparat aufgeschwemmt war. Es ließ die Muskeln quasi über Nacht wachsen, ehe man überhaupt eine Hantel angerührt hatte.

Sie holte Tarzan jeden Tag von der Schule ab, und natürlich setzte sie alles daran, dabei auf gar keinem Fall ihrem Sohn über den Weg zu laufen. Deshalb hatte ihr minderjähriger Liebhaber sich unter fadenscheinigem Vorwand (Platzangst auf dem Schulhof) vom Hausmeister den Schlüssel für den Hinterausgang besorgt. Wir werden nicht rot, weil wir etwas getan haben, dessen wir uns schämen müssten, sondern weil wir dabei ertappt worden sind.

Ich hatte schon genug mit mir selbst zu tun, also beschloss ich, ihre Liebschaft nicht weiter zu verfolgen und mich einfach an den Gedanken zu gewöhnen, dass manche Frauen kurz vor dem Ende ihrer Gebärfähigkeit noch einmal die Liebe entdecken.

Alexander Montag lud mich an diesem Abend zu sich nach Hause ein. Aus einem Grund, den ich mir nicht erklären konnte, war ich ungewöhnlich nervös, aber auch begierig, nun endlich seine Wohnung in der scheußliche alten Mietskaserne kennenzulernen, nachdem ich ihm so oft gefolgt war.

Vielleicht erwartete ich dort irgendein Geheimnis zu entdecken, Zimmer voller okkulter Gegenstände, in denen schwarze Messen abgehalten wurden und halbnackte Hexen tanzten, wie auf den Bildern Hieronymus Boschs. Aber der größte Teil der Wände war mit Büchern bedeckt. Die Regale reichten bis zu den kunstvoll geschwungenen Deckenornamenten. Es gab nur einen kurzen Korridor. Man ging durch breite Türbögen von einem Raum zum anderen, so dass der Eindruck entstand, es handele sich um eine verzweigte alte Bibliothek.

»Lieber Himmel«, sagte ich. »Haben Sie das etwa alles gelesen?«

»Ich bin seit meiner Kindheit ein besessener Leser.«

»Diese alten Bücher sind sicher sehr wertvoll? Aber Sie arbeiten trotzdem im Museum?«

»Oh, ich bin nicht nur wegen des Verdienstes dort.«

»Finden Sie es nicht langweilig, auf dem Stuhl zu sitzen und darauf zu warten, dass die Zeit vergeht?«

»Nein«, sagte er lächelnd. »Es ist spannender als ein Film. Komm, lass uns einen Tee trinken, Marc. Dann erzähle ich dir, auf welche unterhaltsame Art von Reise ich mich dabei begebe.«

»Sie gehen auf eine Reise?«

»Nach innen, ja. Aber wie bei jeder Reise kommt es auch hier darauf an, die richtigen Orte zu besuchen und schon vor der Fahrt genügend von dem Land zu wissen, das man besuchen wird. Als verfüge man über einen guten Reiseführer.«

»Sie meinen, Sie sitzen auf dem Stuhl und träumen?«

»Nein, es ist ein Zustand extremer Wachheit – größerer Wachheit als gewöhnlich. Obwohl es durchaus vorkommen kann, dass er traumartige Qualitäten annimmt. Das hängt vom Zustand des Bewusstseins und Nervensystems ab. Und von der Art, wie man gelebt hat«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Der Gedanke, er säße nicht einfach nur auf seinem Stuhl im Museum und blinzele den Glanz der Parkettfliesen an, machte mich neugierig.

»Steht das alles in Ihren Büchern?«

»Aus Büchern kann man nur wenig darüber lernen. Man braucht einen persönlichen Lehrer. Sicher verstehen wir die Bedeutung der Worte. Doch das ist nicht dasselbe, wie etwas tatsächlich zu verstehen. Verstehen, heißt, was gesagt worden ist, in einer lebendigen Weise nachzuvollziehen. So, als schaue man bei dem Satz, ‘Es regnet draußen’ aus dem Fenster, um nachzusehen, ob es tatsächlich regnet.«

Er goss mir aus einer Porzellankanne Apfeltee ein.

