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Kinder müssen spielen

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Weit bevor die Schule beginnt, sollten Kinder die Sprach-, Bewegungs- und Spielstufen ohne verfrühende Überforderung und ohne Vernachlässigung durchleben.

Aber diese Entwicklungsstufen werden immer häufiger durch Unterforderungen oder durch ihr Überspringen verkürzt, sodass Defizite und Ausfälle zu Verhaltensschwierigkeiten oder gar -störungen führen.

Kinder, mit denen zu selten gesprochen und denen nicht intensiv genug zugehört wird, fallen später durch eine verzögerte Sprachentwicklung und am Ende oft als Legastheniker auf. Kinder, die zu selten draußen im dreidimensionalen Raum der wirklichen Welt laufen, spielen, klettern, springen, schaukeln, rutschen, balancieren, rückwärts gehen, bauen, kneten und matschen konnten, können ihre Sinne im Gebrauch häufig nicht entfalten. Infolgedessen ist ihre Wahrnehmung oft eingeschränkt, und das kann wiederum Auswirkungen haben auf die Entwicklung des Vorstellungsvermögens. Kinder, die zu selten im Greifalter mit verschiedenen Materialien, verschiedenen Farben und unterschiedlichen Zahligkeiten und Größen umgehen konnten, neigen zu unkoordinierten Bewegungsabläufen und wirken dann feinmotorisch gestört; sie stoßen immer wieder an Gegenstände, kippen Gläser um und neigen dann häufig mit ihren „linkisch“ anmutenden Misserfolgen zum gänzlichen Vermeiden von Spielen.

Spielen ist für Kinder Ernst, auch wenn es aus der Sicht von Erwachsenen eher zweckfrei ist und bezogen auf die Arbeitsziele von Erwachsenen auch sein sollte. Kinder erproben im Spiel ihre Möglichkeiten und Grenzen, im Spiel entwickeln sie aber vor allem ihre Kräfte, sie erobern quasi spielerisch ein Weltbild, das dann hoffentlich ein stimmiges ist. In einer immer komplexer und auch komplizierter werdenden Welt werden ihre Kräfteentwicklung und ihr Weltbildaufbau allerdings zunehmend schwieriger und zugleich entsteht ein Defizit an Spielen durch einen Bewegungs- und Sprachanbindungsmangel in zu kleinen Wohnungen, die sich fernab von großen dreidimensionalen Spielräumen befinden und in kleiner werdenden Familien – eingefangen durch Begriffe wie Bezugspersonenmangel, Scheidungs-, Schlüssel-, vater- und geschwisterlos aufwachsende Einzelkinder oder „Familie als Auslaufmodell“ –, ergänzt durch ein zunehmendes Leben in zweidimensionalen Bildschirmwelten, die lediglich konsumiert werden. Wer zu wenig und zu selten mit anderen Menschen spielt, wächst benachteiligt auf, sodass sich seine Kräfte und viele Fertigkeiten nicht richtig entwickeln. Zu häufig führt jedoch nicht nur die Vernachlässigung von Kindern zu einem Spiel-Defizit, sondern auch eine Überfürsorge: Eltern, die ihr Kind zu früh in eine ungewisse Zukunft, in Richtung Bildungskarriere mit dem eigentlich gut gemeinten Motto „das Beste ist gerade gut genug für mein Kind“ verplanen, sorgen leider oft dafür, dass die so ungemein wichtigen Spielstufen nicht angemessen ausgelebt, sondern mit Hockey-, Tennis-, Klavier- und Ballettunterricht sowie fremdsprachlicher Frühförderung schlichtweg übersprungen werden.

Kinder, die in überregulierten Haushalten mit einer überdosierten Reinlichkeits- und Ordnungserziehung aufwachsen, werden in ihrer freien Kreativitätsentwicklung schwer beeinträchtigt. Sie entwickeln ihre Begabungen nicht, weil sie eigentlich nie die allzu hohen Erwartungen ihrer Eltern erfüllen können. Ihre Eigenart, vor allem über Irr- und Umwege zu lernen, wird durch eine falsche Fehlerkultur behindert. Sie erleben vor allem Niederlagen, fühlen sich als Versager und schließlich selbst als „falsch“ und neigen deshalb zum Zerstören, zum Auseinandernehmen eines perfekt gestalteten, fertigen Spielzeugs. Kinder in Wohlstandszeiten und überreichlich ausgestatteten, multimedial vernetzten Kinderzimmern wollen vor allem demontieren, während Kinder in Kriegsgebieten und in kaputten Trümmerlandschaften sowie in gestörten Familienverhältnissen, aber auch solche in liberalen bzw. offenen Milieus ohne Über- und Unterforderungen zum Aufbauen, zum Konstruieren und zum kreativen Umgang mit verschiedenen Materialien, Farben, Zahligkeiten und Größen tendieren.

Es gibt Kinder, die nur allein spielen können, und Kinder, die nur mit anderen spielen können, so wie es Kinder gibt, die gar nicht spielen können, und solche, die in jedweder sozialen Konstellation zu spielen vermögen. Es gibt Mädchen, die zu bloß kommunikativen und sozialen Spielen neigen (mit Puppen, Kuscheltieren oder Haustieren sprechen, mit Krämerläden Kaufen und Verkaufen spielen, sich verkleiden, schminken und Modenschauen nachstellen), und Jungen, die bloß technisch oder konstruktiv, aber meist allein spielen (zum Beispiel mit Autos).

Es ist ganz normal, wenn verschiedene Kinder ganz unterschiedlich spielen, denn Spiel hat etwas mit der Individualität des Kindes, also mit der Eigentümlichkeit seiner Persönlichkeit, zu tun. Wichtig ist aber in jedem Fall, dass Kinder auch Resonanz für ihr Spielen benötigen, und zwar durch andere Kinder oder durch ihre erwachsenen Bezugspersonen. Und je komplexer die Herausforderung durch ihr Spiel ist, je umfangreicher der zeitliche Aufwand auf dem Weg zum Werkziel ist, desto aufwendiger muss auch die Resonanz ausfallen, damit das Kind sich nicht lästig, geringwertig oder missachtet fühlt. Das ist die Gefahr beim Spielen, zugleich aber auch die Gelegenheit für Eltern, zumal für Väter, ihrem Kind die unabdingbare Portion an Zuwendung zu geben, die es nicht unbedingt an einem einzigen Tag, aber auf jeden Fall mindestens im Rahmen einer ganzen Woche benötigt.

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