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Zu den Merkwürdigkeiten meiner Begegnung mit Alexander Montag gehört eine kleine Anekdote, die sich etwa einer Woche nach meinem ersten Besuch in seiner Wohnung zutrug. Harald Piper Müller sah uns beide in einer Gemäldehandlung, als wir gerade den Rahmen für ein Blatt von Dürer aussuchten, das Montag mir geschenkt hatte.

Er stürzte sofort mit jenem hämischen Grinsen auf mich zu, das wieder eines seiner teuflischen Spielchen verhieß, und hob eben zu einem beleidigenden Kommentar an – wahrscheinlich einem neuen Zitat aus meinem Tagebuch, das er noch nicht erprobt hatte –, als sich Montag langsam nach ihm umwandte.

Und wie der Bullterrier, der auf Montag zugelaufen und zwei Meter vor ihm mit gesenktem Kopf und eingezogenem Stummelschwanz abgedreht war, schluckte Piper seine abfällige Bemerkung hinunter, als er Montags Blick sah. Er spuckte nur vor mir aus und sagte:

»Wir sprechen uns noch, Herzbaum. Deine schweinischen Bemerkungen über meine Schwester werden nicht ohne Nachspiel bleiben …«

Ich wollte Montag erklären, wer der Bursche sei. Doch er wehrte nur mit einer Handbewegung ab, die jeden Kommentar überflüssig machte. »Es ist einer von den Kranken«, sagte er. »Das erkennt man an seinem Blick.«

»Sie glauben, Piper sei krank?«

»Die gefährlichsten Geisteskranken werden nicht in den Anstalten festgehalten, sondern befinden sich in Freiheit. Wir haben uns nur so an ihre Geistesstörungen gewöhnt, dass wir ihr Verhalten für normal halten.«

»Aber wie haben Sie Piper in die Flucht geschlagen? Das hat noch keiner geschafft. Er terrorisiert mich, er versucht mich fertigzumachen …«

»Begegne ihm einfach mit Mitleid und Freundlichkeit wie einem ernstlich Kranken. Er ist zu bedauern, denn er hat noch ein schweres Leben vor sich, eine Bürde aus Angst und Aggressivität und vielen Fehlschlägen. Er ist nicht zu beneiden um sein bisschen Wut und Spott.«

»Aber wie haben Sie das bloß gemacht, Montag?«

»Er hat für einen Moment sein eigenes Gegenteil gesehen, sein mentales Spiegelbild.«

Er hatte es in Montags Augen gesehen. Es ist diese erstaunliche Ausstrahlung und Kraft mancher Menschen, die mich auch heute noch – nachdem ich so viele klinische Untersuchungen über höhere Bewusstseinszustände durchgeführt habe – voller Demut eingestehen lässt, dass die Natur ein paar schwer durchschaubare Überraschungen für uns bereithält.

Aber ich greife vor, und das sollte bei jemandem, der sich daran macht, einige für das Überleben der Menschheit bemerkenswerte Dinge mitzuteilen, durchaus mehr als nur ein rhetorischer Fehler sein.

Am Tag nach meinem Besuch saß Montag wieder mit geschlossenen Augen auf seinem Platz an der Wand, dem Narrenschiff von Hieronymus Bosch gegenüber. Diesmal nahm ich einfach einen Stuhl und setzte mich neben ihn. Durch den Eingang zum nächsten Saal konnte ich einen der anderen vier Museumswächter sehen. Er war etwas kleiner als Montag und trug ein schmales Menjoubärtchen über der Oberlippe. Seine großen Ohren standen soweit ab, dass er einem dieser kleinen, aufmerksamen Coyotenjunde ähnelte, die ich im Zoo gesehen hatte.

Immer wenn ich das Museum betrat, verfolgte er mich wie einen potentiellen Dieb. Er konnte sich wohl nur schwer vorstellen, dass jemand der Kunst soviel Interesse entgegenbrachte. Verließ ich das Gebäude, war er prompt zur Stelle, um mit argwöhnischen Blicken zu prüfen, ob ich nicht vielleicht einen aus dem Rahmen geschnittenen alten Meister unter meiner Jacke trug.

Ein müßiges Unterfangen: laut Beschreibung im Ausstellungskatalog war das Museum, was seine Sicherungsanlagen anbelangte, auf dem neuesten technischen Stand.

Die Oberfläche einer Leinwand auch nur mit den Fingerspitzen zu berühren, hätte augenblicklich einen schrillen Alarm im Gebäude und auf der zuständigen Polizeiwache ausgelöst. Dann schlossen sich die Gitter an den Fenstern und der Eingangspforte über ein Zeitschloss.

