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1 ZWEI MÄNNER UND DREI
MÄDCHEN IN EINEM BOOT

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Und es war wirklich ein wenig ärgerlich … daß sie zwar im Vorübergleiten

sehr viele schöne Binsen einheimsen konnte, aber immer stand eine noch

schönere dort, wo sie sie nicht mehr zu fassen bekam.1

Es gab vieles, was den facettenreichen Charles Dodgson amüsierte, und was sicher dazugehört hätte, ist die Art, wie die Welt sein verschlungenes, zum Obsessiven tendierendes und seine Gestalt ständig änderndes Universum in eine schlichte Geschichte zu verwandeln trachtete.

Wo könnte man mit diesem Prozess besser beginnen als bei dem berühmtesten Bootsausflug in der Erzählkunst – oder dem berühmtesten fiktionalen Bootsausflug. Wir schreiben Freitag, den 4. Juli 1862. Schauplatz ist die Themse nahe Oxford (deren dortiger Teil auch als „Isis“ bekannt ist, eine fälschliche Ableitung von „Tamesis“). Zwei junge Kirchenmänner, Charles Dodgson (29) vom Christ-Church-College (bekannt als „The House“), der beim Rudern den Platz im Bug einnimmt, und sein Freund Robinson Duckworth (27) vom Trinity College, der den im Heck einnimmt, machen mit dreien der Töchter des Dekans von Christ Church – Lorina (13), Alice (10) und Edith (8) – einen Bootsausflug. Daran ist nichts Ungewöhnliches: Tatsächlich ist es eine Art Mode – und taktisch vermutlich nicht unklug – unter jungen Dozenten, die Töchter ihrer älteren Kollegen zu solchen Ausflügen mitzunehmen. Vielleicht weil die Szenerie auf dem Weg flussaufwärts nach Osney eher langweilig ist, bitten die jungen Damen um eine Geschichte – oder deren Fortsetzung, denn dies ist nicht die erste derartige Expedition. Charles, der als Teenager Erzählungen für Familienzeitschriften geschrieben (darunter eine Satire auf die angelsächsische Dichtung mit dem Titel „Jabberwocky“) und humorvolle Verse zur Comic Times beigesteuert hatte, willigt ein.


„Wie üblich“, erinnerte sich Alice im Alter, „wurden wir drei Kinder, nachdem wir unser Boot mit der größten Sorgfalt ausgewählt hatten, im Heck verstaut, und Mr. Dodgson nahm den Platz des Schlagmanns ein.“ John und Stephen Salters Bootsanleger, Folly Bridge, Oxford (ca. 1870), wo der berühmte Ausflug vermutlich seinen Ausgang nahm.

Viele Jahre später – und man sollte nicht vergessen, dass es tatsächlich viele Jahre später war, nämlich 1899 – erinnerte sich Duckworth an den Ausflug:

… tatsächlich wurde die Geschichte über meine Schulter hinweg komponiert und gesprochen für Alice Liddell, die als „Steuermann“ unseres Boots agierte. Ich kann mich erinnern, wie ich mich umdrehte und sagte, „Dodgson, ist das eine Stegreifgeschichte von dir?“ Und er gab zurück, „Ja, ich erfinde sie, während wir fahren.“2


Alice’ Vater, Henry George Liddell (1811–1898), der respekteinflößende Dekan von Christ Church, war gar kein schlechter Künstler und hatte eine Gabe für Stegreifskizzen. Diejenigen, die er zwischen 1855 und 1891 mit seinem goldenen Füllfederhalter während der College-Sitzungen auf dem offiziellen rosa Löschpapier hervorbrachte, wurden sofort zu Sammelobjekten.

