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Für Anfang Februar war das Wetter erstaunlich sonnig. Der Schnee auf den Eisflächen schmolz. Die Bäume reckten ihre schwarzen Äste in den blauen Himmel. Das Haus in der Stadt erschien mir nicht mehr so schrecklich wie am Anfang, ich hatte die Idylle des alten Felssteinbaus auf dem Lande schon vergessen.

Ich fuhr mit Anne-Marie Schlitten in den Hügeln südlich der Stadt, wo wir hofften, nicht von Piper überrascht zu werden. Das Verhältnis zu ihrem Bruder war ein kleines Mysterium für mich. Einerseits schien sie ihn zu bewundern, andererseits war manchmal so etwas wie Verachtung in ihrer Stimme zu spüren, wenn sie über ihn sprach.

Nach den Schlittentouren tranken wir oft einen heißen Grog im Café der Behindertenschule oberhalb der Bushaltestelle. Das Café war ein Unikum, weil man dort allen Ernstes versuchte, die geistig Zurückgebliebenen in die Gesellschaft einzugliedern. Da saßen nun all die sabbernden, zitternden, blödelnden Jugendlichen und starrten ihre wohlmeinenden Gleichaltrigen an wie Tiere im Zoo. Keine der beiden Parteien wagte sich jemals zur anderen hinüber. Es war, als befinde sich eine Glasscheibe zwischen ihnen.

Aber die Getränke kosteten nur die Hälfte, und am Kiosk gab es günstige Schallplatten, das machte das Café auch für die Schüler der Umgebung interessant. Wir saßen eng umschlungen auf der geheizten Veranda, weil Piper hier niemals aufkreuzen würde.

Er hasste – wie Anne-Marie sich ausdrückte – jede Art von »geistigem Gebrechen«, das verursachte ihm Übelkeit. Es war, als müsse die Natur auf diese Weise ihre Niederlage eingestehen.

Ich erfuhr, dass Piper nicht nur der leibhaftige Teufel war, für den ich ihn immer noch hielt, sondern auch der ehrgeizigste Mensch, den man sich denken konnte.

»Er betrachtet dich als Konkurrenten«, sagte sie. »Das ist der Grund dafür, dass er dich hasst. Er kann niemanden neben sich ertragen, der mehr auf dem Kasten hat als er.«

Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ihr Onkel mich kennenlernen sollte. Er sei ein völlig anderer Mensch als Piper und ihr Vater – tolerant, weltgewandt, offen. Er protze nicht mit seinem Geld, aber er könne es sich leisten, den Kindern seines Bruders jeden Wunsch zu erfüllen.

»Onkel Martin wird dich mögen«, sagte sie und legte ihren Kopf an meine Schulter.

Aber ich verspürte wenig Lust, ihren Onkel kennenzulernen. Ich stellte mir vor, dass Piper ins Wohnzimmer platzte, wenn wir gerade Kuchen aßen, und das reichte völlig, um mir jeden Spaß daran zu nehmen.

Außerdem war Rolo seit drei Tagen spurlos verschwunden. Er hatte einen Brief hinterlassen, in dem er sich bitter über Anjas Gemeinheiten beschwerte. Als die Polizei ihn aufgriff, sah er so zerknittert und schwarz aus wie jemand, der seine Nächte im Kohlenkeller verbracht hatte, und hustete, was das Zeug hielt.

Oberhirte hielt mir eine Standpauke, weil ich mich angeblich zu wenig um meinen Bruder gekümmert hatte.

»Ich werde an Darmkrebs sterben«, prophezeite er. »Das ist meine Bestimmung. Aber ich werde alles tun, um euch gut versorgt zu wissen, wenn ich abtrete. Dann bis du das männliche Oberhaupt der Familie, Marc. Du musst für Rolo sorgen, versprichst du mir das? Deine Mutter wird sich mit diesem Bodybuilder davonmachen, weil sie nicht in Würde alt werden kann, und Anja landet wahrscheinlich in irgendeinem Bordell, bei ihrem lockeren Lebenswandel.«

Dass er vom Liebhaber seiner Frau wusste, überraschte mich.

»Steht es denn so schlimm um deine Verdauung? Ist das ein ärztlicher Befund?«

»Ich rede nicht von den Ärzten. Die können mir nicht helfen. Mein Darm hat jede Lebenskraft verloren, er bewegt sich nicht mehr«, sagte er und legte sich mit trostloser Gebärde die Hand auf den Unterleib.