Es gab keine Möglichkeit, diesen Stromkreislauf abzuschalten. Er arbeitete mit Infrarotsensoren und war dreifach gesichert: über das öffentliche Stromnetz, den hauseigenen Generator und Akkumulatoren in Tresorraum des Kellers. Hätte irgendein Schlaumeier von Einbrecher die stromführenden Leitungen durchknipsen wollen, so wäre er augenblicklich durch denselben Mechanismus im Museum gefangen gewesen.

Der Bau sei besser gesichert als die amerikanischen Staatsgefängnisse für Todeskandidaten, pflegte Montag zu sagen. Eigentlich wären die fünf Wächter im Museum nur noch ein verschwenderisches Relikt aus alten Zeiten, eine Konzession an die Versicherungsgesellschaften.

»Und sind Sie schon zu einem Schluss gekommen?«, fragte ich, als er keine Anstalten machte, seine Augen zu öffnen.

»Zu welchem Schluss?«

»Sie wollten doch prüfen, ob ich für Ihre ‘Reise’ geeignet sei?«

»Anscheinend ist es dir wirklich ernst damit?«

»Was Sie sagen, macht mich wirklich neugierig.«

»Gut, gut … Neugier ist ein guter Anfang«, erklärte er lächelnd. »Aber erst ein Anfang. Die Reise, von der ich rede, wird nicht leicht sein. Sie ist über lange Strecken sogar recht beschwerlich. Oft gehen wir dabei drei Schritte vor und fünf zurück. Da die meisten Menschen mit vierzehn Jahren aufgehört haben zu denken, ist es manchmal schwierig, die richtigen Schlüsse aus dieser Erfahrung zu ziehen.«

»Und wie sieht Ihre Prüfung aus?«

»Es ist ein kleiner Test. Wir benutzen eines der Gemälde dafür, Boschs Garten der Lüste. An deiner Interpretation des Bildes kann ich erkennen, ob deine Fähigkeit zur Introspektion schon weit genug ausgebildet ist. Erinnerst du dich noch, was ich gestern über die Urteilsfähigkeit gesagt habe?«

»Der Garten der Lüste ist eines meiner Lieblingsbilder.«

»Um so aussagekräftiger wird deine Interpretation sein.«

Wir gingen in die benachbarte Halle, wo Boschs Triptychon hing. Schreiber, der Bursche mit dem Menjoubärtchen, erhob sich überrascht von seinem Stuhl, als er uns kommen sah. Ich hatte Alexander Montag noch nie mit einem seiner Kollegen reden sehen. Jetzt, als er ihm zunickte, glaubte ich fast so etwas wie Unterwürfigkeit im Blick des anderen zu erkennen. Er verdrückte sich sofort in den hinteren Teil der Halle wie jemand, der nicht mehr gebraucht wurde.

»Was siehst du?«, fragte Montag. »Beschreibe mir einfach deinen Eindruck.«

»Ein breites Spektrum von Ausschweifungen«, sagte ich. »Den Hexenkessel der Gefühle und Begierden. Das Jüngste Gericht, die Höllenstrafen, die Todsünden, die Versuchungen. Personifikationen von Lastern. Teufel in Tiergestalt, Bestien, fratzenhafte Gnome.

Dann das irdische Paradies, die Erschaffung Evas aus der Rippe Adams. Im Mittelteil das Labyrinth der Lüste. Liebende und sich vereinigende Menschen, die in Muscheln schwimmen, Früchte gläserne Käfige. Wuchernde Pflanzen. Erdbeeren, die vielleicht die jungfräuliche Vulva symbolisieren, Fruchtblasen, überproportional abgebildete Tiere für die verschiedenen Sünden und Vergehen. Der Rabe steht für Unglauben. Der Pfau für Eitelkeit. Der Ibis für vergangene Vergnügen.«

»Gut, sehr gut … das ist die inhaltliche, die gedankliche Seite. Wir könnten auch sagen, so beschreiben wir die Bedeutungen der abgebildeten Gegenstände, hm …?«

»Ich würde sagen, man kann diese Bedeutungen in die gegenständlichen auf dem Bild selbst und in ihre gedanklichen Interpretationen einteilen.«

»Völlig richtig. Ein wichtiger Unterschied, nicht nur in der Interpretation der Kunst, sondern auch bei der Entwicklung des eigenen Bewusstseins. Was siehst du noch?«

»Was ich sonst noch sehe?« Ich betrachtete unschlüssig das Bild. »Sie meinen so etwas wie ein abschließende Deutung, das Thema des Ganzen über die Einzelinterpretationen hinaus?«

»Nein, keine Interpretation. Wir sind nicht in der Schule. Im Kunstunterricht mag das eine interessante Frage sein. An dieser Stelle ist dein Scharfblick gefragt.«

»Sonst sehe ich nichts.«

Alexander Montag nickte. »Das ist der springende Punkt. Du hast das Wichtigste übersehen. Wir übersehen es ständig, wenn wir nicht darauf eingestellt sind. In der natürlichen Einstellung erleben wir das, worum es geht zwar, blicken aber auf eigentümliche Weise daran vorbei. Die Natur verfolgt mit dieser kleinen Täuschung einen ganz bestimmen Zweck.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.