(Auch Duckworth war sich im Übrigen nicht zu schade, etwas zu der Erzählung beizusteuern, von ihm stammt offenbar die Idee mit der Falschen Suppenschildkröte.) Alice Liddell selbst, die 1934 verstarb, entsann sich – und das Verb ist nur zu angebracht – im Alter „des strahlenden Sommernachmittags“, und Dodgson begann die publizierte Fassung, Alice’s Adventures in Wonderland, mit einem passend idyllischen Vers:

Gemach im goldenen Nachmittag

Gleiten wir leis dahin …

Und natürlich endete die Geschichte, wie wir gesehen haben, nicht hier: Als sie nach Hause kamen, schrieb Dodgson die Geschichte als Alice’s Adventures Under Ground nieder, fügte seine eigenen Illustrationen hinzu und überreichte das Werk Alice.

Das ergibt eine gute Geschichte, und das sollte es auch, denn der Großteil davon ist eine Geschichte: Nicht, dass es etwa eine bewusste Erfindung gewesen wäre, aber es war nur menschlich, wenn Duckworth und die bereits betagte Alice den Glauben an den Mythos vom Anfang von etwas teilten, was binnen 40 Jahren ein Bestseller und binnen 70 Jahren eine Institution geworden war.

Es ist eine derart charmante Geschichte, dass die Stadt Oxford noch immer jedes Jahr den sogenannten „Alice’s Day“ begeht und „Lewis Carroll“ als einen ihrer berühmtesten Söhne angenommen hat – trotz der Tatsache, dass er aufgrund der Kürze des akademischen Jahrs in Oxford viel (wenn nicht den Großteil) seiner Zeit anderswo verbrachte. Sie ist so charmant, so angemessen für die Geburt eines Kinderbuchs (gibt es doch den Mythos, dass die besten – Pu der Bär, Die Schatzinsel, Der Wind in den Weiden, Der kleine Hobbit – mit Geschichten für ein ganz bestimmtes Kind begannen), dass es nicht wirklich wichtig ist, wenn das Wetter an jenem Tag, weit von einem goldenen Nachmittag entfernt, „nasskalt“ war. Ebenso ist es belanglos, dass es sich bei Wunderland mit ziemlicher Sicherheit um ein Konglomerat von Geschichten handelt, die anlässlich mehrerer Flussexkursionen erzählt wurden, bei mehreren sonnigen oder regnerischen Picknicks. Tatsächlich hat Dodgson dies selbst zugegeben, etwa 20 Jahre später, als aus dieser „Flussgeschichte“ ein höchst erfolgreiches Buch geworden war und aus dem Buch ein etwas weniger erfolgreiches Theaterstück. In einem Artikel in The Theatre (April 1887) sinnt er darüber nach, wie es dazu kam:

So manchen Tag waren wir zusammen auf diesem stillen Strom gerudert – die drei kleinen Damen und ich – und so manches Märchen war für sie aus dem Stegreif erfunden worden … doch bei keiner dieser vielen Erzählungen kam es dazu, dass sie aufgeschrieben wurde: Sie lebten und starben, wie sommerliche Eintagsfliegen, jede an ihrem eigenen goldenen Nachmittag, bis der Tag kam, an dem, wie es der Zufall wollte, eine meiner kleinen Zuhörerinnen darum bat, die Erzählung möge für sie niedergeschrieben werden.3

Aber was für einen Mythos zählt, ist, dass es eine einzige, an einem sonnigen Tag erzählte Geschichte hätte sein sollen – und so hat der Mythos die Realität überflügelt und ist unsterblich geworden.

Die Welt von Alice: das Tor in der Mauer des Dekanatsgartens, geöffnet hin zur Christ Church, der Kathedrale von Oxford.



Der Broad Walk, Christ Church, hier in einer Ansicht aus dem Jahr 1857, umfasste einst drei Ulmen, die Alice und ihre Schwestern 1863 im Beisein von Charles Dodgson zum Gedenken an die Hochzeit des Prinzen und der Prinzessin von Wales gepflanzt hatten.

