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Die heutige Epoche der sogenannten „Globalisierung“

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Wenden wir uns zunächst dem Phänomen der sogenannten „Globalisierung“ zu. Die historischen Wurzeln der Globalisierung reichen zurück bis in die Zeit der Kolonialisierung im 19. Jh. In gewissem Sinne ist das, was wir heute Globalisierung nennen, lediglich eine Weiterentwicklung der Kolonialisierung: Denn selbst wenn die Entwicklungsländer inzwischen politische Unabhängigkeit erreicht haben, so werden sie durch die großen Industrienationen und die Mechanismen des Welthandels doch immer noch ausgebeutet und in ihrer eigenen wirtschaftlichen Selbständigkeit behindert. Gleichzeitig wächst aber auch in den Industrienationen die soziale Not durch eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft zwischen arm und reich.

Die rasante wirtschaftliche Expansion hat seit dem zweiten Weltkrieg dazu geführt, daß die großen Industrienationen ihre Märkte über den ganzen Globus ausgeweitet haben. Immer mehr Firmen gehen dazu über, Teile ihrer Produktion in sogenannte Billiglohnländer zu verlegen, was einen wachsenden Druck auf das Lohnniveau im Mutterland zur Folge hat. Dadurch wird der internationale Wettbewerb gewaltig angeheizt. Dieser verschärfte Wettbewerb hat wiederum zur Folge, daß Unternehmen zunehmend große Zusammenschlüsse bilden, um auf dem Weltmarkt besser bestehen zu können.

Dadurch erhalten derartige Zusammenschlüsse eine enorme Wirtschaftsmacht, die nicht nur den Markt beherrscht, sondern auch zunehmend die Politik und die sozialen Verhältnisse. Verstärkte Rationalisierung und Automatisierung erlauben es, Arbeitsplätze zu streichen, um billiger produzieren zu können. Einen entscheidenden Schub erhielt diese Entwicklung durch die stürmischen Innovationen auf dem Gebiet der Informationstechnologie.

Mit ihrer Hilfe ist es nun möglich geworden, ein internationales Netz von assoziierten Firmen von einem Zentrum aus spielend leicht zu dirigieren. Die großen Firmenzusammenschlüsse wurden schließlich mit ihren Riesengewinnen zu Wertmaßstäben an den Börsen. Der Einzug der Informationstechnologie an den internationalen Börsen und Finanzmärkten hat es ermöglicht, daß nun ein global vernetztes ökonomisches Machtimperium entstanden ist, das in der Lage ist, die ganze Welt zu regieren und in ein einziges globales Dorf zu verwandeln.

Damit einher geht nun auch der Anspruch der Wirtschaft, alle Lebensbereiche dem ökonomischen Prinzip zu unterwerfen und damit das traditionelle Verständnis von Demokratie zu untergraben. In seinem Buch Die Machtwirtschaft schreibt Christian Nürnberger: „Den Sinn allen Wirtschaftens in höheren Dividenden und Aktienkursen aufgehen zu lassen, schon das allein ist inakzeptabel für eine Gesellschaft, die sich laut Verfassung als soziale Demokratie versteht. Vollends unzumutbar für demokratische Gesellschaften ist das Bestreben der Shareholder-value-Verfechter, ihre ökonomische Sichtweise auf andere gesellschaftliche Bereiche auszuweiten und zu verlangen, die Politik, das Bildungswesen, die Wissenschaft, der Sport, die Medien und sogar die Kultur hätten sich um der internationalen Wettbewerbsfähigkeit willen ökonomischen Prinzipien zu unterwerfen. Das wird zwar so von niemandem explizit gesagt, aber die Summe aller vorgetragenen öffentlichen Forderungen aus der Wirtschaft läuft genau auf diesen Ökonomismus hinaus.“

