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Krise und Erneuerung

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Im vergangenen Jahrhundert ereigneten sich zwei epochale Entdeckungen, die in ihrer Gegensätzlichkeit sehr genau die geistige Krise unserer modernen Zivilisation kennzeichnen und zugleich ihre Lösung andeuten und einen Weg der Erneuerung eröffnen: Es ist einerseits die Entdeckung der Atomenergie und die Erfindung der Atombombe und andererseits die Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der Ökologie. Einerseits werden wir mit der Tatsache konfrontiert, daß die technische Autonomie des Menschen und seine Beherrschung der Natur imstande ist und darauf abzielt, alles Leben auf dieser Erde zu vernichten. Andererseits eröffnet die Einsicht in die ökologischen Gesetzmäßigkeiten, Beziehungen und Zusammenhänge in der Natur uns Menschen die reale Möglichkeit, diese Erde in ein Paradies zu verwandeln und eine globale Lebensordnung des Friedens und der Freundschaft zu verwirklichen mit allem, was lebt.

Im Jahr 1972 ist die denkwürdige Studie des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ der Weltöffentlichkeit vorgestellt worden. Das Erscheinen dieser Studie markiert ein entscheidendes Datum in der Geistesentwicklung der Moderne. Zum ersten Mal werden Grenzen des techno-ökonomischen Fortschrittes sichtbar, jenseits derer dieser bisher so stolze Fortschritt in eine Katastrophe globalen Ausmaßes umzukippen droht. Was die Thesen dieser Studie so provokant macht, ist nicht so sehr der Appell an die Betreiber des Fortschrittes, ihre ehrgeizigen Programme herunterzufahren oder gar zu stoppen. Die Provokation und das Ärgernis der Grenzen des Wachstums liegt vielmehr in der Tatsache, daß nun der materialistische Fortschritt, der ja die Natur überwinden, besiegen und beherrschen wollte, offensichtlich eben gerade in dieser Natur einem völlig andersartigen geistigen System begegnet, das nun allen technischen und wirtschaftlichen Berechnungen zuwider läuft, ihnen die Stirn bietet, sie grundsätzlich in Frage stellt und ihnen überlegen ist.

Die Besonderheit des geistigen Systems der Natur besteht gerade darin, daß es das Wachstum der einzelnen Lebewesen durch die allseitige gegenseitige Ergänzung aller Organismen überwindet, und sich auf diesem Wege zu einem hoch komplexen System entwickelt, in dem jedem Organismus und jedem Element gleiche Bedeutung zukommt: Der Regenwurm ist ebenso wichtig wie der Elefant, das Gras genauso wichtig wie die Vögel, und das Wasser ist so wichtig wie die Erde. Durch diese Merkmale der sozialen Gleichheit und der Überwindung des Wachstums durch allseitige Ergänzung erwirbt die Natur die Fähigkeit, allen Lebewesen gerecht zu werden, sich stets zu erneuern und unsterblich zu bleiben.

Im modernen techno-ökonomischen System der Menschheit ist stetiges Wachstum von Wettbewerb, Produktion und Gewinn das oberste Ziel. Allseitige Ergänzung wird auf diesem Wege ausgeschaltet und unmöglich gemacht. Es gibt nur noch Gewinner und Verlierer. Der Arbeitsmarkt und der Verkauf von Gütern schafft nur eine scheinbare soziale Ergänzung; denn es wird nicht produziert, was zum Leben notwendig ist, sondern was sich verkaufen läßt. Sowohl die arbeitenden Menschen als auch der Handel dienen letztlich nicht dem Wohle aller, sondern begünstigen nur die wachsende Bereicherung und Macht der Reichen und den Nebeneffekt, die Natur zu zerstören, von und mit der wir leben. Die weltweite soziale Ungleichheit zwischen arm und reich ist geradezu das auffallendste Merkmal unserer menschlichen Gesellschaft, die in dem Maße ihrem eigenen Untergang zusteuert, wie sie auf ihren tödlichen Prinzipien weiterhin unbeirrt beharrt. Die Menschheit wird heute mit der schwer erträglichen Tatsache konfrontiert, daß das biologische, ökonomische und soziale System der Natur offensichtlich weitaus genialer ist als das menschliche System der modernen Zivilisation. In der Evolution des Lebens herrscht auch, wie wir heute wissen, keineswegs primär und ausschließlich ein „Kampf ums Dasein“, den Charles Darwin (1809-1882) noch als Antriebsenergie in der Entwicklung der Natur angenommen hat und den sich die moderne Zivilisation offenbar zu ihrem Leitmotiv erwählt hat. Joachim Bauer, Professor für Medizin und Psychiatrie in Freiburg, hat dargelegt, daß der Mensch aufgrund seiner genetischen, neurobiologischen und psychischen Konstitution von Natur aus auf Kooperation angelegt ist und eben gerade nicht auf einen „Kampf ums Dasein“.

Durch die Einsichten in die globalen Reaktionen der Natur auf den ehrgeizigen menschlichen Plan unbegrenzten materiellen Fortschrittes ist dieses gesamte Projekt nun innerhalb weniger Jahrzehnte fragwürdig geworden. Wie schwer seinen wirtschaftlichen und politischen Betreibern die Konfrontation mit dieser Tatsache fällt, zeigt die Zähigkeit der Verhandlungen etwa im Prozeß der Weltklima-Konferenzen oder der Hilfe für die armen Länder der Erde. Man kann heute schon sagen: Der ehrgeizige Traum vom endlosen materiellen Fortschritt ist ausgeträumt. Er ist bereits gescheitert durch die globalen Probleme, die er ausgelöst hat: Die noch immer zunehmende Gefährdung des Friedens, die immer schärfere soziale Spaltung der Menschheit in arm und reich und die massive Störung des globalen ökologischen Gleichgewichtes.