Sechs Monate später, am 10. Februar 1863, kam Dodgson, ein penibler, ja geradezu besessener Tagebuchschreiber, auf seinen Eintrag vom 4. Juli zurück und fügte die Geschichte vom Erzählen der Geschichte hinzu. Vielleicht teilte er Kenneth Grahames Ansicht, „hauptsächlich aus den Worten wenn und hätten“ bestehende Geschichten seien „immer die besten … Man kann sie erleben, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen. Sie sind unsere ureigensten Abenteuer, und niemand kann sie uns stehlen.“4 Aber vor allem wusste Dodgson, der ein ebenso großes Geschick für die Vermarktung seiner Geschichten hatte wie für die meisten anderen Dinge, wie er die sentimentalen Empfindsamkeiten seiner viktorianischen Zeitgenossen nutzen konnte, und eine Geschichte, die an einem verträumten Nachmittag im Herzen Englands an unschuldige Zuhörerinnen gerichtet war, war im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert. Dodgson behauptete, vielleicht unaufrichtigerweise, dass er nichts dazu könne: Aber wenn die Originalgeschichte kein Geschenk der Flussgötter war, woher kam sie dann? Unsere Suche nach dem Ursprung mancher dieser Fetzen mag ebenso gut mit jenem idyllischen Bootsausflug auf der mythologisch überhöhten „Isis“ einsetzen.


Zwischen 1868 und 1901 produzierte die Buchhandlung und Druckerei Thomas Shrimpton and Son, of Broad Street, Oxford, mehr als 1000 fotografische Reproduktionen von Karikaturen, größtenteils von Studierenden und für Studierende in den unteren Studienjahren. Sie halten oft Vorfälle fest, die ansonsten von der Geschichte vergessen wurden: Hier züchtigt Dekan Liddell um ca. 1871 unbotmäßige junge Studenten vor dem Sheldonian Theatre.

Manchmal kam mir nachts eine Idee und ich musste aufstehen und Licht machen, um sie niederzuschreiben – manchmal, wenn ich draußen auf einem einsamen Spaziergang war … aber wann immer und wie immer sie kam, sie kam von selbst. Ich kann das Erfinden nicht in Gang setzen wie eine Uhr, durch ein willentliches Aufziehen. Auch glaube ich kaum, dass irgendein originelles Schreiben (und welches andere Schreiben wäre es wert, dargeboten zu werden) je so entstanden ist … „Alice“ und das „Looking-Glass“ bestehen fast ganz aus Krims und Krams, einzelnen Ideen, die von selbst kamen.5


Dodgson beendete Alice’s Adventures Under Ground mit einem Cameo von Alice, ihrem Gesicht, das in das Manuskript eingeklebt war. Es war aus einer Kopie dieses Fotos ausgeschnitten, aufgenommen im Garten des Dekanats im Juli 1860, als Alice acht Jahre alt war. Erst 1977 wurde entdeckt, dass sich darunter ein handgezeichnetes Porträt von Alice befand.

Dieses Boot war ein Ausreißer aus einer Welt des Wohlstands und der Privilegien: Christ Church, jenes Oxforder College, zu dem auch die gleichnamige Kathedrale der Stadt gehört, sah sich selbst (und vielleicht tut es dies auch heute noch) als ein Elite-College, und dies wiederum innerhalb der besten Universität der Welt. Als sie das Boot vom Anleger Folly Bridge wegsteuerten, befanden sich sowohl Duckworth als auch Dodgson an der Schwelle zu Höherem: Duckworth war im Begriff, Tutor für Prinz Leopold (den jüngsten Sohn von Queen Victoria) zu werden, und Dodgson war dabei, die besten College-Räumlichkeiten von Oxford zu beziehen, die bald von Lord Bute geräumt werden sollten und von denen aus man einen Blick auf den Tom Quad und den Garten des Erzdiakons von Christ Church hatte (Treppe 7, Zimmer 3).