Das bedeutet nun auch, daß gleichzeitig die Menschen als Arbeitende, als Kunden und Konsumenten in eine völlige Abhängigkeit von der Ökonomie geraten und ihre Selbständigkeit und Freiheit verlieren. Denn der Herrschaft des modernen techno-ökonomischen Imperiums kann sich heute niemand mehr entziehen. So hat sich z.B. die Technologie der elektronischen Datenverarbeitung bereits über den ganzen Globus verbreitet. Prompt haben auch die europäischen Regierungschefs auf ihrer Gipfelkonferenz in Lissabon im Jahre 2000 vereinbart, in ihren Nationen die perfekt vernetzte „Informationsgesellschaft“ einzuführen: Jeder Bürger solle künftig durch eine entsprechende Ausbildung Anschluß ans Netz bekommen, und bereits die Kinder sollen in den Schulen mit der neuen Technologie vertraut gemacht werden. Inzwischen muß jeder Bürger um die Sicherheit seiner persönlichen Daten bangen, die in den Institutionen von Ökonomie und Bürokratie gespeichert werden. Gleichzeitig drängt auch die Gen-Technik überall unaufhaltsam auf den Markt. Ethische Bedenken vermögen den Vormarsch dieser Technologie nicht aufzuhalten. Das nüchterne Prinzip der neoliberalen Ökonomie und Technologie heißt: Zuwachs an Gewinn und Macht – um etwas anderes geht es schon längst nicht mehr!

Noch vor etwa vierzig Jahren wurde die zunehmende Automation gepriesen als ein Mittel zur Humanisierung der Arbeit: Eintönige Arbeit werde künftig von elektronischer Technologie übernommen, so hieß es, und die Menschheit gehe einem goldenen Zeitalter, der sogenannten Freizeitgesellschaft, entgegen. Heute ist davon nichts mehr übriggeblieben: Im Jahr 2001 gibt es 34 Millionen Arbeitslose allein in den reichen Nationen und weltweit zwei Milliarden Menschen, deren Einkommen unter zwei Dollar am Tag liegt. Wir haben uns bereits daran gewöhnt, dass unsere ständig wachsende „Volkswirtschaft“ jedes Jahr einige Millionen Menschen in die „Arbeitslosigkeit“ entlässt. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes als Reaktion auf die neue Computertechnologie war bereits seit Jahrzehnten vorauszusehen, aber es wurde nichts unternommen, um diesem sozialen Problem rechtzeitig gegenzusteuern. Bereits 1978 prognostizierte Dieter Balkhausen in seinem Buch Die dritte industrielle Revolution folgende Trends: „Weniger Arbeitsplätze, wo die Mechanik durch Elektronik ersetzt wird. Freisetzungen, wo die Automaten kontrollieren, messen, steuern und Arbeitsvorgänge einsparen. – Die Gesamtzahl der Arbeitsplätze nimmt ab. – Die Zahl der weniger Qualifikationen erforderlichen Jobs nimmt besonders stark ab. – Traditionelle Facharbeiter- und Sachbearbeiterstellen werden ebenfalls weniger. – Vergleichbare Qualifikationen wachsen nur langsam nach. – Die Zahl der Hochqualifizierten steigt; die Anforderungen an die Höchstqualifizierten steigen ständig.“

Führende Wirtschaftskreise gehen bereits heute davon aus, daß noch in diesem Jahrhundert nur noch zwanzig Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung gebraucht werden, um die Wirtschaft in Gang zu halten. Auf einer internationalen Konferenz von Wirtschaftsführern, die im Jahre 1995 in den USA stattfand, antwortete ein Manager auf die Frage, was aus den übrigen achtzig Prozent werden soll, die keinen Job haben, es sei eben künftig die Frage, „to have lunch or be lunch“ – zu essen zu haben oder gefressen zu werden.

Ganz unabhängig davon, ob diese Perspektive realistisch ist oder nicht, mag diese beiläufige Bemerkung aus dem Munde eines Wirtschaftsstrategen illustrieren, zu welcher zynischen Menschenverachtung die künftige Zivilisation eines global vernetzten Planeten fähig sein wird, die eine einzige Dynamik antreibt: Tote Gewinne an Geld und Macht mit einer toten Technologie zu erzielen. Diese „Nekrophilie“, die „Liebe zum Toten“ im Unterschied zur „Biophilie“, der „Liebe zum Leben“, hat Erich Fromm als das charakteristische Merkmal unserer industriellen Zivilisation bezeichnet.