»Aber warum gleich an Krebs denken, Paps?«

»Weil ich ihn spüre, ich spüre den Krebs in mir …«

Eigentlich hatte ich nie genügend Gelegenheit gehabt, seinen Charakter zu studieren. Aber jetzt erkannte ich schlagartig, dass sein Kern aus unendlicher Weinerlichkeit bestand, aus tiefreichenden Wellen der Negativität, aus einer Empfindlichkeit, die noch die Sorge in hundert Lichtjahren Entfernung als düstere schwarze Wolke wahrnahm. Herzbaum senior litt am Leben, das war seine Bestimmung und Passion. Anstatt sich mit ihm zu arrangieren, war er – vielleicht, ohne selbst davon zu wissen – fest entschlossen, seine Reste in Form von versteinernden Exkrementen bei sich zu behalten.

»Dass viele Gefühle nicht bewusst, sondern unterbewusst sind, also am Rande des Bewusstseins liegen und uns auf unkontrollierte Weise steuern, kann man sich leicht an einem Vergleich klar machen«, fuhr Alexander Montag fort.

Wir hatten uns in die oberen Räume der Galerie zurückgezogen, weil wir den Busladungen von Besuchern entgehen wollten, die sich am vorletzten Wochenende zur Wanderausstellung Hieronymus Boschs eingefunden hatten.

»Stell dir vor, du liegst wach im Bett, Marc. Nach einer gewissen Zeit wirst du dich bewegen und deine Haltung verändern. Vielleicht drehst du dich vom Rücken auf die Seite, oder umgekehrt? Was ist der Grund dafür?«

»Schwer zu sagen. Eine Art Reflex?«

»Es ist oft ein feines Unbehagen, das sich eingestellt hat. Meist denken wir nicht bewusst: Jetzt fühle ich mich schlecht, ich sollte mich bewegen, sondern reagieren auf eine unterschwellige Erfahrung. Genau besehen sind wir in diesem Zustand Marionetten: negatives Gefühl – bewegen! Positives Gefühl – liegen bleiben! Auf ähnliche Weise verbindet sich das Gefühl mit den übrigen Wahrnehmungen.«

»Ist das denn ein Problem?«, fragte ich.

»Nicht unbedingt. Zur Gewohnheit gewordene Reaktionen nehmen uns viel Arbeit ab. Aber was, wenn dabei Verhaltensweisen erlernt werden, die uns schaden?

Dann sind wir ein Leben lang in diesem Reaktionsmuster gefangen. Es kann weder verändert noch beseitigt werden. Das ist ein Zustand von Unfreiheit, und Unfreiheit heißt immer Leiden.« Montag machte eine Pause und sah mich erwartungsvoll an. »Was bedeuten alle diese Einsichten für dich, Marc?«

»Sie meinen, ob ich verstehe, worum es geht?«

»Nein, was ist es in deinen Augen? Nur ein intellektuelles Spiel? Ein Zeitvertreib? Die Welt ist voller Geschwätz, nicht wahr? Wir füllen riesige Bibliotheken damit.«

»Es ist kein Spiel, nein …«

»Hast du begriffen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, diesem allgegenwärtigen Geschwätz zu entgehen? Es kommt nicht auf das an, was wir denken oder glauben, sondern auf die Erfahrung. Lügen, Illusionen, Spekulationen verschwenden nur Zeit und Energie. Dann hat man sein Leben auf Sand gebaut. Das ist eine sehr schmerzliche Erkenntnis.«

»Aber glaubt denn nicht jeder zu wissen, wo es langgeht?«

»Deshalb rede ich von der authentischen Erfahrung. Unser Erziehungssystem lehrt uns viele Dinge, doch dabei übersieht man leicht das Wesentliche. Morgen Abend werde ich dir ein Werkzeug, ein Fahrzeug geben, mit dem du dich dieser inneren Wahrheit annähern wirst.«

»Und warum tun Sie das alles für mich?«, fragte ich.

»Weil ich dir helfen will, jene Holzwege zu vermeiden, die Menschen in deinem Alter in die Irre führen. Niemand auf der Welt kann voraussagen, was du aus dieser Erfahrung machst. Nutze ihre Möglichkeiten, nutze deine Freiheit! Ich werde zur Stelle sein, um dich auf deinem Weg zu begleiten, falls du das wünschst. Morgen Abend um acht Uhr in meiner Wohnung …«

Montag oder Die Reise nach innen

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