Auch ihre Passagiere waren recht distinguiert. Sie waren die Töchter einer gut vernetzten und mächtigen Persönlichkeit, Dekan Henry Liddell, und seiner energischen Gattin, Lorina. Diese kommen in einem zeitgenössischen Studentenreim vor, der etwas skurril ist, es aber trotzdem auf den Punkt bringt:

Ich, der Dekan, sie Mrs. Liddell.

Sie spielt die erste, ich die zweite Fiedel.

Sie ist die Broad,

Ich bin die High –

Die Universität, das sind wir, ja wir.

[Broad Street und High Street sind die wichtigsten Straßen von Oxford.]

Die älteste Tochter war Lorina Charlotte oder Ina; die jüngste und manchen – etwa John Ruskin – zufolge hübscheste, war Edith. Wer uns aber am meisten beschäftigt, ist Alice Pleasance, das vierte Kind und die zweite Tochter unter zehn Kindern. Und das erste, was es über die „echte“ Alice zu sagen gibt, ist, dass sie im wirklichen Leben keineswegs dem ähnlich sah, wie sie auf fast allen Bildern von ihr in Büchern oder Filmen dargestellt wurde.

Auch wenn die „Alice“-Bücher im Laufe der Zeit von gut über 100 Künstlerinnen und Künstlern illustriert wurden, beruht das innere Bild, das viele Leserinnen und Leser von den Charakteren haben, auf dem Werk von John Tenniel – Dodgson selbst beschreibt sie selten. Und so vergisst man leicht, dass das Bild von Alice in Wunderland und Hinter den Spiegeln nicht Alice Liddell entspricht, sondern Tenniels allgemeiner Vorstellung eines modischen präraffaelitischen Mädchentyps (vielleicht einer gewissen Mary Hilton Babcock, obwohl Tenniel behauptete, keine Modelle zu verwenden). Selbst Dodgsons eigene Illustrationen in Alice’s Adventures Under Ground zeigen Alice mit langem blondem Haar und nicht mit den kurzen dunklen Haaren des realen Mädchens.


Eine spöttische Illustration aus Cuthbert Bedes Photographic Pleasures (1855). Dodgson, einem herausragenden Amateurfotografen, war es mehr darum zu tun, Berühmtheiten zu fotografieren, von Prinz Leopold bis zu den Rossettis, George MacDonald, Bischof Samuel Wilberforce und vielen anderen mehr. Bede ist am bekanntesten für sein witziges Porträt des Studentenlebens in Oxford – The Adventures of Mr. Verdant Green (1853–57).

Und auch mit dem Alter der Figur in den Büchern stimmen die meisten Bilder von Alice nicht überein: Sowohl Under Ground als auch Wunderland spielen sich an Alice Liddells siebtem Geburtstag ab, dem 4. Mai 1859. Wir wissen das, weil Hinter den Spiegeln genau sechs Monate später angesiedelt ist, am Tag vor der Guy Fawkes Night, dem 4. November. Alice sieht von ihrem Fenster aus „die Buben Holz für das Neujahrsfeuer zusammentragen … Aber dann ist es so kalt geworden und es hat so geschneit, daß sie aufhören mussten. Na, das Feuer werden wir uns morgen trotzdem ansehen.“6 Alice bestätigt ihr Alter gegenüber Goggelmoggel (engl.: Humpty Dumpty), was in einem charakteristisch bissigen Wortwechsel resultiert:

„Siebeneinhalb Jahre!“ wiederholte Goggelmoggel nachdenklich. „Ein unge­

schicktes Alter. Also wenn du mich gefragt hättest, so hätte ich dir geraten:

Hör auf mit sieben. Jetzt ist es natürlich zu spät.“

„Beim Wachsen lasse ich mir von niemandem raten“, sagte Alice ungehalten …

„Ich meine … es bleibt einem doch gar nichts anderes übrig, als zu wachsen.“

„Einem vielleicht nicht“, sagte Goggelmoggel, „aber zweien schon. Mit dem

rechten Beistand hättest du mit sieben ohne weiteres aufhören können.“7

Die Schauspielerinnen, die Alice in Film- und Fernsehadaptionen altersmäßig noch am nächsten kamen, waren Natalie Gregory in Harry Harris’ Fernsehproduktion aus dem Jahr 1985 (sie war bei den Dreharbeiten neun) und Kathryn Beaumont, die 1951 im Alter von zehn Jahren in der Disney-Version Alice ihre Stimme lieh. Typischer waren Charlotte Henry in Norman McLeods mit großem Staraufgebot daherkommendem Paramount-Film von 1933 (19), Fiona Fullerton in William Sterlings Version von 1972 (15) und Anne-Marie Mallik (13) in Jonathan Millers umstrittener Fernsehadaption von 1966. Zuletzt hat Mia Wasikowska Alice in Tim Burtons Alice in Wonderland (2010) mit 21 Jahren gespielt und in der Fortsetzung Alice Through the Looking-Glass (James Bobin, 2016) mit 27. Nur in Dennis Potters Dreamchild (Gavin Millar, 1985) sieht die Schauspielerin (die zwölfjährige Amelia Shankley) tatsächlich Alice Liddell ähnlich. Jedoch handelt es sich nicht notwendigerweise um Fehldarstellungen, denn obwohl die Bücher mehr oder minder für die „echte“ Alice geschrieben waren, war Alice Liddell nicht die einzige „kindliche Freundin“ in Dodgsons Leben – und nicht einmal die einzige namens Alice. Wie bei fast allen Aspekten dieser Bücher haben wir es hier mit etwas Vielschichtigem zu tun.

Der Mann, der im Bug rudert, ist nicht weniger undurchschaubar. Charles Dodgson, Sohn eines Vikars aus Cheshire (selbst ein Christ-Church-Absolvent), gehörte bereits seit elf Jahren „The House“ an: Er war Mathematiker und kein besonders guter Lehrer – zumindest war er nicht gut darin, mit ungebärdigen Erstsemestern umzugehen. Er war unlängst der Anweisung des Dekans nachgekommen, die Residenzpflichten von Christ Church zu erfüllen, hat aber wenig Predigten gehalten. Was ihn vielleicht eher langweilig klingen und die Tatsache, dass er die „Alice“-Bücher hervorbrachte, umso bemerkenswerter erscheinen lässt.

Aber wie mit den meisten Dingen bei Dodgson konnte der Schein trügerisch sein. Er war ein sehr beschäftigter Mann. Ein Pionier der Fotografie, hatte er 1856 seine erste Kamera erstanden und bis zum Jahr 1862 hatte er Aufnahmen nicht nur seiner Oxforder Freunde, sondern auch von dem 1850 zum Poet Laureate ernannten Alfred Lord Tennyson gemacht; bis zum Jahr 1865 kamen der Illustrator Arthur Hughes, der Schriftsteller George MacDonald und seine Kinder, der Maler John Everett Millais und seine Frau Effie (der wir wiederbegegnen werden), die Rossettis, der Herausgeber von Punch, Tom Taylor, und die Schauspielerin Ellen Terry zu seinem Portfolio hinzu. Dodgson war auch ein eifriger Theaterbesucher (obwohl die hohe Geistlichkeit der anglikanischen Kirche über derartige Dinge die Nase rümpfte) und verbrachte viel Zeit in London, so viel, dass er regelmäßig in bestimmten Hotels weilte – in den 1860er-Jahren erst im Old Hummums Hotel in Covent Garden und 1865 dann im Trafalgar Hotel in Spring Gardens.


„Ein gutes altmodisches Pfarrhaus, innen so unansehnlich wie außen.“ So beschrieb Dodgsons Vater das Familienheim in Croft-on-Tees von 1843 bis 1868. Hier schrieb der junge Charles Familienzeitschriften zur Unterhaltung seiner sieben Schwestern und drei Brüder.