Gleichzeitig nimmt die Spaltung zwischen Reich und Arm in unserer Gesellschaft immer mehr zu. Die Informationstechnologie spielt bei dieser Entwicklung eine wichtige Rolle. Der amerikanische Soziologe Manuel Castells spricht von einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft: „Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. ... An die Stelle der Ausbeutung der Schwächeren, wie wir sie aus der industriellen Ära kennen, tritt heute eine viel schrecklichere Form der Ausschließung: Menschen, die nicht über die nötige Bildung und Technologie verfügen, werden ignoriert, weil sie weder als Produzenten noch als Konsumenten gebraucht werden, wenn sie nicht mit dem Netz verbunden werden können. Sie fallen in ein schwarzes Loch. ... Wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der die Chance, ohne hochgradige Ausbildung ein gutes Leben zu führen, sehr, sehr gering ist.“ In Deutschland ist diese Polarisierung der Gesellschaft bereits in der Form im Gange, daß sich eine Zwei-Drittel-Gesellschaft herausbildet: Ein Drittel der Bevölkerung lebt ständig in der Gefahr, in die Armut abzurutschen, während zwei Drittel im Wohlstand leben, wobei das oberste Drittel ca. 75 Prozent des gesamten privaten Geldvermögens auf sich vereinigt. Im Jahr 2006 sind in Deutschland 10,6 Millionen, im Jahr 2015 12,5 Millionen Menschen, das sind 13, bzw. 15 Prozent der Bevölkerung, unmittelbar von Armut bedroht; d.h. sie müssen monatlich mit 856 Euro und weniger auskommen, was 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens entspricht. Im Jahr 2008 ist jeder vierte Bundesbürger von Armut betroffen oder muß durch staatliche Leistungen vor ihr bewahrt werden. In den USA lebten im Jahr 2000 elf Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Auch auf globaler Ebene klafft die Schere zwischen Reich und Arm immer mehr auseinander. So hat sich z.B. von 1965–1990 der Welthandel verdreifacht, und der Austausch der Dienstleistungen stieg um mehr als das Vierzehnfache, aber das ärmste Fünftel der Weltbevölkerung hat kaum davon profitiert: Sein Anteil am Welthandel beträgt lediglich ein Prozent.

Während im Jahr 1999 der Weltclub der Milliardäre noch 450 Mitglieder zählte, sind es im Jahr 2006 bereits 793. Sie repräsentieren ein Vermögen, das wesentlich größer ist als die Summe der Bruttosozialprodukte aller armen Länder, die 56 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.

Wenn Konzernmanager Millionen verdienen und gleichzeitig Tausende von Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen werden oder Löhne erhalten, von denen sie nicht leben können, dann ist das ein sozialer Skandal. Wir haben keinen Grund, auf unsere freiheitliche Demokratie stolz zu sein, solange die sozialen Verhältnisse sich zunehmend nach rückwärts entwickeln, etwa in die Zeit der ersten industriellen Revolution und des Proletariates oder des Mittelalters, als Könige und Fürsten ihre Untertanen nach Belieben ausgebeutet haben.

Dem Machtimperium der Wirtschaft ist die Entstehung sozialer Probleme völlig gleichgültig geworden, es fühlt sich nicht mehr eingebunden in eine soziale Solidarität. Gleichzeitig verliert die Politik ihre kontrollierende und regulierende Kraft, sie gerät immer mehr in die Abhängigkeit der Wirtschaft. Die Politiker werden zu Marionettenfiguren und Hausmeistern der Wirtschaft, sie fungieren nur noch als Feuerwehr, um die zahllosen Brände und Krisen in allen Lebensbereichen unserer Gesellschaft einigermaßen unter Kontrolle zu halten, was ihnen aber auf Dauer nicht mehr gelingen kann. Diese Ohnmacht der Politik kann schließlich in der Bevölkerung den Ruf nach dem „starken Mann“ auslösen und die Entstehung totalitärer Regime begünstigen.