»Und was sehen Sie auf Ihrer sogenannten Reise nach innen?«

»Die Wahrheit über mich und andere.«

Ich trank skeptisch einen Schluck Apfeltee. Er schmeckte leicht säuerlich, als sei ihm noch eine weitere Frucht beigefügt. Aber seine Wirkung war erfrischend und belebend.

»Behauptet denn nicht jeder, zu wissen, wo es langgeht?«

»Mag sein.«

»Und wodurch unterscheidet sich Ihre Auffassung von den Meinungen der anderen?«

»Durch ihren Erfolg. Durch die Erfolglosigkeit dessen, was die anderen über das Leben sagen. Gewöhnliche Menschen stecken voller Illusionen und Vorurteile. Sie haben keinerlei Wissen von den Hauptprinzipien des Lebens. Das führt zu unnötigem Leiden. Sie sind sich selbst entfremdet, weil ihnen niemand gesagt hat, was in ihnen vorgeht. Sie schwimmen gefangen wie Fische in einem Aquarium, bunte, exotische Fische, ohne etwas vom Medium des Wassers zu wissen, das sie umgibt.«

»Im Ernst?«, fragte ich skeptisch.

»Interessiert dich, was ich darüber denke?«

»Hm, ich weiß nicht … eigentlich bin ich Naturwissenschaftler. Ich vertraue lieber auf die rationale Wissenschaft. Geht’s dabei etwa um diesen esoterische Blödsinn, bei dem man sich selbst das Blaue vom Himmel zusammenlügt? Yogis, die durch die Lüfte fliegen, die Gegenstände aus dem Nichts materialisieren und behaupten unsterblich zu sein?«

»Eine gute Frage«, erwiderte er ungerührt. »Nein, was ich dir zeigen will, hat nichts mit alledem zu schaffen. Urteilsvermögen ist sogar die wichtigste Fähigkeit im Leben.

Ich sehe, dass dein Verstand kritisch und wach ist und durchaus geeignet sein könnte, eine so schwierige Reise wie die nach innen anzutreten. Urteilsvermögen versetzt dich in die Lage, zu entscheiden, was wichtig ist. Mit dieser Fähigkeit lernst du, die Wahrheit des Lebens zu begreifen.«

»Und wie geht man auf diese Reise?«, fragte ich.

»Komm morgen Nachmittag ins Museum. Dann werde ich prüfen, ob du dafür geeignet bist.«

Den Rest des Abends verbrachte ich damit, mir seine Sammlung alter Gemälde anzusehen. Montag besaß ein paar Blätter Dürers und viele Bilder alter Maler, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Er wusste erstaunlich viel über ihre Maltechnik und ihre Lebensanschauungen. Wie sie die Farben angerührt hatten, welche Pigmente sie dafür benutzten. Was sie über die Wirkung ihrer Farben und über ihren Stil dachten.

Vieles davon stammte aus ihren alten Briefen und Tagebüchern, die er ebenfalls sammelte. Während ich in diese fremde Welt eintauchte, spürte ich, dass ich meine Sorgen und Probleme mit Piper und Anne-Marie vergaß.

Sie rückten so weit weg, dass sie mir, als ich kurz vor Mitternacht auf die Toilette ging und durchs offene Fenster den Streit einer Familie über uns hörte, fast befremdlich vorkamen.

»Dann friss doch deine eigene Spucke, wenn’s dir bei mir nicht schmeckt«, sagte eine Männerstimme.

»Weil du nicht mal für eine Familie mit zwei Kindern sorgen kannst«, antwortete seine Frau.

»Frigide Hure.«

»Impotenter Bock.«

»So? Wer hat dir denn unsere Kinder gemacht?«

»Du warst es jedenfalls nicht, wenn du’s genau wissen willst.«

So ging es noch eine Zeit lang weiter, und ich erkannte, dass diese Stimmen dort oben in dem blassen gelben Fensterviereck über mir auch meine eigenen hätten sein können, wäre ich in ihrer Lage gewesen.