Auch war Oxford nicht das einzige Zentrum seiner Aktivitäten. Er war der älteste Sohn und das dritte von elf Kindern und blieb seinen Geschwistern eng verbunden (vor allem, nachdem sein Vater 1868 starb) – zwei seiner Brüder waren ebenfalls in Oxford. Die langen Ferien verbrachte er mit seinen Schwestern in Croft-on-Tees (später in Guildford) und mit seinen Cousinen in Sunderland, außerdem mietete er sich im Sommer regelmäßig über mehrere Wochen in Whitby (und später Eastbourne) ein.


Eine weitere Fotografie aus dem Garten des Dekanats im Juni 1857. In diesem Jahr fotografierte Dodgson seine ersten großen Berühmtheiten, die Familie Tennyson, und publizierte ein komisches Gedicht, „Hiawatha’s Photographing“, in der Zeitschrift The Train.


Brücke über die Themse bei Godstow, nahe Oxford, 1835. Gemälde von Edward William Cooke (1811–1880).

Wenn er sich jedoch tatsächlich in Christ Church aufhielt, so befand er sich damit in einem der wichtigsten Zentren für kulturelle Debatten (und kleinliche Streitereien) des ganzen Landes – vor allem die Gefechte über die Evolutionstheorie von Charles Darwin und die der verschiedenen Gruppierungen der Kirche von England. Als Experte für Logik, bei dem sich ein konventionell frommer Hintergrund mit einem erfinderischen und fantasievollen Geist vereinte, war Dodgson nicht der Mann, der die kleinen und großen Dispute ignoriert hätte, die um ihn herum ausgetragen wurden. Wie jeder Individualist konnte er ein Querkopf sein und hatte bis zum Jahr 1862 bereits Fehden angefangen, die ein Leben lang andauerten.

Er konnte auch leicht obsessiv sein – 1853 hatte er sein Tagebuch begonnen (er brachte es schließlich auf 13 Bände) und im Jahr 1861 sein „Verzeichnis versandter und erhaltener Briefe“ (es umfasste schließlich 98 721 Einträge) – und auf dem Höhepunkt seiner Korrespondenzbemühungen schrieb er mehr als 2000 Briefe jährlich. Er hatte perfektionistische Züge, die seinen Illustratoren und Verlegern ebenso wie seinen Kollegen in Christ Church einige Qualen bereiten sollten. Auch hatte er angefangen, eine persönliche Bibliothek aufzubauen, die schließlich auf etwa 4200 Bände (2500 Titel) anwachsen sollte.8 Sie zeigt eine erstaunliche Bandbreite an Interessen – auch wenn dies vielleicht typisch war für einen gebildeten Viktorianer: Da sind die Naturwissenschaften (pro und contra Darwin), Homöopathie, Zauberei, Astrologie, der Koran, Bücher über Buddhismus, Frauenrechte, Prostitution, Theater, Zirkus und Politik (v. a. die „Irische Frage“). Und er hatte bereits The Fifth Book of Euclid Treated Algebraically (1858) und A Syllabus of Plane Algebraic Geometry (1860) publiziert.

Aber im Jahr 1862, auf dem Fluss, in diesem mythischen Augenblick, war er lediglich ein etwas exzentrischer, amüsanter junger Mann, der seine Freude daran hatte, ein Boot voller bewundernder Mädchen mit Geschichten zu unterhalten, die „von selbst kamen“. Und doch existieren Geschichten und Bücher – und Kinderbücher vielleicht sogar ganz besonders – nicht in einer idyllischen Welt für sich: Die Zwänge des Genres und die Erinnerung lebenslanger Lektüre verbinden sich, und so ist es nicht verwunderlich, dass sich die über Duckworths Schulter hinweg erzählte Geschichte nicht so ganz als die flüchtige Eintagsfliege entpuppte, als die sie Dodgson beschrieb.

Die Erfindung von Alice im Wunderland

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