Wirtschaftliches Wachstum, der entscheidende Eckpunkt des ganzen Systems neoliberaler Ökonomie, kann nur noch mit dem zunehmenden Risiko eines weltweiten sozialen und ökologischen Notstandes erkauft werden. Das bedeutet aber: Das erklärte Ziel endlosen Wirtschaftswachstums wird zum Feind des Lebens. Es ist mit einer positiven Weiterentwicklung des Lebens von Mensch und Schöpfung nicht mehr zu vereinbaren. Schon heute, nach zweihundert Jahren moderner technischer, industrieller und ökonomischer Entwicklung, kann man sagen, daß dieses System nicht in der Lage ist, auf Dauer zu existieren und die Menschheit in eine bessere Zukunft zu führen. Je offensichtlicher sich diese Perspektive abzeichnet, umso perfekter und gigantischer wird die Organisation und das globale Getriebe der „Megamaschine“, wie Lewis Mumford in seiner Studie über den Mythos der Maschine die moderne Zivilisation des globalen Computerzeitalters nennt. Er kommt zu dem Schluß: „Nur einer Sache können wir gewiß sein: Wenn der Mensch seiner programmierten Selbstvernichtung entkommen soll, dann wird der Gott, der uns schützt, kein ‚deus ex machina’ sein – er wird in der menschlichen Seele auferstehen.“

Bei der globalen Finanzkrise im Herbst 2008 wurden von den Staaten der Welt mehr als 3100 Milliarden Euro an Geldmitteln aus öffentlichen Steuergeldern zur Verfügung gestellt, um das internationale Bankensystem zu retten, das von geldgierigen, verantwortungslosen und kriminellen Managern an den Rand des Ruins gebracht wurde. Zusätzlich wurden weltweit mehr als 1300 Milliarden Euro für Konjunkturprogramme bereitgestellt, um die rückläufige Wirtschaftsentwicklung wieder in Gang zu bringen. Zur gleichen Zeit genehmigen sich Bankmanager millionenschwere Bonuszahlungen trotz der globalen Finanzkrise und wirtschaftlichen Rezession, die sie selbst verursacht haben. Diese Ereignisse dokumentieren den brutalen Egoismus unseres liberal-kapitalistischen Finanz- und Wirtschaftssystems, das aufgrund seines globalen Machtmonopols das Leben von Mensch und Schöpfung willkürlich beherrscht und bedrückt. Systeme lebensbedrohender Macht haben aber in der Evolutions- und Menschheitsgeschichte auf Dauer keine Überlebenschance: Entweder sie zerstören sich irgendwann gegenseitig oder sie brechen in sich selbst zusammen, weil sie dem Leben nicht zu dienen vermögen. Denn das Lebensprinzip der Evolution beruht nicht auf der Zuspitzung von Machtstrukturen wie etwa in der Monarchie, der Diktatur oder in der kapitalistischen Ökonomie: Es beruht im Gegenteil gerade auf der Verhinderung von Machtkonzentrationen einzelner Species durch eine zunehmende Vielfalt der Arten und Organismen und deren allseitiger und gegenseitiger Ergänzung. Wenn darum als Folge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise dringend notwendige Maßnahmen zur Lösung der sozialen Probleme in den einzelnen Ländern, zur Rettung des Weltklimas, für die Entwicklungshilfe und für die Hungersnot von nahezu einer Milliarde Menschen auf dieser Erde zurückgestellt werden, dann ist in diesen Mißständen das Menetekel, die tödliche Krankheit und der geistige und ethische Bankrott unserer so maßlosen und arroganten Zivilisation zu sehen: „ Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft und macht ihr ein Ende. Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden. Geteilt wird dein Reich und anderen gegeben“ (Daniel 5.25-27). Keine äußerlichen Reparaturen, gesetzlichen Reglementierungen und schärferen Kontrollen werden die tödliche Krankheit unserer von der Diktatur kapitalistischer Ökonomie beherrschten Zivilisation beheben und heilen können. Hier gilt dasselbe, was Albert Schweitzer als Bedingung für den Frieden geäußert hat: „Regeln über Friedensschlüsse ... vermögen nichts. Nur das Denken, das die Ehrfurcht vor dem Leben zur Macht bringt, ist fähig, den ewigen Frieden heraufzuführen.“

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