»Soll das heißen, ich habe den Test nicht bestanden?«

»Es bedeutet, dass du noch nicht sehr weit bist in der Entwicklung deines Bewusstseins, Marc. Dass dir eine wichtige Einsicht fehlt. Viele Menschen gelangen bis an ihr Lebensende nie darüber hinaus.«

»Und Sie wollen mir nicht verraten, was es ist?«

»Doch, natürlich, es ist keine Geheimwissenschaft. Wenn du dich bei der Betrachtung des Bildes beobachtest, wenn du auf deine innersten Regungen achtest, wirst du bald entdecken, dass jede Wahrnehmung von einem manchmal sehr feinen Gefühl begleitet ist.

Die Gegenstände erscheinen im Licht solcher Gefühle – als würdest du die Welt durch eine subtile Gefühlsbrille betrachten! Um dich dieser für dein Leben äußerst wichtigen Tatsache zu vergewissern, musst du vielleicht eine Reihe von Beobachtungen anstellen. Setz dich dort auf den Stuhl und vergleiche deine feinsten Gefühlseindrücke mit den inhaltlichen Wahrnehmungen des Bildes. Sieh dabei vom Bild zur leeren Wand und wieder zum Bild – so oft, bis du den Unterschied entdeckst.«

Er zog zwei Stühle heran.

»Verwechsle diesen feinen Gefühlsfilm nicht mit den starken Emotionen, die jedem bekannt sind«, fuhr er fort. »Ich rede nicht von Langeweile, nicht von Zorn, Angst oder Lust. Auch nicht von deinen Stimmungen.

Manchen Menschen fällt es schwer, diese feinere Dimension ihrer Gefühlswahrnehmungen von den gegenständlichen Wahrnehmungen wie Farben, Formen und Bedeutungen zu unterscheiden.

Andere sind damit völlig überfordert. Um herauszufinden, ob du zu ihnen gehörst, habe ich dich ins Museum gebeten.

Man wird auf der Reise nach innen nicht weit gelangen, wenn einem diese Dimension verschlossen bleibt …

Vielleicht musst du erst ein paar Hundert vergleichende Betrachtungen anstellen, um den Inhalt der Wahrnehmung von der Form des Gefühls zu trennen …?«

»Ich glaube, ich verstehe jetzt, was Sie meinen. Wenn ich vom Garten der Lüste auf die leere Wand blicke, verändert sich irgend etwas in mir.«

»Ausgezeichnet.«

»Ich kann noch nicht genau erklären, was es ist …«

»Ich will dir verraten, in welcher Weise ein entwickeltes Bewusstsein solche Phänomene wahrnimmt. Damit meine ich nicht die Gefühle selbst, sondern das Wissen um sie. Es ist ständig im Sehen gegenwärtig, gleichzeitig mit den Dingen – oder könnte doch jeden Moment gegenwärtig werden.«

»Und wozu das alles?«, erkundigte ich mich.

»Das ist die entscheidende Frage, zugegeben. Warum den Blick auf Gefühle ausweiten, die wir ohnehin erleben, wenn auch weniger bewusst, nicht wahr? Und manche sind sogar sehr unangenehm. Ist das Leben nicht schon kompliziert genug? Frage dich, welche Funktion solche Gefühle haben! Was bedeuten sie? Was sind ihre beiden Hauptkategorien und welche Rolle spielen sie in unserem Leben? Sobald du dir darüber klar geworden bist, kann die Reise beginnen. Dann werde ich dir ein Fahrzeug geben, mit dem du dich in jene unermesslichen Gefilde des Innern begeben kannst, die deine Welt verändern.«

»Ein Fahrzeug?«, fragte ich.

»Im übertragenen Sinne ist es so etwas wie ein Fahrzeug, ja. Erinnerst du dich noch daran, was ich über den Glanz der Parkettfliesen gesagt habe? Jedes Objekt kann zu einem Katalysator werden. Und dieser Katalysator ist wie ein Fahrzeug. Ich werde dir ein besonders mächtiges Fahrzeug geben, sobald du dafür bereit bist.«

Montag oder Die Reise nach innen

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