War tatsächlich ich es, der in dieser seltsamen menschlichen Hülle steckte, die so überaus empfindlich reagierte auf Abweisung und Spott, auf die Blamage, den rohen Affen in der Schule meine innersten Gedanken und Gefühle offenbart zu haben? Worte sind wie Gewehrkugeln. Meine Hände wurden feucht, wenn ich daran dachte. Außerdem hatte ich völlig die Zeit vergessen. Oberhäuptling würde mich kreuzigen und vierteilen, wenn ich nach Hause kam.

Aber Karola, meine treusorgende Komplizin, hatte ihnen einfach mit gesundem weiblichem Instinkt ein Lügenmärchen von einem »Treffen besonders begabter Physikschüler« bei ihrem Professor aufgetischt, das bis nach Mitternacht dauerte. Mit ihrer Fähigkeit, immer die passende Lüge zu erfinden, hätte sie leicht Politikerin werden können.

Die Auszeichnung, die in der Einladung ihres karriereunwilligen Sohnes lag, schmeichelte meinem von Gedanken an Ruin geplagten Oberhaupt derart, dass er für ein paar Augenblicke Dornenvogels Spekulationsgeschäfte vergaß und seufzend auf der Toilette verschwand, um sich zu erleichtern.

Während die Toilettenspülung rauschte, kam meine Mutter im Bademantel an die Schlafzimmertür, das Bild des blonden Bodybuilders wie eine verräterische Aura um den Kopf und erkundigte sich, ob unsere Treffen fortgesetzt würden.

»Fortgesetzt?«, fragte ich ein wenig begriffsstutzig. Ich war in Gedanken schon wieder bei Montags Worten.

»Möglicherweise, oder?« sagte Karola rasch und warf mir einen strafenden Blick zu.

Ich zuckte die Achseln und nickte.

»Hat sich dieser Professor vielleicht auch über deine ganz speziellen Fähigkeiten geäußert, Marc?«

»Er glaubt, ich sei als Maler genauso begabt wie als Physiker«, sagte ich und biss mir im nächsten Moment wegen meiner Voreiligkeit auf die Lippen.

»Als Maler? Was weiß er denn von deinen Fähigkeiten als Maler?«

Auch nicht mehr, als von meiner Begabung als Physiker, dachte ich. Was für eine Pantomime.

Da stand sie nun in ihren Hauspantoffeln und unrasierten nackten Beinen, ihr Haar, das langsam ausdünnte, von einem weißen Kunststoffnetz zusammengehalten – diese Frau in den besten Jahren, die vergeblich nach Liebe verlangte wie wir alle. Nach Bestätigung und Statussymbolen. Nach einer angesehenen Karriere.

Denn Liebe, das was man gewöhnlich darunter versteht, ist nur eine romantisch-schwärmerische Vorstellung, wie ich heute weiß. Jeder liebt – durch das Bild des anderen – immer nur sich selbst, weil immer nur man selbst das Subjekt seiner Emotionen sein kann und die Liebe ganz und gar ein Kind der Gefühle ist. Jene andere Form der Liebe, die darüber hinausgeht, bleibt den meisten Menschen verschlossen.

»Willst du mir darauf keine Antwort geben, Marc?«

Doch, hätte ich ihr entgegenschleudern können. Aber meine Antwort ist von demselben Wert wie der ganze Lügenkatalog, der dein Leben ausmacht.

»Ich habe ihm von seiner erstaunlichen Belesenheit in Kunstgeschichte berichtet«, sprang Karola ein. »Professor Balt ist ein großer Liebhaber der Malerei. Er sammelt Kunst. Viele bedeutende Physiker haben ein starkes Empfinden für Malerei.«

Diese Auskunft verwandelte das Gesicht meiner Mutter augenblicklich in eine verständnisvolle Grimasse. Obwohl farbbeschmierte Leinwände für sie eigentlich eher in die Kategorie Umweltverschmutzung gehörten. Na ja, wenn es der Karriere ihres Sprösslings nutzte?

Die Toilettentür flog auf, und Oberindianer Herzbaum stand erleichtert in der Öffnung. Zum erstenmal seit Wochen, so schien es mir, war der schwache grüngraue Glanz, den sein widerspenstiger Stuhlgang verursachte, von seinem Gesicht gewichen.

»Nun aber ab ins Bett«, sagte er ungewohnt heiter. »Es ist schon weit nach Mitternacht.«

Montag oder Die Reise nach innen

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