Bei uns im Abendland war der christliche Theologe und Tropenarzt Albert Schweitzer (1875-1965) im vergangenen Jahrhundert wohl die durch ihre Glaubwürdigkeit prominenteste Persönlichkeit, welche die umfassende geistige, moralische und existentielle Gefährdung der Menschheit am deutlichsten wahrgenommen und zur Sprache gebracht hat. Für ihn fand diese Gefährdung ihren mächtigsten Ausdruck im militärischen Einsatz der Atomenergie. Albert Schweitzer nahm öffentlich Stellung gegen die Anwendung der Atombombe und gegen die Kernwaffenversuche Den einzig möglichen Ausweg aus der Gefahr sieht er in der Praxis der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Auch wenn ihm die Erkenntnisse über die ökologische Struktur allen Lebens damals noch nicht zugänglich waren, so hat er doch die ganze Spannung der beiden extremen geistigen Pole des 20. Jahrhunderts wahrgenommen und in sich ausgetragen: Auf der einen Seite die reale technische Möglichkeit der Vernichtung allen Lebens auf dieser Erde und auf der anderen Seite der einzig mögliche Ausweg aus dieser Gefahr durch das geistig-ethische Prinzip der Anteilnahme, der Einfühlung in anderes Leben, das Prinzip der Solidarität, der allseitigen Ergänzung und Mitverantwortung und der tätigen Hilfe aus praktizierter Ehrfurcht gegenüber allem Leben: „Die unmittelbarste und umfassendste Tatsache des Bewußtseins lautet: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. ... Ethik besteht also darin, daß ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. ... Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.“ „In der Hauptsache gebietet die Ehrfurcht vor dem Leben dasselbe wie der ethische Grundsatz der Liebe. Nur trägt die Ehrfurcht vor dem Leben die Begründung des Gebotes der Liebe in sich und verlangt Mitleid mit aller Kreatur.“ „Dem wahrhaft ethischen Menschen ist alles Leben heilig. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe, sie ist die als denknotwendig erkannte Ethik Jesu.“

In der „Ehrfurcht vor dem Leben“ aktualisiert Albert Schweitzer den zentralen Inhalt christlicher Spiritualität, die Gottes- und Nächstenliebe, für unsere Zeit. Diese beiden christlichen Gebote waren zwar bereits in den Zehn Geboten des Mose enthalten, wurden aber von Jesus als die beiden höchsten und wichtigsten Gebote in die Mitte menschlichen Lebens gestellt. So wie die christliche Spiritualität die beiden Pole der Mystik und Ethik, der Hingabe an Gott und der tätigen Liebe zum Mitmenschen enthält, so auch die „Ehrfurcht vor dem Leben“. Albert Schweitzer sieht allerdings die Nächstenliebe nicht auf den Menschen beschränkt, sondern weitet sie aus auf alle Geschöpfe dieser Erde, auch auf die Tiere und Pflanzen, mit denen wir Menschen eine große Lebensgemeinschaft bilden. Albert Schweitzer ist zutiefst davon überzeugt, daß eine neue globale Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit nur auf dieser geistigen Grundlage der Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ verwirklicht werden kann.

Ein nüchterner Blick auf den humanen, sozialen und ökologischen Notstand unserer modernen Zivilisation und auf die politischen Spannungen und Krisen in der Welt läßt begründete Zweifel aufkommen, ob sich der ethische Anspruch der „Ehrfurcht vor dem Leben“ innerhalb der gegebenen Lebensverhältnisse verwirklichen läßt. Außerdem ist die Möglichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit bis heute noch nicht aus der Welt geschafft. Wir müssen uns deshalb heute eine entscheidende Frage stellen, – und wenn ich „wir“ sage, so meine ich damit keine anonyme Instanz wie Ökonomie, Politik oder Gesellschaft, sondern ich meine Menschen wie du und ich. Die Frage lautet: Auf welchem Weg können wir die religiöse Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ zum praktischen Anfang einer neuen menschlichen Kultur werden lassen, die künftig allem Leben dieser Erde eine Heimat bieten kann?

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, werfen wir zunächst einen Blick auf die Problematik unserer Zeit, um den geistigen und historischen Standort auszumachen, an dem wir heute stehen. Erst von hier aus läßt sich dann die neue Richtung und schließlich auch der Weg erkennen, den wir künftig einschlagen können, um uns auf dieser Erde einer praktischen Lebensform der „Ehrfurcht vor dem Leben“, des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung schrittweise anzunähern. Die beiden folgenden Abschnitte über die sogenannte „Globalisierung“ und die „Risikogesellschaft“ erheben nicht den Anspruch einer vollständigen Analyse. Sie wollen lediglich einige Fakten in Erinnerung rufen, welche die Tatsache beleuchten, daß die gegenwärtige Entwicklung der Menschheit, die von Vertretern der Wissenschaft, Technologie, Ökonomie und Politik als segensreicher Fortschritt gepriesen wird, in Wirklichkeit hinter ihrer glänzenden Fassade einen rasanten Fortschritt der Not, des Elends, des Zerfalls und der Zerstörung in allen Bereichen des Lebens auf dieser Erde erzeugt.

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